Neun Männer, die meisten mitte 20, stehen mit ihren Rennrädern beisammen. Nicht nervös, aber auch nicht sonderlich entspannt. Ginge es nach Veranstalter A., könnten es deutlich mehr sein. Ihr Ziel: durch Leipzig zu preschen und dabei um die Wette Deutschland-Fahnen von Autos abzureißen. Zur WM vor zwei Jahren fanden sich immerhin fast 30 Teilnehmer. An diesem Donnerstagabend, als das zweite Gruppenspiel Deutschlands gegen Polen angepfiffen wird, beginnt auch ihr Wettkampf.
Von Dmitrij Kapitelman
Neun Männer, die meisten mitte 20, stehen mit ihren Rennrädern beisammen. Nicht nervös, aber auch nicht sonderlich entspannt. Ginge es nach Veranstalter A., könnten es deutlich mehr sein. Ihr Ziel: durch Leipzig zu preschen und dabei um die Wette Deutschland-Fahnen von Autos abzureißen. Zur WM vor zwei Jahren fanden sich immerhin fast 30 Teilnehmer. An diesem Donnerstagabend, als das zweite Gruppenspiel Deutschlands gegen Polen angepfiffen wird, beginnt auch ihr Wettkampf.
Damit dieser neben der politischen auch eine sportliche Note enthält, nämlich die eines Rennens, gibt es "Das Manifest". Niemand kennt dessen Inhalt im Vorfeld. Im zweiten Stock des Wohnhauses gegenüber flimmert ein riesiger Fernseher. Auf dem gerade Deutschlands neuester Lieblingsnachbar eingeblendet wird, Jérôme Boateng. Ein kleiner, stolz grinsender Mann stößt zur Gruppe. In seinen Händen hält er einen Pappkarton, darin das Manifest. Überschrift: "Dunkle Zeiten, Dunkle Ecken". Teil A bestimmt die Koordinaten, die schnellstmöglich abgefahren werden müssen. Mit konkreten Fragen zu den Stationen. Das ist der sportliche Teil. Teil B stellt die politischen Regeln klar: "1 Punkt für Nationalflaggen (ab Kantenlänge 10cm). 5 Punkte für Nationalflaggen groß (ab Kantenlänge 100 cm). 20 Punkte für blaues Auge. 100 Punkte für Beamer und Fernseher." Die antifaschistischen Anti-Athleten steigen zügig auf ihre Räder und schwirren aus. Ich fahre mit Arthur und Arne, die aussehen, als kämen sie frisch vom Radiohead-Konzert.
Arthur und Arne, die im echten Leben anders heißen, möchten sich nicht als Antideutsche verstanden wissen. "Das ist für mich ein zu enges ideologisches Korsett", erzählt Arthur, während wir zur ersten Station im Westen der Stadt heizen. "Ich erwarte nicht die große gesellschaftliche Befreiung davon, dass wir hier Deutschland-Fahnen vernichten. Und mir ist auch klar, dass unsere Aktion meist nicht die Richtigen trifft. Und dennoch ekelt mich dieser übersteigerte Nationalismus während der EM an. Wie krass plötzlich Ressentiments aufbrechen und wie pervers sich sogenannte Völker über andere Völker stellen. Der Sport ist doch nur Ventil dafür."
Wenn Arthur nicht gerade völkische Ventile verschließt, arbeitet er als Erzieher im Kindergarten. Neulich sei ein Vierjähriger mit Deutschland-Bändchen zu ihm gekommen. "Und wie hast du reagiert?" "Ich habe ihm gesagt, dass ich es persönlich nicht anziehen würde, weil ich es nicht so schön finde." "Und wie hat das Kind reagiert?" "Ich glaube, es war noch nicht in der Lage, das zu begreifen."
Für Arne ist es die erste Teilnahme an der der Tour de Anfacista. Ebenso wie Leipzig die erste Stadt ist, in der er mit offensichtlichem Rechtextremismus konfrontiert ist. "Eine Horde durchtrainierter Glatzen, die an der Bushaltestelle stehen und krass auf Gewalt aus sind, das habe ich vorher nicht durchmachen müssen." Den Großteil seines Lebens hat Arne in Frankfurt verbracht. Wenn er sich heute nicht gegen offensichtlichen, ostdeutschen Rechtsextremismus auflehnt, studiert er Kulturpädagogik.
Punkt 1 des Manifests fragt nach dem Namen einer Bar im Stadtteil Großzschocher. Arthur und Arne notieren schnell einen typisch deutschen Namen und setzen das Rennen fort. Steht die Bar auf dem Zettel, weil sie einem Nazi gehört? "Wahrscheinlich." Sicher sind die Jungs sich nicht. Fahnen gab es auch keine abzustauben. Aber gut, bisher führte die Route auch nur durch die Südvorstadt und Leipzigs hippen Westen. Diese Teile der Stadt gelten als quasi entnazifizierte, linke Oasen. Da kommt sicher noch genug Germanentum.
Auch wenn es heutzutage kaum mehr denkbar scheint, Schwarz-Rot-Gold existierte bereits vor der Weltmeisterschaft 2006! Die studentischen Revolutionäre des 19. Jahrhunderts trugen bereits das "Dreifarb" als Kleidung bei ihren Aufständen. Rebellierten gegen Napoleon sowie Kleinstaatlichkeit und verlangten EIN großes Deutschland. Studentische Revolutionäre sind in gewisser Weise auch die Leute, die an diesem Abend durch Leipzig kurven und Fahnen wegreißen. Im phonetischen Geiste ist der Unterschied gar nicht mal so riesig: Hambacher Fest, für ein vereintes Deutschland, Leipziger Manifest, für ein verNeintes Deutschland. Gut, dieser Vergleich hinkt wie ein Marco Reus zu Großturnieren. Jedenfalls verankerten die politischen Väter der Bundesrepublik Schwarz-Rot-Gold als Staatsfarben im Grundgesetz. Das war am 23. Mai 1949. Sicherlich taten sie das im visionären Wissen, dass 67 Jahre später geile Fußi-Party auf Fanmeilen möglich sein sollten, in der wunderschönen Bundesrepublik, die zum Großteil nicht aussortierte Altnazis in Elite, Beamtenapparat und Militär aufgebaut haben.
"Womit kann man in der Kurt-Schumacher Straße 43 bezahlen?", lautet die zweite Frage des Manifests. Um sie zu beantworten, müssen wir zu einer Kneipe hinter dem Hauptbahnhof rasen. Auf dem Weg erzählt Arthur, dass er eigentlich ein großer Fußballfan ist. "Wann hast du aufgehört, dich über Siege von Fußballdeutschland zu freuen, Arthur?" "Oh, das hat eine Weile gedauert. Bestimmt bis ich 18 war. Ich komme eigentlich vom Dorf, in Rheinland-Pfalz. Wie steht es mit dir?" "Ich bin ein großer Fußballfan", antworte ich. "Und muss zugeben, dass ich mich über Schweinsteigers 2:0 gegen die Ukraine gefreut habe. Nicht weil er es für Deutschland geschossen hat. Das ist mir egal. Aber der Typ ist alt wie der Wald, war ewig verletzt und kommt mit so einem herrlichen Tor zurück. Nach einem irren Sprint." Arthur und Arne schweigen. Ich interpretiere das aber als eine Art zustimmendes Schweigen.
Am zweiten Checkpoint, einer schäbigen Kneipe, angelangt, stellen wir fest, dass dort mit Mark gezahlt werden kann. Und dass Arthur und Arne immer noch ohne Fahne dastehen. Aber bisher war einfach nirgends was zu holen! Ein vielleicht12-jähriges Mädchen mit fahnenbeschminkten Wangen läuft vorbei. Soll man ihr jetzt die Wangen blankwischen und entdeutschen? Wo sind die ganzen Nazis, wenn man sie mal braucht?
Dass Fahnen sich (normalerweise) wie Feigenblätter abreißen lassen und im Herbst verschwinden, bedeutet nicht, dass sie auf Bäumen wachsen. Geneigte Sportsommerpatrioten müssen Geld bezahlen, um Deutschland irgendwo aufzuhängen. Glücklicherweise hat sich die Industrie bestens auf die Nachfrage eingestellt. Der urdeutsche Auslieferungsdienst Amazon beispielsweise erleichtert die Auswahl einer "Deutschland Fahne 150 x 90 cm" (Kostenpunkt 2,42 Euro) mit folgenden Hinweisen: "Ideal für Europa- und Weltmeisterschaften, waschbar bis 30 Grad, Gewicht 680 Gramm". Bei einem Blick in die Kundenkommentare zeigt sich aber, dass dennoch einiges schiefgehen kann. So schreibt Sysa aus Waldshut: "Diese Fahne zeichnet sich durch ihre Leichtigkeit aus, d.h. sie weht schon beim kleinsten Windhauch. Das ist schön. Leider ist die Fahne nicht lichtecht." Drei von fünf Sternen.
Aber die Stimmen zufriedener Kunden sollen nicht vorenthalten bleiben. Waddenwuermli schreibt beispielsweise: "Diese Flaggen waren zur Fußball-WM sehr preiswert und dienten mir deshalb treu-deutsch als provisorische Gardinen. Kann ich aber nicht als Gardinen empfehlen, das hat nach der WM einen Nazionalen touch, if you understand what I mean. Heute muss man schließlich Inter-Nazional sein, logo." Logo.
Zur Lösung der dritten Manifestaufgabe sollen wir zum Leipziger Völkerschlachtdenkmal rausfahren. Und in einer Seitenstraße die Laternen zählen. Auf dem Weg dorthin passieren wir die Innenstadt. Hier und da ein kleines Public Viewing. Ein Mittvierziger steht mit Deutschland-Trikot, Deutschland-Mütze und Bierflasche in der Hand vor einem Fernseher. Ganz schlaffes Gesicht, mit leeren Augen starrt er auf einen Bildschirm, der ein scheinbar ebenso lebloses 0:0 zeigt. Sowohl Artur als auch Arne juckt kurz die Hand, dem Mann im Vorbeifahren die Mütze mit dem Bundesadler zu stehlen. Keiner tut es.
Ein paar Meter weiter diskutieren sie die Inzidenz. Artur sagt: "Der tat mir zu sehr leid. Schon verrückt, dass die Leute, die ganz offensichtlich am stärksten vom deutschen System und der deutschen Gesellschaft benachteiligt werden, oft am heftigsten als Nationalisten auftreten." "Die brauchen den Sport eben erst recht als Kompensation", fügt Arne hinzu. Dann ist es endlich so weit. Wir entwenden unsere erste Fahne! Symbolisch wertvoll pflücken wir sie von einem Volkswagen, der vor einem gutbürgerlichen Reihenhaus parkt. Eine ältere Frau bemerkt den Fahnenraub im Vorbeigehen und raunt: "Na, das möchte ich aber nicht gesehen haben." Es wird die einzige Punktefahne für Arthur und Arne bleiben.
Wofür die deutsche Fahne 2016 wirklich steht und was es bedeutet, sie zu hissen, ist unbestritten strittig. Mit Morddrohungen hat die Grüne Jugend Rheinland-Pfalz aber wohl nicht gerechnet, als sie am Wochenende auf Facebook mahnte: "Patriotismus=Nationalismus. Fußballfans Fahnen runter." Im anschließenden Shitsorm kreisten Begriffe wie Volksverräter, verlogenes Pack, Untermenschen. So weit, so Facebook.
Kurz nach Abpfiff treffen sich die Wettfahnensammler wieder im Park. Zur Siegerehrung. Inzwischen finstert die Nacht. Mit vereinten Kräften hat man es auf etwa 60 gesammelte Deutschland-Fahnen gebracht. Besiegt liegen sie im deutschen Schlamm. Gewinner ist jemand, der namentlich nicht genannt werden möchte. Nennen wir ihn Winnie. 22 Exemplare hat Winnie gesammelt. Dafür erhält er einen Luftballon in Form eines Kotstückes. Ein anderer Anti-Athlet hat sich ein blaues Auge angemalt. Das und seine siebzehn Fahnen reichen für den zweiten Platz. Man beschließt, die Goldfelder der Fahnen abzutrennen und nur sie zu verbrennen. Schwarz und rot für sich seien OK, den Stoff könne man ja noch verwenden. Und so steht das Dutzend Deutscher, das Deutschland nicht mag, im Park und schaut 33 Prozent der Bundesflagge beim Verbrennen zu. Irgendwie zufrieden, dass nur so wenige von ihnen in Leipzigs Straßen zu finden waren. Und gleichzeitig leicht enttäuscht.