1.Während diese Zeilen geschrieben werden, spitzt sich die Lage in Idomeni noch einmal dramatisch zu. 7000 Migrantinnen stehen vor dem Tor nach Mazedonien, einem doppelten Drahtzaun und einem Schützenpanzer gegenüber. Gestern wurden 150 Menschen durchgelassen, erfasst und mit dem neuen Papier versehen. Weitere Zehntausend befinden sich in Zwischenlagern, auf Plätzen und in Parks in Athen oder versuchen, Idomeni zu Fuß auf der Autobahn zu erreichen.
Derweil kommen durchschnittlich 3000 Migrantinnen täglich auf den griechischen Inseln an. Die Wetterlage ist stabil. Die Regierung versucht, die Migrantinnen vorübergehend auf Fähren vor den Inseln aufzuhalten.
Mehr als hunderttausend Migrantinnen sind seit dem 1. Januar auf den Inseln ankommen, die Herkunftsländer sind Syrien 44%, Afghanistan 29%, Irak 17%, Iran 4%, Pakistan 3%, alle anderen 3%. 37% sind Kinder, 21% Frauen, 42% Männer. Die Migrantinnen reagieren auf die Einschränkung des Familiennachzugs. Zunehmend stehen Familien mit Kindern vor dem Zaun in Idomeni.
Die steigende Zahl der Ägäispassagen ist für die Migrantinnen die beste Garantie, dass sie nicht dauerhaft in Griechenland festgehalten werden können. Der Frontex- und der NATO- Einsatz in der Ägäis werden die Migrantinnen nicht aufhalten können. Fregatten gegen Schlauchboote. Es fehlen die Mittel für ein effektives Refoulement und vielleicht geben sich die griechischen Streitkräfte dafür auch nicht her. Vielleicht können die Migrantinnen auch auf die NATO-Schiffe klettern und um Asyl bitten?
Die Migrantinnen aus Afghanistan, die in Idomeni schon seit dem 15. November abgewiesen werden, haben indes begonnen, sich neue Wege zu suchen. Sie sind dabei wiederum, wie schon zu Beginn des letzten Jahres, auf Fluchthilfe angewiesen. Da viele ihr letztes Geld in die Ägäispassage investiert haben, sammelt sich in Griechenland eine Schicht verarmter Migrantinnen.
Für die meisten aber ist Idomeni weiterhin der wichtigste Orientierungspunkt. Gleichzeitig haben die Balkanländer und Österreich, ohne Griechenland, die Absicht bekundet, die Transitroute in den nächsten Tagen vollständig zu schließen. Kommt es zum Showdown in Idomeni? Oder gibt es eine Intelligenz der Crowd, die der Migrationsbewegung neue Wege öffnet, so wie es in den letzten großen Ereignissen des Sommers geschah, in Idomeni, Budapest und Rözke? Wäre es vielleicht sogar möglich, dass sich die Migrantinnen mit der griechischen Armutsbevölkerung verbünden im Kampf gegen die Ausschließung aus Europa?
2. Dass die Migrationsbewegung den Takt der europäischen Krise seit Monaten bestimmt, kann nicht anders denn als epochaler Wendepunkt begriffen werden. Zwischen der TINA-Politik und medialen Inszenierungen im halbwegs saturierten Kerneuropa und einer militärischen Kontrolle der Peripherie schien es keine Vermittlungen zu geben. Das Mittelmeer erschien von Berlin, Brüssel und Paris aus als Perlenkette touristischer Ereignisse, durchsetzt von No-Go-Zonen, die im Flieger oder auf dem Luxuskreuzer umschifft wurden. Die Migrantinnen nun transportieren ein Bewusstsein ihres Rechts und ihrer Würde über die Grenzen hinweg. Sie tragen die letzte Glut der arabischen Revolution nach Europa. Aus bombardierten Bevölkerungen werden, erkennbar nun auch für die Bevölkerung in Europa, Kinder, Frauen und Männer, die sich trotz aller Not als Menschen präsentieren, die nicht um Almosen betteln und denen der Zusammenhang von europäischem Wohlstand und der Armut der Peripherie nicht unbekannt ist.
Die pure Zahl der Migrantinnen an sich ist nicht das Problem, auch 5 oder 20 Millionen müssten nicht verhungern und könnten in Europa würdig versorgt werden. Die politische und mediale Inszenierung des Themas korreliert aber dennoch mit der Bedeutung des Themas, denn die Fragen, Öffnung der Grenzen oder Wohlstandsfestung, Öffnung der Gesellschaft oder Militarisierung und Schießbefehl – diese zentralen Fragen nach der Zukunft Europas stehen zur Debatte und diese Fragen werden uns durch die Migrantinnen präsentiert. Sie werden uns nicht mehr los lassen. Europa wird bewegt.
Der Balanceakt der Merkelfraktion in der europäischen Politik, zwischen einer Willkommenskultur als sinnstiftendem Sommermärchen, kombiniert mit einem Rückstau der Migrantinnen möglichst in der Türkei, aber zur Not auch in Griechenland oder Italien, unterscheidet sich von der Politik der Visegrád-Staaten wesentlich darin, dass Merkel den Anstoß zur postmodernen und demographischen Erneuerung der Gesellschaft gern umsetzen und Zäune an den EU-Binnengrenzen vermeiden möchte. Aber das sind graduelle Differenzen. Alle Fraktionen sind sich einig, dass jetzt ein stabiles Containment der Migrantinnen in der Peripherie erforderlich sei, in dem die Gesichter unkenntlich und die Menschen wieder zur Manövriermasse werden, aus welcher dann bestimmte Kontingente selektiert werden könnten. Aber das wird nicht gelingen, die politischen Konflikte werden sich vertiefen.
Merkels Problematik liegt ja auch darin begründet, dass sie die innereuropäischen Ausgleichsmechanismen aufgekündigt und durch die Austeritätspolitik ruiniert hatte, kurz bevor die Westbalkanroute in den Blick geriet. Zu jenem Europa, dass sich nach 2008 um die deutsche Exportkultur herum stabilisiert hatte, gibt es keinen Weg zurück. Die Zeichen stehen auf einer fortschreitenden europäischen Zonierung: Zäune im Balkan, Sonderzonen in Griechenland und Süditalien, ein nationalistischer Block im Osten, und selbst die französisch-deutsche Achse funktioniert nicht mehr, so wenig wie die Freundschaft mit Österreich. Dann noch das Spektakel mit dem Brexit. All dies sind nicht nur Hindernisse für den innereuropäischen Verkehr, sondern im Kontext weiterer Faktoren vielleicht auch Momente jener säkularen Krise, die ohnehin in der Luft liegt.
3. Die besondere Konstellation der Arabischen Revolution war auch darin begründet, dass es keinen Weg gab, die Mobilisierung der Bevölkerung in eine Perspektive nachholender Modernisierung zu überführen. Dafür gibt es, im Zeitalter einer epochalen Entwertung der Arbeit und einer zunehmenden Eingebundenheit gesellschaftlicher Entwicklungen in die Zusammenhänge des globalen IT-Kapitals, keine Investoren mehr. Der Wert der Handies im Kontext der Revolution und auch für die Kommunikation innerhalb der sozialen Bewegungen kann kaum hoch genug geschätzt werden, und die kollektive Intelligenz der Migrationen ist nur im Zusammenhang mit den neuen Medien überhaupt begreifbar. Aber zugleich wurde mit diesen Technologien das klassische Kapitalverhältnis gekündigt und jeglicher nachholende „nationale“ Entwicklungsweg abgeschnitten. Zuckerberg nennt das Internet ein Menschenrecht, aber dieses Netz rekurriert auf Standards, die den Menschen im Süden zuallererst ihre Exklusion vor Augen führen, es sei denn sie votieren für eine Beteiligung per Migration.
Der globale Kapitalismus hat für die Masse der Bevölkerungen des globalen Südens keine Perspektive. Es gibt ein Netz der Cluster und zwischen diesen, tendenziell und von Ausnahmen abgesehen, nur Konfliktzonen und Zonen der Extraktion oder des Agrobusiness. Der Wandel der US-Strategie vom Regime Change, wie es die Bushs noch im Sinn hatten, hin zur Erhaltungs-Moderation der Konfliktzonen, was unter Obama als Antiterrorismus formuliert wird, ist paradigmatisch. Die sozialen Aspirationen, die in die Arabische Revolution eingeflossen sind, und das „Non-Movement“, das die Bewegung getragen hat,1 wurden militärisch umzingelt oder sie werden, wie in Syrien, in offenen Kämpfen aufgerieben. Die sozialen und familiären Grundlagen der Reproduktion werden gründlich zerstört. Statt dessen wurde, wie zuvor schon im Irak und in Afghanistan, eine wirre Kaskade von Gewaltprozessen losgetreten. Die Flucht ist der einzige Ausweg. Der IS bietet immerhin eine ganzheitliche Identifikationsbasis und die, abgesehen von der Emigration, einzige Aufstiegschance für die sozialtechnisch orientierte junge Intelligenz der gesamten Region. Die bewaffnete Opposition, die derzeit vom Westen gestützt wird, hat jenseits des bewaffneten Widerstands eigentlich keine Perspektive. Sie hat eine destruktive Funktion und wird im Stich gelassen werden wie derzeit die afghanischen Kombattanten.
4. Das Mittelmeer war solange es Geschichte gibt nicht nur ein Raum der kolonialen Expansion, sondern zugleich immer ein Raum der migrantischen Gegenkultur. Was Linebaugh und Rediker für die Geschichte des Atlantiks beschrieben haben,2 steht für das Mittelmeer noch aus. In Fortsetzung dieser verborgenen Geschichte des Widerstands sehen wir die aktuellen Migrationsbewegungen als eine neue Facette in der Geschichte dieser Kämpfe, in denen den kolonialen und neokolonialen Projekten ein Mittelmeer von unten entgegengesetzt wird. Der Transport der antiken Sklaven transportierte das Wissen, auf dem Europa gegründet ist, so wie die aktuellen Migrationsbewegungen eine neue Begründung der Menschenwürde nach Europa transportieren – jenseits der Verwertungs- und Vernichtungskaskade, aus der sie zu entkommen suchen.
Das neue Mittelmeer wird kein touristisches Ereignis sein, und kein Raum der NATO und der russischen Schwarzmeerflotte, sondern sozialer Raum einer Neugründung eines Europas von unten. In diesem Kontext könnte Griechenland ein neuer Knotenpunkt sein nd was dort zur Zeit geschieht ist vielleicht von wirklich historischer Bedeutung. Bedrängt von der Troika, heimgesucht von Frontex und NATO, beladen mit den Ansprüchen des alten Europa – aus dem Zusammenschluss der gebeutelten Griechinnen und der abgewiesenen und verzweifelten Migrantinnen könnte sich genau das soziale Amalgam ergeben, das für die Erneuerung Europas das wichtigste Ferment sein kann. Auf nach Thessaloniki!
5. Europa am Wendepunkt. Wir haben kein politisches Konzept außer dem, die sozialen Bewegungen, so weit wir sie begreifen können und so gut unser Verständnis und unser Aktionismus sie begleiten können, zu stützen und die Optionen auszuloten. Wir sehen mit Zuversicht, dass sich eine Willkommenskultur im europäischen Zentrum entwickelt hat, welche die neorassistischen und medial inszenierten Gegenbewegungen übertrumpft. Wir hoffen, dass Griechenland, mit Syriza, die Verantwortung erkennt, die es für ein neues Europa tragen muss – ein Europa, das sonst verloren wäre. Das ist die Chance für ein Europa, das nicht vom globalen Kapitalismus kolonisiert und nicht von den Neorassisten deformiert wird. Vielleicht ist Europa ein dritter Weg?
Wir sind keine Politikberater. Das Weltkapital geht in Krise, wenn sich die Spekulationen des globalen IT-Kapitals nicht realisieren lassen (und auch Google weiß noch nicht, wie diese Realisation aussieht). Aber die Menschen, wir, werden da sein. So lange es noch geht, würden wir uns wünschen:
Fähren. Sicherheit für die Überquerung des Mittelmeers. Die Angst vor den „Wirtschaftsflüchtlingen“ ist ein Hirngespinst der Rassisten. Die Mikroökonomie der Migrationen wird ein Gleichgewicht der Migrationen herstellen, sobald die freie Hin- und Rückreise gesichert sind. Denkt an Polen, denkt an Jugoslawien oder an Russland nach 1989. Und die Remittenden sichern den Familien im Süden das Überleben.
Nicht Lager, sondern Hospitality. Niederlassungsfreiheit. Das ergäbe unglaubliche Einsparungen. Was spricht gegen ein Neu-Aleppo in der Nähe von Goslar? Oder Gütersloh? Es wäre eine unglaubliche Bereicherung, gratis, wenn man es nur geschehen ließe.
Nicht Umverteilung, sondern Freizügigkeit. Die EU verteilt nicht die Menschen, sondern Gelder, die den Menschen folgen. Auf einen Schlag wäre die Willkommenskultur finanziert. Sachsen und Polen könnten sich weiter ohne Not abkoppeln und späterhin zum Reservat erklärt werden.
[1] Asef Bayat, Leben als Politik, Assoziation A 2012
[2] Die vielköpfige Hydra, Assoziation A, 2000
Übernommen von Forschungsgesellschaft Flucht und Migration: http://ffm-online.org/2016/02/29/kommentar-europe-in-limbo/#more-37354