"Unser System ist für viele junge Flüchtlinge unverständlich"

Erstveröffentlicht: 
27.07.2016

Etwa 50.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben derzeit in Deutschland. 34 von ihnen betreut die "Natürliches Erleben UG" in Dresden. Seit dem Anschlag von Würzburg werde den Jugendlichen misstraut, sagt Kerstin Csizmadia, stellvertretende Chefin des Unternehmens. Im Gespräch mit MDR SACHSEN spricht sie über Traumata, enttäuschte Vorstellungen und darüber, was mit den Jugendlichen geschieht, die gegen Regeln verstoßen.

 

Frau Csizmadia, wie fühlen sich die Jugendlichen seit der Attacke von Würzburg?


Sie sind verärgert und traurig. Die Jungs wissen, auf sie wird nun besonders geschaut. Und sie fürchten, dass die Leute denken, jeder von ihnen würde etwas Böses im Schilde führen. Andererseits hat mich die Art und Weise des Attentats nicht wirklich überrascht.

 

Wieso nicht?


Viele der Jungs aus Afghanistan lebten jahrelang mit den Schrecken der Taliban. Das Martialische ist vielen bekannt. Manche haben erlebt, wie ihre älteren Brüder entführt und geköpft wurden. Ein Großteil der minderjährigen Flüchtlinge ist traumatisiert, das kommt bloß nicht unmittelbar zum Vorschein.

 

Was tun Sie, damit Sie die Jugendlichen und ihre Probleme besser einschätzen können?


Es braucht vor allem geschultes Personal. Und das ist nicht immer leicht: Mit dem Jugendamt hatten wir einen großen Kampf auszufechten, weil wir in unseren Einrichtungen zusätzliche Psychologen und Therapeuten einsetzen wollten. Das Jugendamt hielt das zuerst nicht für nötig.

 

Meist öffnen sich die Jugendlichen erst nach etwa einem halben Jahr. Dann erzählen sie uns Geschichten von ihren Familien und dem Weg, den sie gegangen sind, um hierher zu kommen. Da stecken schlimme Erfahrungen dahinter. Das herauszubekommen, gelingt mit Sozialpädagogen, Psychologen, Erziehern. Und mit Muttersprachlern, die bei der Betreuung helfen und im besten Fall den gleichen Weg hinter sich haben wie die Jugendlichen. Einer unserer Mitarbeiter stammt aus Afghanistan, er kam vor Jahren selbst als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling auf der Route über das Mittelmeer nach Deutschland. Er weiß, wie es abläuft, in Deutschland anzukommen, was man erwartet als Flüchtling. Solche Erfahrungen helfen bei unserer Arbeit.

 

Wie kommen die Flüchtlinge in der Jugendhilfe zurecht?


Für viele ist es anfangs ein Problem. Die Jugendlichen brechen von Zuhause auf, mit der Vorstellung, in ein goldenes Land zu kommen, wo jeder seine eigene Wohnung hat, ein Fahrrad und Geld. So kommt jeder hierher, wir staunen schon nicht mehr darüber. Das rührt auch daher, dass andere Flüchtlinge, die es nach Deutschland geschafft haben, in die Heimat melden: 'Uns geht es hier super.' Sie haben Vorstellungen, die man nicht nachvollziehen kann.

 

Welche Vorstellungen werden enttäuscht?


Oft haben die Jugendlichen in der Heimat die Versorgung der Familie sichergestellt. Sie arbeiteten in Tischlereien, als Kfz-Schlosser, haben Autos zusammengebaut. Hier dürfen sie als 16-Jährige nicht einmal den Führerschein machen. Das ist für sie unerklärlich. Sie dürfen keine grundlegenden Entscheidungen treffen, bekommen einen Amtsvormund, der für sie regelt, wo sie leben und welche Schule sie besuchen.

 

Hinzu kommt, dass die Jugendlichen Geld verdienen wollen, um es nach Hause zu schicken. Das Problem ist: Die Jungs dürfen nicht arbeiten, sie müssen in die Schule. Unser System ist für viele von ihnen unverständlich. Schon damit haben wir viel zu tun: Die Jugendlichen in unsere Gesellschaft einzuführen, ihnen zu zeigen, was für Grenzen und Beschränkungen es hier gibt.

 

Können solche Enttäuschungen in Eskalation gipfeln?


Das denke ich nicht. Die Flüchtlinge äußern die Enttäuschung den Betreuern gegenüber, die kennen das. Geht es aber um Radikalisierung, stecken andere Dinge dahinter wie psychologische Probleme. Auch damit beschäftigen wir uns. Man kann nicht von der Hand weisen, dass bei dem einen oder anderen Potenzial da ist, sich zu radikalisieren. Um das zu beobachten, wollen wir etwa wissen, ob und in welche Moschee sie gehen. Am Anfang gehen sie ganz oft in die Moschee, jeden Freitag. Irgendwann aber lässt es bei den meisten nach.

 

Woran liegt das?


Die Moschee ist ein Haltepunkt. Die Jugendlichen kennen das, sie fühlen sich dort zuhause. Alles andere ist fremd und neu. Je nachdem, wie gut sie in den Einrichtungen und Pflegefamilien ankommen, gehen sie mit der Zeit weniger dorthin. Wir pflegen die Kontakte zu den Imamen, telefonieren mit den Eltern in Syrien und Afghanistan. Wichtig ist, dass wir den Jungs eine Perspektive aufzeigen: Jetzt kommt erst einmal die Schule, dann eine Ausbildung, später eine eigene Wohnung.  

 

Zwei Jugendliche mussten Ihre Einrichtung vor ein paar Wochen verlassen. Wieso?


Die beiden hielten sich in keiner Weise an die Regeln in der Einrichtung, sind nicht in die Schule gegangen, waren der Meinung, sie brauchen das alles nicht. Wenn wir sie in die Schule brachten, sind sie zum Hintereingang wieder raus. Ihr Standpunkt war: 'Ihr könnt uns sowieso nichts.' Bei uns wird nicht geraucht, kein Alkohol getrunken, um 22 Uhr schließt die Küche. Wer sich darüber immer wieder hinwegsetzt, muss mit den Konsequenzen leben. Und die stimmen wir mit dem Jugendamt ab. Die beiden Jugendlichen brachten wir zurück zum Kinder- und Jugendnotdienst.

 

Sind das nicht genau die Jugendlichen, um die man sich sorgen muss?


Nicht unbedingt. Man muss aber genau hinschauen. Wir haben Jugendliche mit psychischen Problemen, die kriegen wir zum Beispiel früh nicht aus dem Bett. Es ist wichtig, Psychologen und Therapeuten zu haben, die herausfinden sollen, woran das liegen könnte. Wollen sie bloß nicht? Oder hat es vielleicht damit zu tun, dass sie eine posttraumatische Belastungsstörung haben? Wir telefonieren mit den Eltern, lassen uns die Geschichte erzählen. Wenn sich herausstellt, sie haben eine echte Erkrankung, würden wir sie nicht aus der Einrichtung verweisen. Dann werden die Jugendlichen behandelt und bekommen eine individuelle Betreuung durch unsere Fachkräfte. Die Schwierigkeit liegt darin, dass es eine lange Zeit in Anspruch nimmt, bis viele Professionen gemeinsam zu einer Diagnose kommen.

 

Was geschieht nun mit den zwei Jugendlichen, die gehen mussten?


Für sie beginnt das Verfahren von vorne, mit deutschen Jugendlichen würde das genauso geschehen. Das Jugendamt überlegt nun, welche Einrichtung sich für sie eignet. Eine mögliche Abschiebung hat damit nichts zu tun, das sind zwei verschiedene Dinge. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden bis zur Volljährigkeit in keinem Fall abgeschoben.