„Auf einmal wurde Dresden zum Brennpunkt der Geschichte“

Erstveröffentlicht: 
24.06.2016

„Auf einmal wurde Dresden zum Brennpunkt der Geschichte“ Staatsschauspiel-Intendant Wilfried Schulz verlässt Dresden. Ein Gespräch über Ost-Vergangenheit, Idealismus und Pegida.

 

Eine Ära ist zu Ende. Seit 2009 war Wilfried Schulz Chef am Dresdner Staatsschauspiel. Nun zieht der Intendant weiter nach Düsseldorf.

 

Herr Schulz, sind Sie ein Idealist?

Ich glaube jedenfalls an das Gute im Menschen. Theater hat viel damit zu tun, dass man sich in der Welt orientieren kann, Welt begreifen kann, Welt fassbar macht. Dass man sich und den Menschen das Gefühl gibt, wir lenken die Verhältnisse und nicht die Verhältnisse uns – das ist im Kern idealistisch, ja.

 

Im Nachhinein klingt es idealistisch, was Sie im Vorwort zu Ihrer ersten Dresdner Spielzeit 2009/2010 schrieben: „Dresden ist eine offene, tolerante und einladende Stadt in der Mitte Europas“.

Es ist schön, dass Sie diesen Satz zitieren, denn ich habe damals lange darüber nachgedacht. Es war eine Beschwörung. Ich habe ihn oft mit dem Zusatz zitiert: „Und das sage ich so lange, bis es eingetroffen ist.“ Theater ist Vertreibung von Geistern, Herbeisehnen von Zuständen. Natürlich war mir klar, dass es ein Versuch ist, eine Realität herbeizureden. Wir haben versucht, an diesem Theater den Geist zu schaffen, dass dieser Satz gilt – und über weite Strecken tat er das auch.

 

Bis Pegida kam?

Ja, und ich war wirklich sauer, weil ich gedacht hatte: Wir sind doch weiter! Nicht, dass wir als Theater Dresden verändert hätten, aber wir haben mit dem Klima in der Stadt etwas gemacht. Dazu gehörten auch viele andere Institutionen, Initiativen und Personen, die mit uns dazu beigetragen haben, dass sich die Stadt öffnet.

 

Mit dem Theater das Klima in der Stadt ändern: Woher rührt dieser Ansatz?

Als ich in den 70er-Jahren studiert habe, war die Frage nach gesellschaftlicher Verantwortung von Kunst eine große, die Diskussion um ein eingreifendes Volkstheater hat mich geprägt. In den letzten Jahren sind wir wieder dahin zurückgekommen zu fragen: Wie kann Theater nützlich sein für die Gesellschaft? Insofern schließt sich für mich in Dresden ein Kreis.

 

Als Sie vor sieben Jahren das Staatsschauspiel übernahmen, waren Sie idealistisch genug zu sagen: Die Besucherzahlen sind schlecht, aber ich komme trotzdem. Wieso tut man so was?

Die Aufgabenstellung war, das Haus wieder auf die Landkarte des deutschsprachigen Theaters zu bringen. Außerdem sollte es ein zentraler Ort in der Stadt werden – das haben die politischen Partner so formuliert. Ich mag es, darüber nachzudenken, wie man ein Theater nach vorne und zu den Menschen bringen kann. Es geht mir nicht mehr so darum, ob der „Hamlet“ ein klein bisschen besser oder schlechter wird.

 

Nein?

Das ist Teil der täglichen Arbeit, natürlich. Aber es geht vor allem darum: Welche Position hat das Theater innerhalb der Stadt? Das Tollste für mich ist, wenn ich nicht mehr darüber nachdenken muss, ob in der Spielzeit tausend Leute mehr kommen, sondern wenn das Haus selbstverständlich ein wichtiger und lebendiger Ort ist. Ich wollte eigentlich nie Intendant werden, denn ich wollte nah an den Künstlern bleiben. Aber als ich das Schauspielhaus Hannover geleitet habe, wurde mir klar, dass es mir großen Spaß macht, das Gesamte zu verantworten. Ich habe etwas die Nähe zu den Künstlern verloren, aber Nähe zu vielen anderen Menschen gewonnen.

 

Sie haben eine Ost-West-Biografie, allerdings etwas anders als die meisten derjenigen, auf die Sie hier getroffen sind.

Ich bin 1952 im Osten, in Falkensee, geboren und als Kind sehr früh nach Westberlin gekommen. Es befand sich viel Verwandtschaft im Osten, darum war das immer Thema in meiner Familie. Ich hätte die Entscheidung für Dresden nicht getroffen, wenn nicht der Reiz da gewesen wäre, mit diesem Teil meiner Biografie noch mal umzugehen. Ich wollte dem Ost-Menschen in mir nachspüren.

 

Was ist mit diesem Ost-Menschen in Dresden passiert?

Ich dachte damals, dass ich viel über den Osten weiß. Doch das Leben im Alltag mit Menschen, die lange Biografien in der DDR hatten, das war etwas anderes. Ich habe in Dresden gelernt, dass die Geschichte sich viel langsamer bewegt, als man gemeinhin vermutet – und als ich gern hätte. Gesellschaftliche Veränderungen brauchen Generationen, das war mir vielleicht im Kopf klar, aber gespürt habe ich das erst hier. Ich bin anfangs mit einer viel größeren Ungeduld an die Dresdner Verhältnisse herangegangen, als ich sie jetzt habe. Die Situation mit Pegida hätte ich zu Beginn meiner Amtszeit nicht ausgehalten, ich wäre so wütend gewesen, dass ich nicht hätte weiterarbeiten wollen. Jahre später, als ich wusste, dass die Dinge eine Weile brauchen, um aus den Köpfen herauszukommen, konnte ich anders damit umgehen.

 

Wieso haben Sie sich so stark in die Diskussion um Pegida eingebracht?

Wir hatten uns auch vorher schon mit Fremdenfeindlichkeit, Rechtspopulismus und der mangelnden gestaltenden Kraft der Politik in Sachsen beschäftigt. Das war alles nicht neu, nur die Komprimierung und das fast schamlose Aussprechen der Dinge waren neu.

 

Ihr Vertrag mit Düsseldorf wurde unterzeichnet, da gab es Pegida noch nicht. Haben Sie mal gedacht: Zum Glück bin ich bald nicht mehr hier?

Im Gegenteil, ich habe einen Moment lang überlegt, ob ich Düsseldorf wieder cancele und weitere vier Jahre hier bleibe. Auf einmal wurde Dresden zum Brennpunkt der Geschichte. Was dadurch entstanden ist, die Inszenierungen, unser Engagement, das Nachdenken über die Gründe – das war ja auch bewegend und auf eine merkwürdige Art einzigartig.

 

Haben Sie je daran gezweifelt, so deutlich politische Haltung zu beziehen? Sie vertreten ja eine staatliche Institution.

Wir haben ausprobiert, wie weit wir glaubwürdig gehen konnten. Dass etwa in „Graf Öderland“ in der Regie von Volker Lösch Parteinamen auf der Bühne fallen, das war keine Provokation, sondern Teil einer Analyse. Ich wollte das Haus gesellschaftspolitisch positionieren, es schien mir notwendig, Haltung zu beziehen. Natürlich sage ich, dass ich die AfD für eine im Kern undemokratische, intolerante, menschenfeindliche und unchristliche Partei halte – auch wenn sie im sächsischen Parlament vertreten ist.

 

Woher kommt Ihre persönliche Betroffenheit über die Situation?

Meine Jugend wurde in den 60er-, 70er-Jahren bestimmt von der Auseinandersetzung mit dem Faschismus und der Frage, warum ein entstehendes Unrecht in der Welt nicht aufhaltbar war. Aber dass Unrecht politisch, ideologisch und intellektuell begründet wird, das hat mich mein ganzes Leben lang bewegt und beschäftigt. Pegida, die AfD und die antiaufklärerischen, fundamentalistischen Bewegungen, die im Moment entstehen, bilden den Boden für neue Unrechtssysteme. Wir sind hart an der Kante, dass Inhumanität Teil eines Systems wird. Mein Team und ich fragen uns oft: Wie kann man auf diese Vorgänge hinweisen, Denkräume eröffnen?

 

Kann Theater etwas ändern?

Ich gehe davon aus, dass Denken und Fühlen etwas bewegen können. Ökonomie ist nicht der Motor der Geschichte, ich glaube nicht, dass wir alle Google ausgeliefert sind. Der Mensch ist ein Subjekt, der über Gedanken und Handeln die Welt verändert. Er ist kein Objekt, das geworfen ist. Das mag man auch Idealismus nennen.

 

Hat sich in Dresden Ihr Verständnis von Theater verändert?

Wir haben hier direkter gesellschaftlicher reagiert und auch mal einen Stoff bearbeitet, dem vielleicht nicht das tollste Stück zugrunde lag, der aber eine Auseinandersetzung traf. Manchmal haben wir ästhetische Gesichtspunkte zugunsten inhaltlicher zurückgestellt. Ich hoffe es nicht, aber ich fürchte, dass Dresdner Verhältnisse durch Deutschland mäandern werden. Viele Künstler und Kulturinstitutionen versuchen, genauer in ihren Spielplänen und Programmen zu werden. Die Besinnung von Theater, sich inhaltliche Fragen zu stellen, das kommt wieder in die Köpfe.

 

Also wird es in Zukunft wieder mehr politisches Theater geben?

Ich erhoffe mir, dass es weiterhin auch eine spielerische, leichtfertige, Unsinn produzierende Seite von Kunst gibt, die genauso zur Reinigung der Gesellschaft dient wie das Diskursstück. Natürlich sollte Theater beides haben, aber die gesellschaftliche Verantwortung ist in den Vordergrund gerückt. Das nehme ich mit aus Dresden, das nehme ich auch gern mit.

 

Mit welchem Gefühl nehmen Sie von Dresden Abschied?

Ich wünsche der Stadt Glück und Geduld, und dass die Wärme zurückkehren möge, die sie mal hatte und die in eine Kälte umgeschlagen ist. Ich gehe nicht mit einer Wut hier weg, sondern mit einer schwierigen und vielen guten Erfahrungen, mit dem Gefühl, angekommen zu sein. Meine Auseinandersetzung mit Dresden wird weitergehen, Nachdenklichkeit wird bleiben.

 

Interview: Johanna Lemke