[Berlin/Russland] Propaganda mit einer angeblichen Vergewaltigung

Alexej Danckwardt, Stadtrat der Partei Die LINKE in Leipzig und Sprecher für Beschäftigungspolitik
Erstveröffentlicht: 
26.01.2016

Deutsche Neonazis und russische Staatspropaganda hetzen gemeinsam gegen Ausländer in Deutschland und gegen das deutsche Rechtssystem. Der „Fall Lisa“ ist der bislang extremste dieser Art.

 

Der russische Fernsehsender „Erster Kanal“ berichtete am 16. Januar von der angeblichen Vergewaltigung einer Russlanddeutschen in Berlin. Die 13 Jahre alte Lisa soll am 11. Januar von Migranten für 30 Stunden entführt und in einer Wohnung vergewaltigt worden sein. 

 

Der Bericht von Iwan Blagoj, Büroleiter des Senders, wirkte dramatisch: Eine weinende Frau wird interviewt, angeblich die Tante der Еntführten. In Tränen aufgelöst schildert sie schreckliche Details über den Ort der Vergewaltigung und die Täter, fast so, als wäre sie dabei gewesen. Danach werden aufgebrachte Verwandte und Bekannte des Mädchens auf einer angeblichen spontanen Protestkundgebung gezeigt. Die Polizei, erklären sie auf Russisch, habe das Mädchen nur verhöhnt.

 

Auf Facebook schlug das Video des „Erstens Kanals“ gewaltig ein. Es wurde mit deutschen Untertiteln millionenfach angeschaut und tausendfach geteilt. Eine Flut von Hasskommentaren ergießt sich seither über Flüchtlinge und die deutsche Polizei. Etliche Kommentatoren riefen dazu auf, „sich endlich zu wehren“.

 

Bericht sollte offenbar absichtlich täuschen

 

BILD hat sich den Bericht des „Ersten Kanals“ genauer angesehen. Dabei kam der Verdacht auf, der russische Korrespondent wollte absichtlich täuschen, denn:

 

► Die „spontane Protestkundgebung besorgter Menschen“, von der Blagoj berichtet, war eine von der NPD angemeldete Demonstration vor dem Einkaufszentrum „Eastgate“ in Berlin. Schwer vorstellbar, dass Blagoj und sein Kamerateam das beim Filmen nicht gemerkt haben, denn sichtbar werden auch Fahnen der NPD geschwenkt.

 

► Obwohl die Polizei die Vergewaltigung längst dementiert hat, berichtet Blagoj, von der Berliner Polizei sei am Wochenende kein Kommentar zu erhalten.

 

► Dazu werden Bilder von schwedischen und finnischen Beamten gezeigt, zu erkennen an den Aufdrucken „POLIS“ und „POLIISI“.

 

► Im Beitrag des russischen „Ersten Kanals“ wird ein verpixeltes Video eingeblendet, in dem drei Männer mit Gewalttaten gegenüber Frauen prahlen. Das Video ist schockierend. „In Deutschland herrscht jetzt eine Atmosphäre der Angst und des Misstrauens“, sagt der Moderator. Das Video, so ergab die Recherche der Website „Stop-Fake“, ist allerdings schon seit dem 19. September 2009 auf YouTube online. 

 

„Stop-Fake“ ist ein Rechercheprojekt ukrainischer Journalisten, das sich auf die Entlarvung von Falschaussagen spezialisiert hat.

 

In verschiedenen russischen Medien ist von drei, fünf oder sogar sieben Migranten die Rede, die die 13-Jährige vergewaltigt haben sollen. Andere erfanden ein Eingeständnis der Polizei, dass die Vergewaltigung tatsächlich stattgefunden habe. Auch dass Österreich vorübergehend das Schengen-Abkommen aussetze, stehe in direktem Zusammenhang mit dem angeblichen Sexualverbrechen und ähnlichen Straftaten in Deutschland. 

 

►Die Berliner Polizei äußerte sich zwei Tage später bei Facebook. Es habe „weder eine Entführung noch eine Vergewaltigung“ gegeben, so die eindeutige Erklärung. Das bekräftigte die Polizei auch an den Tagen danach immer wieder. 

 

Auch die Staatsanwaltschaft schließt aus, dass es eine Entführung oder Vergewaltigung gegeben hat. Trotzdem wird gegen zwei Männer ermittelt. Es geht um den Verdacht, dass es vor dem Verschwinden des Mädchens einvernehmliche Sexualkontakte zu zwei Männern gab.

 

Weil Lisa mit 13 Jahren noch ein Kind ist, wird wegen sexuellen Missbrauchs ermittelt. Die Verdächtigen sind beide Anfang 20, kennen sich nicht. Doch die Staatsanwaltschaft schließt aus, dass einer der beiden etwas mit Lisas Verschwinden zu tun hatte.

 

► Wie eng arbeiteten russischer Staat und deutsche Rechtsextreme bei der Geschichte zusammen?

 

BILD-Recherchen zeigen eine enge Verflechtung zwischen russischer staatlicher und deutscher rechtsextremer Berichterstattung.

 

• Vor dem Bericht des „Ersten Kanals“ am 16. Januar gab es lediglich zwei Erwähnungen der angeblichen Vergewaltigung von Lisa. Zwei Tage zuvor, am 14. Januar, wurde auf den rechtsextremen Facebook-Seiten „Kein Asylanten-Containerdorf in Falkenberg“ und „Nein zum Heim - Marzahn-Hellersdorf“ ein Bericht über eine Entführung und Vergewaltigung eines Mädchens behauptet. Die angeblichen Täter seien arabisch sprechende Männer aus einer Containerunterkunft in Falkenberg.

 

• Wie oben beschrieben, besuchte der Sender „Erster Kanal“ am 16. Januar eine NPD-Demonstration, um Stimmen „besorgter Bürger“ zu dem Vorfall zu bekommen.

 

• Am Folgetag, dem 17. Januar, sprach die angebliche Cousine von Lisa und schilderte nochmals eindringlich den angeblichen Ablauf des Tages der Vergewaltigung. Merkwürdig: Wenn sie von Lisa spricht, nennt sie sie nur „das Mädchen“.

 

Abermals war es eine NPD-Kundgebung, die die Russlanddeutsche für ihre Anschuldigungen gegen die Berliner Polizei nutzte. Und abermals war es ein russischer staatlicher Fernsehsender – diesmal „Ruptly TV“ von „Russia Today“, der von der rechtsextremen Kundgebung und dem Auftritt der vermeintlichen Verwandten Lisas berichtete.

 

• Am 23. Januar veranstaltete der „Konvent der Russlanddeutschen“ vor dem Bundeskanzleramt in Berlin eine Demonstration unter dem Motto „Wir sind gegen Gewalt“. Auf der Veranstaltung mit etwa 700 Teilnehmern wiederholte der Vorsitzende der Russlanddeutschen, Heinrich Groth, die Vergewaltigungsvorwürfe, obgleich die Berliner Polizei diese als Falschmeldung zurückgewiesen hatte. 

 

„Uns alle hat hier zusammengebracht, der brutale Fall der Berliner Schülerin Lisa, die hier vergewaltigt war vor kurzer Zeit“, sagte Groth mit russischem Akzent.

Zur Teilnahme an der Demonstration am 23. Januar vor dem Kanzleramt rief nicht nur der russische Büroleiter des „Ersten Kanals“ in Berlin (Iwan Blagoj) auf, der die Geschichte eine Woche vorher verbreitet und damit erst den Anlass der Veranstaltung geschaffen hatte.

 

Auch die rechtsgerichtete BärGiDa, Berliner Ableger von Pegida, machte den Protest gegen die deutsche Flüchtlingspolitik zum Pflichttermin auf ihrer Homepage.

 

„Opfer“-Anwalt ruft zu Putsch gegen Merkel auf

 

Am Tag nach dem Protest in Berlin äußerte sich auf Facebook der Anwalt der Familie des vermeintlichen „Opfers“, Alexej Danckwardt. Der Deutschrusse ist Stadtrat der „Linken“ in Leipzig.

 

Er bezeichnete Bundeskanzlerin Angela Merkel als „arroganten Kotzbrocken“, rief zu ihrem „schmerzhaften Sturz“ auf und sagte wörtlich: „Und es hätte was, wenn man ihr das antun würde, womit sie die Ukraine in Chaos gestürzt hat.“

 

Den Linkspolitiker scheint nicht zu interessieren, dass bereits zwei selbsterklärte Verwandte seiner Mandantin auf NPD-Demonstrationen vorsprachen und Rechtspopulisten deutschrussische Demonstrationen für sie anpriesen. 

 

Der Leipziger Anwalt fällt immer wieder durch abstruse Äußerungen auf. Im Juli 2015 behauptete er beispielsweise: „Die EU betreibt in der Ukraine die Lebensraumpolitik Hitlers“. Auf der antiukrainischen Plattform „Antimaidan Deutsch“ arbeitet er als Administrator.

 

► Was wollen die russischen Medien mit der Fake-Berichterstattung bewirken?

 

Nach den Übergriffen von Köln in der Silvesternacht berichtete die russische staatliche Presse über Deutschland, als herrsche hier schon längst das Chaos: „Deutsche trauen sich nicht mehr auf die Straße“ schrieb beispielsweise der staatliche Fernsehsender „Rossija 24“. Die Übergriffe in Köln werden in der russischen Presse als „Pogrom“ bezeichnet.

 

Russische Medien scheinen ein Interesse daran zu haben, die Stimmung gegenüber Flüchtlingen in Deutschland zum Kippen zu bringen. Zu diesem Zweck sind sie sich nicht zu schade, Extremisten von links und rechts und die russischstämmige Bevölkerung Deutschlands zu instrumentalisieren. Diese drei Gruppen haben im „Fall Lisa“ ein gemeinsames Feindbild gefunden: Ausländer, Flüchtlinge und die Politik der deutschen Bundesregierung.

 

Rechtliche Konsequenzen für Propagandisten

 

Im Fall der angeblichen Vergewaltigung könnte diese inszenierte Berichterstattung Folgen haben.

 

• Der Konstanzer Rechtsanwalt Martin Luithle erstattete am Montag Strafanzeige gegen den Korrespondenten des „Ersten Kanals“ wegen Volksverhetzung. „Der Korrespondent hat in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, seine in Deutschland lebenden russischsprachigen Landsleute zum Hass gegen Flüchtlinge aufgestachelt und zugleich indirekt zur Gewalt und Willkürmaßnahmen gegen sie aufgefordert. Hierfür ist laut §130 Strafgesetzbuch der Strafrahmen einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis fünf Jahren vorgesehen“, schrieb Luithle in seiner Anzeigeschrift.

 

• Die Berliner Polizei wehrt sich gegen die Behauptung, sie habe das Kind bei der Befragung unter Druck gesetzt und schrieb auf Facebook: „Gegen weitere gleichartige Unterstellungen werden wir auch ggf. strafrechtlich vorgehen.“

 

Am Dienstagabend veröffentlichte der russische „Erste Kanal“ dann doch noch das Statement der Berliner Polizei, dass keine Vergewaltigung stattgefunden hat. Auch dieser Beitrag wieder mit Filmaufnahmen schwedischer Polizisten.

 

Kreml schaltet sich ein

 

Zwölf Tage nachdem die Berliner Polizei die Vorwürfe als haltlos entkräftet hat, meldete sich am Dienstag Russlands Außenminister Sergej Lawrow zu Wort.

Lisa sei „ganz klar nicht freiwillig 30 Stunden verschwunden gewesen“, sagte Lawrow in Moskau. Den deutschen Behörden warf er vor, „die Realität zu übermalen“, bzw. Lisas Vergewaltigung vertuschen zu wollen.

 

Welche konkreten Erkenntnisse der Kreml über den „Fall Lisa“ hat, die die Behauptungen stützen, sagte Lawrow nicht. 

 

Schwere Vorwürfe gegen Deutschland – der Fall Lisa wird zur Staatsaffäre! „Das ist reine Propaganda“, kritisierte CDU-Parlamentarier Karl-Georg Wellmann (63). Denn es gebe „nicht den geringsten Ansatzpunkt“, dass die Polizei etwas „falsch gemacht“ hätte. „Hier eine Stimmung auszunutzen und pauschal Ausländer zu beschuldigen, das geht überhaupt nicht“, wetterte der Russland-Experte. Er spricht von gezielter Stimmungsmache gegen den Westen, der Fall Lisa werde jetzt als weiterer angeblicher Beleg dafür herangezogen, dass man die Flüchtlingskrise nicht mehr im Griff hat.“

Droht jetzt ein diplomatischer Eklat? Im Außenministerium von Frank-Walter Steinmeier (60, SPD) hielt man sich bedeckt. Nur so viel: „Wir werden das nicht kommentieren“, so eine Sprecherin. 

 

Diese Geschichten werden über Deutschland verbreitet

 

Der Fall „Lisa” ist nicht das einzige Gerücht, das aus Russland nach Europa schwappt. 

 

►Der Think Tank „StratCom” listete eine Reihen von russischen Desinformationen zu Deutschland auf, die kremlnahe Medien verbreiten.

So behauptet ein russisches Nachrichtenportal, dass man sofort ins Gefängnis gesteckt werde, wenn man auf Twitter oder Facebook etwas gegen Flüchtlinge sage. Das sei Teil des Plans, die Meinungsfreiheit der Bürger in Deutschland zu beschneiden. 

 

►Von tschechischen, kremlnahen Medien wird behauptet, dass die deutsche Regierung tschechische Prostituierte kaufe, um männliche Flüchtlinge zu befriedigen. 

 

►Auch die Übergriffe in deutschen Großstädten in der Silvesternacht werden zur Desinformation genutzt. Die Attacken seien von Geheimdiensten wie der CIA inszeniert worden und die „Schauspieler” wären mit Heroin bezahlt worden. 

 

Wie „StratCom” erläutert, sollen diese erfundenen Geschichten den Verfall des Westens und die Probleme, die die europäischen Regierungschefs haben, zeigen.

 


 

Anmerkung: Alexej Danckwardt hat zwischenzeitlich (im April 2016) die Linke-Fraktion im Leipziger Stadtrat verlassen.