Im beschaulichen Immenhausen in Nordhessen hat der völkische „Sturmvogel“ ein Winterlager mit Dutzenden Kindern und Jugendlichen durchgeführt. Die konspirativ organisierte Versammlung der frühen Abspaltung der neonazistischen „Wiking-Jugend“ war unter falschem Namen angemeldet worden. Die Polizei ließ sich von den Rechten an der Nase herumführen.
Von Andrea Röpke & Julian Feldmann
Für das Polizeipräsidium Nordhessen war das Ferienlager mit rund 65 Kindern eine harmlose Pfadfinder-Freizeit. Es habe „kein Ferienlager einer rechtsextremistischen Gruppe stattgefunden“, sagt ein Polizeisprecher. Ein anonymer Anrufer habe offensichtlich „ein Gerücht in die Welt gesetzt“, wonach es sich bei den Veranstaltern um eine rechte Vereinigung gehandelt habe. Die Beamten seien der Sache nachgegangen und hätten festgestellt, „alle Anwesenden gehörten einer Pfadfindergruppe an“. Dass unter den angereisten Familien auch einschlägig bekannte Rechtsextremisten waren, ist der Polizei nicht bekannt. Die „Sturmvögel“ konnten offenbar sogar die Polizei täuschen.
Dabei reagierte der „Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder“ am Silvesterabend konsequent auf die vermeintlich unverfängliche „Pfadfindergruppe“. Als „Wandervogel-Gruppe“ hatten sich die Rechten ab dem 27. Dezember im Zentrum der Pfadfinder in Immenhausen (Kreis Kassel) eingemietet. Nachdem die Pfadfinder davon Wind bekamen, dass hinter den Anmeldern der stramm völkisch ausgerichtete „Deutsche Jugendbund Sturmvogel“ steckt, warfen sie die Rechten am Silvestertag von ihrem Gelände. Zuvor waren zur abendlichen Silvesterfeier „Autos einschlägig bekannter Rechtsextremisten“ vorgefahren, so die Pfadfinder. Gegenüber den Pfadfindern gaben die Organisatoren auf Nachfrage zu, dass es sich um ein „Sturmvogel“-Lager handelte.
Der „Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder“ (BdP) wird seit Jahren nicht müde, sich immer wieder öffentlich von neonazistischen und völkischen Gruppen zu distanzieren und nachhaltig Aufklärungsarbeit zu leisten. Dass sich jetzt ausgerechnet der als rechts geltende „Sturmvogel“ im Zentrum des BdP in Hessen einmietete, fasst nicht nur der stellvertretende Bundesvorsitzende Oliver Wunder als Provokation auf. Er sieht darin auch den Versuch, die bewusste politische Abgrenzung zu umgehen und sich als vermeintlich harmlose Gruppe zu etablieren. Zuletzt im Sommer hatten nicht nur ehemalige Aktivisten der verbotenen „Heimattreuen Deutschen Jugend“ (HDJ) ihren Nachwuchs beim „Sturmvogel“ abgeliefert beziehungsweise am Lagerleben in Brandenburg teilgenommen, sondern auch der Schweizer Holocaust-Leugner Bernhard Schaub, der inzwischen in Mecklenburg-Vorpommern lebt, war dabei.
Die Organisatoren des „Sturmvogels“ gehen inzwischen getarnt vor. Als „Wandervogel-Gruppe“ mietete ein Schweizer Zimmermann, der mit seiner Familie nahe Himbergen in der Lüneburger Heide lebt, unter anderem Sippenhäuser, 10er Zimmer, die Selbstversorgerküche sowie den Saal der Pfadfinder für über 3.000 Euro in Immenhausen an. Das Lager in Hessen sollte nach Silvester mit 100 Gästen, darunter vielen Erwachsenen, in einem „Bunten Abend“ mit Fackelzug und Feuerstoß enden. Ganz ähnlich hatte auch die HDJ ihren Nachwuchs betreut. Nicht nur die Veranstaltungen gleichen sich, sondern es gibt eben auch personelle Überschneidungen. Daher, so Oliver Wunder, zählen die „Sturmvögel“ auch zu den Gästen, die „unerwünscht“ sind, da sie unter einem Deckmantel völkische Kinder- und Jugendfreizeiten durchführen.
Auf Uniformen und grüne Kluft mit dem schwarz-weiß-rotem Sturmvogel-Symbol verzichteten die Anführer nach öffentlich gewordenen Berichten ihres Sommerlagers diesmal wohlweislich. Dennoch verrieten Frisuren, altertümliches Outfit und militärisch anmutendes Auftreten die Gruppe, nachdem sie sich am Rande des Reinhardswaldes im Zentrum Pfadfinden in Immenhausen einquartiert hatten. Nach dem Besuch einer Eissporthalle im 15 Kilometer entfernten Kassel mussten sich die Kinder und Jugendlichen wie gewohnt, nach Größe geordnet, in einer Reihe aufstellen, wie antifaschistische Gruppen aus der Region bemerkten. Während der Woche soll es ein „Geländespiel“ im Wald gegeben haben und am Silvestertag trugen die Jungen dann Baumstämme hinter das Anwesen.
Die Küchenarbeit des „Sturmvogel“-Lagers in Immenhausen übernahmen wieder einmal Petra Müller aus Lalendorf (Kreis Rostock) und Ingeborg Godenau. Müller war ehemals in der HDJ aktiv und hatte 2006 den NPD-nahen „Ring Nationaler Frauen“ mitgegründet. Godenau ist eine der bekanntesten rechten Frauen in Hessen, ihr Ehemann engagiert sich in der NPD. Die Familie ihrer ältesten Tochter aus Kalsow bei Wismar beteiligte sich ebenso in Immenhausen, wie eine weitere Familie aus Lalendorf, die seit langem zum „Sturmvogel“ zählen, aber auch über enge Kontakte zur „Artgemeinschaft“ verfügen. Aus Hamburg reiste mit Helga L. eine junge Frau an, die im Umfeld der niedersächsischen NPD-Jugend auftaucht und deren Eltern die Partei in der Hansestadt seit Jahren vertreten. Jüngere Männer mit einem Wagen aus Nordfriesland kontrollierten die Zufahrten. Zu Silvester fuhren Erwachsene aus dem Ilmkreis, aus Boitze bei Uelzen oder aus Bautzen heran.
Kinder und Jugendliche aus den Familien von „Artamanen“, „Artgemeinschafts“-Anhängern und Siedlern aus der Lüneburger Heide haben sich dem verordneten Freizeitprogramm der Eltern zu fügen. Die meisten stammen aus so genannten Sippen, in denen bereits die Großeltern dem Nationalsozialismus anhingen. Ihnen wird früh eingetrichtert, zu einer deutschen Elite zu gehören, Demokratie, Liberalismus und moderne Gesellschaft werden abgelehnt. Häufig heiraten die jungen Leute untereinander und siedeln in Gegenden, in denen sich bereits politische Weggefährten niedergelassen haben.
Die meisten Kinder fallen in Kindergärten und Schulen auf, nicht selten vor allem wegen des auffälligen politischen Verhaltens ihrer Eltern. Sie erleben frühzeitig bewusste, selbst gewählte gesellschaftliche Ausgrenzung. Eine Jugend wie die der anderen wird ihnen verweigert. Werte und Normen bestimmen die politischen Gruppen sowie die eigene „Sippe“. Gehorsam und Anpassung an die eigenen Autoritäten scheint eine der wichtigsten verordneten Tugenden. Das Erscheinungsbild der „Sturmvogel-Gruppe“ erinnert an vergangene Zeiten, nie sind Mädchen ohne Rock zu sehen. Die Hierarchie innerhalb der Gruppe scheint wie eingetrichtert.
In den Lagern des „Sturmvogels“ gelten Dietlind B. und Michael Z. als verlängerter Arm der Eltern. B. entstammt einer Familie von Musikern aus der Nähe von München. Ihre Schwester ist mit dem Anmelder des Winterlagers aus der Lüneburger Heide verheiratet. Die bezopfte Blondine Dietlind wird im Internet als ehrenamtliche Lehrerin für eine umstrittene freie Schule in Salzburg ausgewiesen. Aus dem oberbayrischen Obing stammt der gelernte Landschaftsgärtner Michael Z., der in Würzburg studieren soll. Der junge Mann mit dem scharfen Scheitel möchte anscheinend Gymnasiallehrer für Deutsch und Sport werden. Kurzzeitig engagierte er sich in einer rechten Burschenschaft, schrieb 2009 für das rechtsextreme Magazin „Umwelt & Aktiv“. Ansonsten vermeidet Z. auffälliges Verhalten, man kennt sich auch so im völkischen Milieu.
Nach dem Verbot der HDJ scheuen die „Sturmvögel“ laute Töne. Ihre erwachsenen Mitglieder sind häufig mittelständische Unternehmer, Pädagogen, Heilpraktiker oder Handwerker. Sie gründen eigene politische und gesellschaftliche Parallelwelten, die sie hin und wieder zum Besuch von einschlägigen Veranstaltungen oder regionalen Anti-Asyl-Kundgebungen verlassen. So tauchten in den letzten Monaten einige rechte „Siedler“ aus Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen dort auf. Ansonsten ist vornehmlichstes Ziel das gemeinsame Siedeln und die Einflussnahme politischer Kreise dank alternativer, esoterischer, umweltbezogener Themen.
Diese Strategie der Tarnung gelang beim diesjährigen Winterlager des Sturmvogels in Immenhausen nicht. Als die Pfadfinder von deren Anwesenheit in ihrem Zentrum erfuhren, machten sie umgehend vom Hausrecht Gebrauch und verwiesen die Gruppe noch am Silvesterabend mit Unterstützung der Polizei vom Gelände. Den Kindern wurde wohl nicht erklärt, warum sie „unerwünscht“ waren und die Silvesterfeierlichkeiten andernorts in kleinen Gruppen abhalten mussten. Ein verklärter Opferstatus scheint besser zum „Sturmvogel“ zu passen, als ehrliche Offenheit.
Weniger engagiert gegenüber dem „Sturmvogel“ zeigt sich dagegen das Bundesministerium des Innern in Berlin. Noch während des „Winterlagers“ erhielt die Bundestagsabgeordnete Martina Renner (Die Linke) eine kurz gefasste schriftliche Abfuhr auf 16 detaillierte Fragen zu diesem umtriebigen Jugendbund. Demnach liegen der Behörde keine „hinreichend gewichtigen Erkenntnisse für rechtsextremistische Bestrebungen“ vor. Zu einer möglichen Beeinflussung von Kindern und Jugendlichen durch Neonazis aus verbotenen Gruppen, Rassisten, völkischen Siedlern und sogar Holocaust-Leugnern äußert sich das Ministerium mit keinem Satz. „Das lässt sich nur als Frechheit bezeichnen“, so Renner vor allem im Hinblick auf das aktuelle Winterlager.