10 Thesen zum Verhältnis von Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus
Vom 29. bis 31. Januar fand in Berlin eine Jubiläumsveranstaltung aus Anlaß von „20 Jahre trend. Onlinezeitung“ statt. Bereits im Vorfeld hatte ich ein Papier zum Thema „Spezifität, Historizität und Materialität des Geschlechterverhältnisses“ beigesteuert. Bei der Veranstaltung selbst hatte ich dann den vorhergehenden Vortrag von Georg Klauda zum Thema „Haupt- und Nebenwiderspruch revisited“ genutzt, um meine Position – im Vergleich hinsichtlich Unterschieden und Ähnlichkeiten zu der von Georg – anschaulich zu machen.
Dazu trug ich 9 Thesen vor, von denen ich hier die ersten fünf sowie die Achte knapp zusammenfasse, während ich die sechste und neunte These1 im folgenden etwas ausführlicher – und (und, was die neunte anbelangt) mit mehreren graphischen Darstellungen plastisch gemacht – darstellen und auch noch eine zehnte These hinzufügen werde.
1 Die siebte These betraf die Ereignisse in Köln in der Nacht von Silvester 2015 zu Neujahr 2016. Der Inhalt der These entsprach sinngemäß dem, was am Ende meines ausführlichen Textes, der am 8. Februar bei scharf-links erschien, steht: http://www.scharf-links.de/51.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=54812&tx_ttnews[backPid]=48&cHash=262c73862d (ab „Ich möchte diesen Abschnitt daher wie folgt resümieren:“).
1. Ich werde im folgenden eine Lanze für die von Georg angesprochen dual oder triple system- (oder, wie ich zu sagen vorziehen1 würde: structure)-Theorien oder -Ansätze brechen; also für die These, daß es mehr als nur eine grundlegende Struktur der Gesellschaft (zumeist wird diese – vermeintliche – eine Struktur von Linken mit den Klassenverhältnissen identifiziert) gibt.
2. Ich stimme Georg zu, daß es schon in dem von ihm erwähnten 3:1-Papier von Viehmann u.a. (Drei zu eins. Klassenwiderspruch, Rassismus und Sexismus) von 1991 eine Tendenz gab, „Unterdrückung“2 gegenüber „Herrschaft und Ausbeutung“ in den Vordergrund zu rücken, und daß es im Zusammenhang damit eine Tendenz zur Individualisierung und bloßen Beschreibung (statt Analyse) der gesellschaftlichen Verhältnisse gab.
3. Dieses radikalliberale bis – bestenfalls – individual-anarchistische Weltbild hat inzwischen in der Berliner queer-Rezeption eine erhebliche Radikalisierung in die falsche Richtung erfahren3 und gilt vielen als die linksradikale Haltung schlechthin (moralisierendes Lamento über die Schlechtigkeit der Welt statt analytisch begründete revolutionäre Strategie).
4. Meines Erachtens ist dieser Abschied von der Analyse struktureller Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse und die Ersetzung des revolutionären Kampfes gegen diese Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse durch humanistische Antidiskriminierungspolitik aber nicht die zwangsläufige Folge von multi structure-Ansätzen.
5. Dies zeigt sich daran, daß wir es durchaus nicht (nur) mit einer Verschiebung von proletarischem Klassenkampf zu Antisexismus und Antirassismus zu tun haben, sondern auch und gerade im Feminismus selbst mit einer Verschiebung von struktureller Patriarchatsanalyse und antipatriarchalem, politischen Kampf zur Auflistung von Diskriminierungen und einer Praxis deren individueller Linderung.
6.a) Georg hatte in etwa gesagt: Nicht nur den Klassenwiderspruch, sondern auch den Geschlechterwiderspruch zum Grundwiderspruch zu erklären, laufe darauf hinaus, so etwas Tautologisches zu sagen, wie: Der Geschlechterwiderspruch sei der Grundwiderspruch des sex-gender-systems. Außerdem sei das Geschlechterverhältnis nicht dem Typus von Analyse zugänglich, den Marx bei seiner Formanalyse des Kapitalismus anwandte.
b) aa) Ich würde statt der von Georg als tautologisch kritisierten Formulierung folgende nicht-tautologische Formulierung verwenden: Der Widerspruch zwischen Frauen und Männern ist in der Weise der Grundwiderspruch des Patriarchats, in der der Widerspruch zwischen LohnarbeiterInnen und KapitalistInnen der Grundwiderspruch der kapitalistischen Produktionsweise ist.
bb) α) In Bezug auf den zweiten Einwand wäre m.E. zunächst einmal zu klären, ob denn die marxsche Methode der Kritik der Politischen Ökonomie die einzige Methode ist, um Erkenntnisse über heutige Gesellschaftsformationen zu produzieren. Falls nicht, würde dieser Einwand von vornherein ins Leere gehen.
β) Des weiteren wäre zu klären, um was für einen Analyse- und Kausalitätstyp es sich denn bei Marx’ Argumentation in der Kritik der Politischen Ökonomie überhaupt handelt. Meiner Überzeugung handelt es sich nicht um einen lineares Kausalitätsmodell nach dem Motto: „Wenn Prolet, dann (und ausschließlich dann) Kommunist.“ Meiner Überzeugung handelt es sich aber auch nicht um ein expressives Kausalitätsmodell nach dem Motto: „Die Warenform ist das Wesen, und die Ideologie ist die Erscheinung.“
„The Marxist totality [...] is neither a whole each of whose elements is equivalent as the phenomenon of an essence (Hegelianism), nor are some of its elements epiphenomena of any one of them (economism or mechanism); the elements are asymmetrically related but autonomous (contradictory); [...].“ (http://www.marx2mao.net/Other/FM65ii.html#Glossary) /
„Das marxistische Ganze […] ist weder eine Totalität4, allderen Teile einander als Erscheinung eines Wesens äquivalent sind (Hegelianismus), noch sind einige der Elemente des Ganzen bloße Epiphänomene eines Einzigen von ihnen (Ökonomismus oder Mechanismus); vielmehr stehen die Elemente in asymmterischen, aber [relativ5, dg] autonomen Beziehung zu einander; […].“
Karl Marx schrieb in der Einleitung von 1957 [zur Kritik der Politischen Ökonomie]: Das „Allgemeine [...] ist selbst ein vielfach Gegliedertes, in verschiedne Bestimmungen Auseinanderfahrendes.“ (MEW 13, 617 = 42, 21)6.
γ) Grundwidersprüche sind also weder das, was sich das expressive Kausalitätsverständnis als „Zentrum“ vorstellt, noch das, was sich das lineare Kausalitätsverständnis als „Ursache“ / „Grund“ vorstellt. Grundwidersprüche sind vielmehr in dem Sinne grundlegend, in dem Marx und Engels in der Deutschen Ideologie sagten:
„Zum Leben aber gehört vor Allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere. Die erste geschichtliche Tat ist also die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, […], und zwar ist dies […] eine Grundbedingung aller Geschichte, die noch heute, wie vor Jahrtausenden, täglich und stündlich erfüllt werden muß, um die Menschen nur am Leben zu erhalten.“ (MEW 3, 28 – meine Hv.)
„Mit der Teilung der Arbeit […] ist zu gleicher Zeit auch die Verteilung, und zwar die ungleiche, sowohl quantitative wie qualitative Verteilung der Arbeit und ihrer Produkte gegeben, also das Eigentum, das in der Familie, wo die Frau und die Kinder die Sklaven des Mannes sind, schon seinen Keim, seine erste Form hat. Die freilich noch sehr rohe, latente Sklaverei in der Familie ist das erste Eigentum, das übrigens hier schon vollkommen der Definition der modernen Ökonomen entspricht, nach der es die Verfügung über fremde Arbeitskraft ist.“ (MEW 3, 32)
7. [… Ich verweise auf den Audio-Mitschnitt7]
8. Was ist nun der hauptsächliche Grund für meine Präferenz für eine triple structure-Theorie gegenüber dem single system-Ansatz des nebenwiderspruchs-theoretischen Marxismus?
Ich habe bisher – auch in dem Vortrag von Georg – noch keine plausible Erklärung gehört, warum denn der Kapitalismus (oder allgemeiner: ‚die Klassengesellschaft’) die Ursache von Patriarchat und Rassismus sein soll.8 (Diejenigen, die eine Kausalität behaupten, müßten in der Lage sein, einen Kausalitätsmechanismus zu explizieren!)
a) In Bezug auf das Verhältnis von Patriarchat und Kapitalismus bricht die Kausalitäts-These schon an der Chronologie, d.h.: daran, daß das Patriarchat älter ist als der Kapitalismus.
b) In Bezug auf Klassengesellschaften im allgemeinen bricht die Kausalitäts-These in Bezug auf das Patriarchat an den Argumenten, die ich in meinem Spezfitäts-Papier gegen den Ableitungsversuch, den Friedrich Engels in Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats unternahm, vorbrachte.
c) In Bezug auf den Rassismus bricht sich die Kausalitäts-These an der von Georg – mit Wohlwollen bis Zustimmung referierten – These von einem ‚Weißheits-Lohn’ (also einem Einkommensvorteil nicht qua nicht-proletarischer Klassenzugehörigkeit, sondern qua rassifizierender Zuordnung als „weiß“). Letztlich trägt schon Lenins These von einer vom Imperialismus profitierenden „Arbeiteraristokratie“ nicht die – im Marxismus dominierende Nebenwiderspruchs-These. Denn die „Arbeiteraristokratie“-These beinhaltet zwingend eine materielle Bevorteilung der weißen Teile der ArbeiterInnenklasse gegenüber den schwarzen Teilen dieser Klasse. Eine Aufgabe dieser (Ein Verzicht auf diese) Bevorteilung setzt nicht (nur) den Sturz des Kapitalismus, sondern auch einen Bruch mit der bis dahin als „weiß“ rassifizierten Teile der Lohnabhängigen mit ihrer Weißheit voraus (Letzteres meint soviel wie ein antirassistisches Analogum zum marxistischen Ausdruck „Klassenverrat“).
9. Als letzten meiner neun Punkte kam ich auf die Frage zu sprechen, wie sich meine bereits in meinem Spezfitäts-Papier ausgesprochene Überzeugung, daß heutige Gesellschaftsformationen von drei Grundwidersprüchen (Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus) strukturiert seien, visuell dargestellt werden könne9:
Dazu schlug ich die dreidimensionale Figur eines Würfels vor – also einer waagerechten X-Achse, einer senkrechten Y-Achse und einer in die Tiefe des Raumes gehenden Z-Achse.
Mein Vorschlag war nun, bspw. den Grundwiderspruch der kapitalistischen Produktionsweise (also den Widerspruch zwischen den Lohnabhängigen [ganz links] und den KapitalistInnen [ganz rechts] und dazwischen die Solo-Selbständigen und BeamtInnen10) auf der X-Achse abzubilden:
Graphik 1: Der Widerspruch zwischen Lohnabhängigen und KapitalistInnen als Grundwiderspruch der kapitalistischen Klassenverhältnisse (+ Solo-Selbständige + BeamtInnen als Zwischenschichten)
Für diese und die weiteren Graphiken sowie den weiteren Text möchte ich - aus Layout-Gründen - auf die dem Artikel beigefügte .pdf-Datei verweisen.
[0] „ohne sie [d.h.: ohne die „Entwicklung der Produktivkräfte“ würde] nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen“ (MEW 3, 34-35).
1 Denn weder der Marxismus noch der Strukturalismus noch erst erst der strukturale Marxismus sind eine „Systemtheorie“ im Sinne des Strukturfunktionalismus. Siehe dazu meinen Text: Die Norm (in) der Geschichte. Die Struktur des Strukturfunktionalismus und die Struktur des Strukturalismus, in: Sabine Berghahn / Frieder Otto Wolf / Detlef Georgia Schulze (Hg.), Rechtsstaat statt Revolution, Verrechtlichung statt Demokratie? Transdisziplinäre Analysen zum deutschen und spanischen Weg in die Moderne, Westfälisches Dampfboot: Münster, 2009, 206 - 254.
2 „Identitätspolitik ist zur Zeit der große Renner. Ausbeutung ist ‚out’ und gilt als von außen her determiniert. Unterdrückung ist ‚in’ und gilt als persönlich. Die Frage nach dem richtigen Handeln wurde durch die Frage nach dem Sein ersetzt. Wer bin ich? Die politische Kultur ist von einer Politik des Kulturellen abgelöst worden. Die materielle Welt hat sich ins Metaphysische verflüchtigt.“ (Homelands of minds, in: Jenny Bourne / A. Sivanandan / Fiz Fekete, From Resistance to Rebellion. Texte zur Rassismus-Diskussion Schwarze Risse / Rote Straße: Berlin/Göttingen, 1992, 109 - 145 [110]).
3 Vgl. dazu meinem Beitrag zur Veranstaltung Klasse Frau – Zum Stand feministischen Kämpfens von TOP B3rlin und Helle Panke, die am 2. März in Berlin stattfand: http://theoriealspraxis.blogsport.de/2016/03/06/passen-materialistische-kritik-und-identitaetspolitik-zusammen/ (ab Min. 27:15).
4 Ich vertausche gegenüber dem englischen Original die Begriffe „Ganzes“ und „Totalität“, da Althusser später sagte: „Wenn ich mir erlauben darf, etwas provozierend zu sein, so scheint mir, daß man Hegel die Kategorie Totalität überlassen kann und für Marx die Kategorie des Ganzen beanspruchen sollte.“ (Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, VSA: Hamburg/Westberlin, 1977, 51 - 88 [65])
5 Siehe z.B.: „Der Staat verfügt nach Poulantzas Theorie über eine ‚relative Autonomie‘ von der ökonomischen Sphäre. Im Gegensatz zu den Theoretikern der ‚Staatsableitungsdebatte‘ ist Poulantzas Staatsverständnis somit kein mechanistisch-ökonomistisches.“ (Wikipedia [alt]) / „Der Staat verfügt nach Poulantzas' Theorie im Kapitalismus über eine ‚relative Autonomie’ von der ökonomischen Sphäre, wie auch die einzelnen Staatsapparate untereinander in relativer Autonomie zueinander stehen. Ähnlich wie Althusser geht er von verschiedenen Ebenen oder Instanzen in der Produktion des gesellschaftlichen Lebens aus, der ökonomischen, politischen und ideologischen, welche alle eine relative Autonomie besitzen aber notwendig miteinander verbunden sind und ein überdeterminiertes Ganzes bilden.“ (Wikipedia [aktuell])
6 S. auch MEW 13, 631, 638 und 639 = 42, 34, 41 und 42: „bestimmte Verhältnisse dieser verschiednen Momente zueinander“ / „Beziehung, die sie [die ökonomischen Kategorien] in der modernen bürgerlichen Gesellschaft aufeinander haben“ / „ihre [der ökonomischen] Gliederung innerhalb der modernen bürgerlichen Gesellschaft“ / „innre Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft“.
7 Vgl. FN 1.
8 Vgl. dazu zuletzt (7. März) von meiner Seite aus: Auch heutige Gesellschaften sind patriarchal, aber sie sind es nicht, weil das Kapital oder der Kapitalismus daran schuld wäre (https://linksunten.indymedia.org/de/node/171589).
9 Mit dieser Visualisierung ist nicht mehr, aber auch nicht weniger beansprucht, als den gesellschaftlichen status quo realitäts-/komplexitäts-angemessener darzustellen sowohl als
Modelle der rein vertikalen (oben/unten) Gliederung nach Klassenlage („Pyramide“ des nebenwiderspruchs-theoretischer Marxismus) oder sozialer Schichtung („Zwiebel“ der akademischen Soziologie)
als auch das bourdieusche Modell zweier sich kreuzender Achsen (ökonomisches und kulturelles Kapital) [siehe 1 und 2]).
10 Die BeamtInnen sind von den Lohnabhängigen unterschieden, weil die Ersteren kein Streikrecht haben und die Höhe ihrer Bezüge vom Staat festgesetzt wird und sie besondere Treuepflichten gegenüber dem Staat haben.