Durch die Wannsee-Konferenz der Nationalsozialisten im Januar 1942 verschlimmerte sich die systematische Ermordung von Juden weiter. Es gab aber auch Menschen, die ihren Mitbürgern beim Überleben halfen. Es ist nicht bekannt, wie viele Juden in Leipzig während des Nationalsozialismus durch couragiertes Handeln von nichtjüdischen Bürgern vor der Deportation in ein Todeslager bewahrt und damit gerettet wurden. Die Geschichte der Geretteten und ihrer Retter, den „Stillen Helden“, besteht vor allem aus einzelnen Schicksalen und nur wenige schriftliche Quellen teilen Einzelheiten mit. Im 2. Teil der LVZ-Serie geht es um Johanna Landgraf.
Am 21. Januar 1942 wurden 559 jüdische Frauen, Männer und Kinder aus Leipzig nach Riga deportiert. Es war der erste Transport aus Leipzig, seitdem im Oktober 1941 die Deportationen zur Ermordung der noch in Deutschland lebenden Juden eingesetzt hatten. Die erste Fassung der Transportliste enthielt auch die Namen der 29-Jährigen Käthe Leibel und ihres zweijährigen Sohnes Joachim (Jochen). Die gelernte Kontoristin Leibel arbeitete als Pelznäherin auf dem Brühl in der Großkürschnerei Blükas, der sie als Zwangsarbeiterin zugewiesen war. Der Inhaber Simon Blükas verhinderte ihren Abtransport, indem er sie gegenüber der Gestapo als unentbehrliche Arbeitskraft für kriegswichtige Firmenaufträge reklamierte. Dieser Schutz brachte Käthe Leibel einen Aufschub bis zum Februar 1943. Dann stand ihr Name und der ihres Sohnes erneut auf einer Transportliste. Am 17. Februar sollten die beiden mit über einhundert anderen Leipziger Juden weggeschafft werden. Leibel teilte dies ihrer nichtjüdischen Bekannten Johanna Landgraf mit und sprach davon, dass sie zwar nicht wisse, was sie erwarte, aber die ständige Angst und Einengung, in der sie seit Jahren lebe, kaum noch aushalten könne.
Landgraf, die im Kaufhaus Althoff (heute Karstadt) angestellt war, redete ihr zu, mit dem ihnen bekannten Superior Aurelius Arkenau des St. Albert-Konvents vom Dominikanerkloster in Wahren zu sprechen. Der erste Kontakt zu Arkenau war von Erich Zeigner vermittelt worden, den Landgraf wiederum durch eine gemeinsame Bekannte, die jüdische Sozialdemokratin Regina Boritzer, nach 1933 kennengelernt hatte. Zeigner, markantester Sozialdemokrat Leipzigs in der Weimarer Republik, musste vorsichtig agieren, da er von der Gestapo überwacht wurde. Er tauschte sich regelmäßig mit dem katholischen Geistlichen aus und wusste von einem Schlüsselerlebnis: 1942 hatte Arkenau auf dem Magdeburger Bahnhof beobachtet, wie Gestapoleute Hunde auf Juden hetzten und sie in Waggons hineintrieben.
In jenem Moment entschied Arkenau, Verfolgten zu helfen, so gut es ging. Jetzt bot er Käthe Leibel an, sie und ihren Sohn im Klostergebäude für einige Zeit zu verstecken. Am 16. Februar 1942 begab sich Käthe Leibel mit ihrem Sohn Jochen in den Schutz der Dominikaner. In ihrer Unterkunft auf der zweiten Etage in der Großen Fleischergasse 28 hinterließ sie einen Abschiedsbrief, in dem sie ihren Selbstmord ankündigte. Als die Gestapo bei einer Suchaktion keine Leichen fand, schrieb sie Mutter und Sohn „wegen Entziehung von der Abwanderung“ zur Fahndung aus. Es unterblieb aber eine Vergeltungsaktion unter der jüdischen Bevölkerung wie im Falle der untergetauchten Familie Leopold.
Da auch die Dominikaner von der Gestapo beobachtet wurden, musste aus Sicherheitsgründen ein neues Versteck gefunden werden. Wieder stimmte sich Landgraf mit Zeigner ab. Die mutige Frau konnte die Flüchtigen nicht selbst aufnehmen, da sie mit ihren Eltern zusammen wohnte und eine Ablehnung ihrer Handlung befürchtete. Da sich für Mutter und Kind zusammen eine Bleibe nicht finden ließ, mussten sie getrennt untergebracht werden. Mehrmals wechselten Käthe und Jochen Leibel in den nächsten Monaten die Quartiere, kamen bei Freunden und Bekannten von Johanna Landgraf wie der Familie Hering oder Martha Philipp unter. Zur Erntezeit im Sommer 1943 arbeitete Käthe Leibel bei Verwandten von Landgraf auf einem Bauernhof in Thüringen. Als dann alle Möglichkeiten, die von der Gestapo Gesuchten in einem relativ sicheren Umfeld in Leipzig unterzubringen, erschöpft waren, half wieder Pater Arkenau. Ein in Berlin lebender katholischer Pfarrer übergab die Papiere seines Gemeindemitgliedes Helga Rousseau. Ihre Identität nahm Käthe Leibel an. Arkenau vermittelte ihr mit ihrem Sohn Arbeit und Unterkunft in der Gärtnerei von Edgar und Ernestine Koch in Halle/Saale. Dort blieben sie bis zum Ende des Krieges. Zeigner klärte die wahre Identität der beiden auf und Helga Rousseau wurde wieder zu Käthe Leibel. Sie blieb zunächst in Halle; hier wurde Jochen 1946 eingeschult. Später verließen sie die Sowjetische Besatzungszone.
Über Hilfsaktionen von Pater Arkenau für Verfolgte in der NS-Zeit berichtete Helmut Warmbier in einer 1997 erstmals erschienenen Publikation. Diese gab den Anstoß für Recherchen zur Beteiligung von Landgraf und einer ersten größeren Würdigung anlässlich ihres 95. Geburtstages. Johanna Landgraf starb im Alter von 103 Jahren am 3. Juni 2012.