Heimatstolz und Fremdenangst

Erstveröffentlicht: 
19.05.2016

Sachsens CDU belebt eine Debatte neu, die sie schon vor elf Jahren führte, aber damals recht schnell versandete - über Leitkultur und Patriotismus. Eine Anbiederung an die AfD?

 

Dresden. Vor fünf Jahren war Jens Wittig noch nicht Landesgeschäftsführer der sächsischen SPD, sondern schrieb - betreut von Professor Werner Patzelt - an der TU Dresden an der Magisterarbeit über "Die politischen Strategien der CDU in Sachsen seit 1990". Entscheidend für den Erfolg, so stellte er damals fest, sei "die in der Bevölkerung sehr stark verankerte sächsische Identität": Bei jeder sich bietenden Möglichkeit bestärke und betone die "Sachsenpartei" dieses Regionalbewusstsein.


In seiner 140-seitigen Arbeit streifte Wittig auch die Patriotismus-Debatte nach dem Verlust der absoluten Mehrheit und dem Einzug der rechtsextremen NPD in den Landtag 2004. Diese sei auf Wunsch großer Teile der Partei angestoßen worden, um das konservative Profil zu schärfen und die Bindung zu jenen Sachsen zu erhöhen, die sich "rechts der Mitte" verorten. Zwar verabschiedete ein Landesparteitag 2005 ein Thesenpapier, in dem "mehr Patriotismus für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft" verlangt wurde. Sonst ist aber nicht viel passiert. Und das sieht nicht nur Wittig so.

 

Selbst CDU-Chef und Ministerpräsident Stanislaw Tillich räumt mittlerweile ein, dass jenes vom einstigen "Patriotismusbeauftragten" und heutigen Landtagspräsidenten Matthias Rößler verfasste Papier "relativ schnell vergessen" wurde - ein Versäumnis, das die CDU elf Jahre später mit einer Neuauflage der alten Debatte aus der Welt schaffen will. Inzwischen hat die Partei es mit einem neuen Kontrahenten an ihrer rechten Seite zu tun, der für die Union weitaus gefährlicher sein könnte als die NPD - mit der AfD.

 

Deren Chef Jörg Meuthen gab jüngst auf dem Parteitag die Parole "Weg vom links-rot-grün versifften 68er Deutschland" aus. Im CDU-Patriotismus-Papier 2005 war die Tonlage gemäßigter, aber letztlich wohl das gleiche Ziel formuliert: "Die herrschende Deutungsdominanz der ,Achtundsechziger' in Medien, Wissenschaft und Schule und die damit verbundene Diskreditierung wertorientierter patriotischer Positionen ist zu überwinden."


Zuweilen unterscheiden sich AfD und CDU nicht mal rhetorisch: Dass die politischen Konkurrenten von links mit der "Vergewaltigung unserer deutschen Sprache" durch Gender Mainstreaming "ganz bewusst uns unserer deutschen Wurzeln berauben wollen", hat kürzlich etwa Sachsens CDU-Fraktionschef Frank Kupfer öffentlich von sich gegeben. Und die mittelsächsische CDU-Bundestagsabgeordnete Veronika Bellmann, die gemeinsam mit ihrem Fraktionskollegen Arnold Vaatz dem "Berliner Kreis" der besonders konservativen CDU-Mitglieder angehört, sprach Anfang Mai allen Ernstes von der Sorge vor "Überfremdung" - Unwort des Jahres 1993 - bei Bürgern und Parteimitgliedern.

 

Deutlich gemäßigter treten mit Tillich und Rößler am Dienstagabend in Dresden die beiden ranghöchsten sächsischen Landespolitiker bei der CDU-Regionalkonferenz zum Thema "Mehr Patriotismus" in Dresden auf. Rößler wiederholt in seinem Eingangsstatement im Wesentlichen seine inzwischen fast elf Jahre alten Positionen: Dass für andere Europäer die Liebe zum Vaterland selbstverständlich sei, dass Europas Stärke in der Vielfalt seiner nationalen Kulturen liege, dass sich Patrioten der gesamten Geschichte ihrer Nation stellen und Patriotismus Symbole, Institutionen und Traditionen brauche. Wer nach den Regeln der Scharia leben wolle, müsse wieder gehen, sagt Rößler später auf Nachfragen aus dem Publikum. Er spricht auch von einer zu befolgenden, sich aber durchaus weiter entwickelnden "Leitkultur" als "Einladung an Einwanderer, Deutsche unter Deutschen zu werden".

 

Dass Patriotismus bedeute, "sich auf sich ändernde Rahmenbedingungen in einer globalisierten Welt einzustellen", betont danach auch Junge-Union-Chef Alexander Dierks - in Erwiderung des AfD-Vorwurfs, dass die Union etwa bei Asyl, Euro und TTIP "alles andere als patriotische Positionen" vertrete. Die JU hatte mit ihrer "Denkschrift" 2015 die erneute CDU-Debatte angestoßen, die letztlich in ein neues Patriotismuspapier münden soll. Alles nur wegen der AfD? Dierks winkt ab: "Die Rezepte von gestern sind nicht die Antworten auf die Fragen von heute und morgen."

 

Ob zu den Rezepten von gestern auch die Hoffnung auf eine "geistige Wende" gehört? Dass diese sowohl in der alten Bundesrepublik nach dem Wechsel von Kanzler Helmut Schmidt (SPD) zu Helmut Kohl (CDU) als auch nach 1989 im vereinigten Deutschland ausgeblieben sei, hatte Sachsens CDU in ihrem Patriotismuspapier von 2005 festgehalten - aber gleich noch dazu geschrieben, dass sie nun "nach einem Wahlsieg der Union mit Angela Merkel möglich" werde.

 

Wenn es überhaupt eine "geistige Wende" in Deutschland nach knapp elf Jahren mit Kanzlerin Merkel gab, dann verlief die wohl eher nicht im Sinn der Sachsen-Union, die sich schon immer "gern von der Bundespartei absetzt", wie Politikwissenschaftler Wittig bereits 2011 feststellte. Auch diese Distanzierung von Berlin gehört demnach zur Erfolgsstrategie der Sachsen-Union. Einer von Wittigs acht -in diesem Fall leider anonym bleibenden - CDU-Interviewpartner verstieg sich damals sogar zur These: "Je schlechter es im Bund läuft, desto sächsischer wird die Sächsische Union."