Wir haben es schon mal geschafft

Erstveröffentlicht: 
28.12.2015
Deutschland wehrt sich gegen das Etikett „Einwanderungsland“ – dabei hat es eine lange, erfolgreiche Einwanderungsgeschichte

Von Reinhard Urschel

 

Wir schaffen das.“ Bundeskanzlerin Angela Merkel hat es gesagt, und nun steht der Satz wie in Stein gemeißelt. Es ist ein großes Wort im Blick auf die Umstände, die durch die Flüchtlinge in diesem Land entstanden sind. Und ein feines Wort. Wenn man hört, wie ­einer ihrer Vorgänger in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts die Sorgen und Bedenken der einheimischen Bevölkerung vom Tisch wischte, dann wagt man nicht daran zu denken, was hier los wäre, wenn Angela Merkel so reden würde. Angesichts des wachsenden Zustroms an Gastarbeitern in den Sechziger- und Siebzigerjahren hat Helmut Schmidt die Deutschen auf eher rustikale Weise aufgemuntert: „Wir haben die Ruhrpolen verdaut, also werden wir auch die Gastarbeiter verdauen.“

 

In nur drei Worten, „Wir schaffen das“, steckt nun die politische und gesellschaftliche Debatte eines ganzen Jahres. Es handelt sich nicht um irgendeine zufällig aufkeimende Debatte, sondern nach Ansicht vieler Deutscher um ein Phänomen, das uns über Jahre, wenn nicht über Jahrzehnte beschäftigen wird. Nur: Es ist kein Phänomen, das überraschend daherkommt. Und es ist keins, das sich allein am Tagesaktuellen erschließen ließe.

 

Der Zuzug von Flüchtlingen aus aller Herren Länder, die Zuwanderung von Menschen aus fremden Gegenden und Kulturen, hat Deutschland im Verlauf seiner wechselvollen Geschichte nie losgelassen. Ausgerechnet dieses Land, das sich lange gegen das Etikett „Einwanderungsland“ gewehrt hat, kann auf eine lange Einwanderungsgeschichte zurückblicken. Ohne Brüche und Verwerfungen ist das nie abgegangen, auch Selbstbetrug war im Spiel. Auf lange Sicht aber ist es gut gegangen.

 

Die Geschichte mit den Gastarbeitern, die dann doch nicht nur Gäste waren, sondern geblieben sind, wird heute eher zwiespältig gesehen. Die VW-Stadt Wolfsburg kann als Lehrstück dafür herhalten, wie sich Integration von Migranten gestaltet. Die Italiener-Unterkünfte dort galten als vorbildlich, und dennoch bildete sich rasch heraus, was heute als Parallelgesellschaft beschrieben wird: Die Einwanderer blieben weitgehend unter sich.

 

Wer nachfühlen will, woher der Zeitgeist damals wehte, muss sich nur eine beliebige Folge von „Ein Herz und eine Seele“ anschauen. „Ekel“ Alfred, eine der erfolgreichsten Figuren der bundesrepublikanischen Fernsehgeschichte und so etwas wie die Verkörperung von Volkes Stimme, kannte nur zwei Ausdrücke für „die Ausländer“. Sie waren für ihn der Einfachheit halber entweder „Spaghetti“ oder „Kalmücken“.

 

Heute, ein halbes Jahrhundert später, gelten Italiener, Spanier, Griechen und Portugiesen schon wieder als die guten, integrationswilligen und -fähigen Einwanderer. Der Argwohn richtet sich nun gegen die dritte und vierte Generation der Türken und vor allem gegen Araber. Es dürfte spannend sein zu erleben, wie ihr Status gesehen wird in einem weiteren halben Jahrhundert – im Vergleich zu den heutigen Neuankommenden aus dem Nahen und Mittleren Osten.

 

Lassen wir uns, wie so oft in der Geschichte, von der Verklärung blenden, oder wirkt die Assimilation tatsächlich von Generation zu Generation stärker? Es gibt doch Beispiele für gelungene Zuwanderung nach Deutschland, oder? Der Zuzug der Hugenotten, also der Protestanten aus Frankreich im vorrevolutionären Zeitalter, die Aufnahme der evangelischen Böhmen im Preußen Friedrichs  II., die Anwerbung von Polen bei der Industrialisierung des Ruhrgebiets und nicht zuletzt die Integration der Heimatvertriebenen in die (west-)deutsche Nachkriegsgesellschaft gelten gemeinhin als Beispiele gelungener Integration. Bei den Hugenotten dauerte es Jahre, ja Jahrzehnte, bis sie in den deutschen Kleinstaaten der damaligen Zeit einigermaßen erträgliche Lebensumstände fanden. Heute sind Familiennamen wie Lafontaine, Poullain oder de Maizière beinahe ein Ausweis der Zugehörigkeit zur Oberschicht.

 

Und die Ruhrpolen: Ihre Geschichte ist von allen Zuwanderern der vergangenen Jahrhunderte am gründlichsten erforscht, aber das Ergebnis ist eindeutig: Helmut Schmidt hat nicht recht. Die Ruhrpolen wurden keineswegs „verdaut“, sie wurden, um im Bild zu bleiben, erst mal wieder ausgespuckt. Eine halbe Million polnischsprachiger Migranten – einen polnischen Nationalstaat gab es zu der Zeit nicht – ist in der Zeit zwischen den 1870er-Jahren und dem Ersten Weltkrieg in das aufstrebende Industrie­revier zwischen Ruhr und Emscher geströmt. Die Einwanderer wurden in Werks­kolonien angesiedelt, Keimzellen von Parallelgesellschaften. In einigen Zechen und Industriebetrieben stellten die Polen mehr als die Hälfte der Belegschaft, und trotzdem wurden die Ruhrpolen oder die Pollacken, wie man sie damals geringschätzig bezeichnete, auf vielfältige Weise diskriminiert. Im Kaiserreich wurde alles „Nicht-Deutsche“ vom Staat mit großem Argwohn betrachtet. So versuchten Polizei und andere Behörden, den Gebrauch der polnischen Sprache zu verbieten und zu unterdrücken.

 

Als im Zuge der Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg wieder ein polnischer Nationalstaat entstand, kehrten viele der sogenannten Ruhrpolen in ihre Heimat zurück. Geblieben sind vielleicht 40 000 ehemals polnischsprachige Einwanderer – ihre Nachfahren sind jene Tibulskis, Burdenskis, Abramcziks und Schimanskis, die als Fußballspieler oder Fernsehkommissare über die Jahrzehnte bis heute unser Bild vom Ruhrpott prägen.

 

Geblieben sind vor allem die Heimatvertriebenen. Wie stark die Belastung in den Nachkriegsjahren empfunden wurde, lässt sich am Beispiel von Bayern erkennen – schon damals als erstes Durchgangsland stark gefragt. „Die Flüchtlinge müssen hinausgeworfen werden, und die Bauern müssen dabei tatkräftig mithelfen“, ruft ein Redner am Osterfeiertag 1947 auf dem Bauerntag im bayerischen Traunstein – mit großem Presseecho. Der Redner ist Jakob Fischbacher, Mitgründer der Bayernpartei und des Bayerischen Bauernverbands. Ihn treiben der Hass und die Angst vor Überfremdung: Er schimpft über „Blutschande“. Gemeint sind Heiraten zwischen bayerischen Bauernburschen und zugewanderten Frauen – „diese geschminkten Weibsen mit lackierten Fingernägeln“. Es bedienten sich so viele Fremde an den bayerischen Futterkrippen, klagt einige Monate später Fischbachers Parteifreund Andreas Schachner in einem Brief, „dass Pogrome nötig wären, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen“. Hören wir dieselbe Tonlage heute bei den Rednern von Pegida?

 

Die Massenflucht vor der Roten Armee und die anschließende Vertreibung der Deutschen aus Mittel- und Osteuropa brachte bis 1950 rund elf Millionen Flüchtlinge, ein Vielfaches der heutigen Flüchtlingszahlen. In den Bundesländern Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein stieg der Bevölkerungsanteil binnen weniger Monate um ein Viertel an. Anders als heute waren Massenflucht und Vertreibung für die einheimische Bevölkerung mit schweren Belastungen und Einschnitten verbunden. Denn für die Flüchtlinge gab es nicht genug Platz. Wohnungsbeschlagnahme, Einquartierung und andere Zwangsmaßnahmen führten zu schweren Verwerfungen.

 

Verhasst bei vielen, die an ihrem angestammten Ort bleiben konnten, war der „Lastenausgleich“: Die Vertriebenen erhielten Wiedergutmachung für ihr verlorenes Eigentum im Osten – widerwillig bezahlt von der einheimischen Bevölkerung, die oft selbst schwere wirtschaftliche Verluste erlitten hatte. Die Zahler mussten die Hälfte ihres Vermögens abgeben, gestreckt über dreißig Jahre.

 

Doch trotz der katastrophalen Voraussetzungen gelang die Integration – sehr viel besser, als notleidende Bürger und Politiker das in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu hoffen wagten. Ein ganz wesentliches Element war naturgemäß, dass die damaligen Flüchtlinge und Vertriebenen ungeachtet aller Anfeindungen und Diskriminierung Deutsche waren und über ein vergleichbares, in vielen Fällen sogar höheres Bildungsniveau verfügten als die Einheimischen. Der Boom der Fünfzigerjahre erleichterte die Integration ganz ungemein. Durch Umverteilung von Vermögen wurde es den Vertriebenen ermöglicht, eine neue Existenz aufzubauen. Gleichwohl gab es viele, die vom Verlust der Heimat sowie von Flucht und Vertreibung traumatisiert waren und nie wieder auf die Füße gekommen sind.

 

Als Lehrstück taugen die harten staatlichen Maßnahmen von damals gewiss nicht. Wohnungsbeschlagnahmungen und fünfzigprozentige Vermögensabgabe sind undenkbar. Doch sind die Ausgangsvoraussetzungen heute um ein Vielfaches günstiger als 1945. Die erfolgreiche Integration der Vertriebenen zeigt aber zumindest, dass auch zunächst ganz unmöglich erscheinende Aufgaben gemeistert werden können. Die Kanzlerin hat ja gesagt, „wir schaffen das“. Der Berliner Historiker Paul Nolte hat den Satz notwendigerweise ergänzt. „Ja“, sagt er, „mit dem Kopf können wir das wohl schaffen, aber wir müssen es auch mit den praktischen Herausforderungen schaffen.“

 


 

Vom Gastarbeiter zum Ehrenbürger

 

Rocco Artale schaut auf die Bronzestatue, die einen Mann mit Koffer darstellt. „Ein Denkmal für die Italiener, die in den Sechzigerjahren in Wolfsburg angekommen sind“, erklärt er. Der 75-Jährige gehörte dazu. „Ich war der 344. Gastarbeiter, der bei Volkswagen anfing.“ Mit 20 Jahren hat er seine bitterarme Heimat verlassen, um in Deutschland Geld zu verdienen – ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. „Ich wollte zwei Jahre bleiben“, sagt er. Nun sind es 53. Und Rocco Artale ist Ehrenbürger der VW-Stadt.

 

Die Reise begann im März 1961. Von Pescara wurde er zunächst nach Groß Munzel bei Hannover geschickt, um in einer Zuckerfabrik zu arbeiten. Triste neun Monate lang. Als Volkswagen Ende 1961 beschloss, Gastarbeiter zu holen, wollte Artale umziehen, doch er musste zurück nach Italien – seine Arbeitserlaubnis war abgelaufen. Im März 1962 klappte es dann. „Die zweite Auswanderung war einfacher. Ich wusste, was mich erwartet, und ich hatte Deutschkenntnisse.“ In Wolfsburg lebten die Italiener „in zweistöckige Baracken, mit Zimmern für vier Personen. Privatsphäre gab es kaum“, erzählt Artale. Umso wohler fühlte er sich im Betrieb. „Wir wurden sofort in die Produktionsstätte integriert. Es gab viele Dolmetscher, wir haben mit Deutschen zusammengearbeitet und waren gleichberechtigt.“ Für Integration sei Arbeiten unabdingbar.

 

Die Bevölkerung aber war nicht auf 4000 Fremde vorbereitet. „Wir waren ‚zu viele‘, wurden ‚Spaghettifresser‘ genannt und hatten in vielen Discos keinen Zutritt.“ Rocco Artale hat selbst die Initiative ergriffen. „Ich habe Deutschkurse in Braunschweig belegt. Sprache und Bildung sind die Schlüssel zur Integration“, meint er. „Schließlich setzte VW mich als Dolmetscher ein.“ 1963 lernte er seine Frau kennen, ein Jahr später heirateten sie und der Gastarbeiter zog aus der VW-Unterkunft aus. 1974 verließ er auch das Werk und arbeitete fortan als Gewerkschaftssekretär bei der IG Metall, wo er sich um die Bedürfnisse der ausländischen VW-Mitarbeiter kümmerte. Volkswagen habe es geschafft, seine deutschen und ausländischen Mitarbeiter zu vereinen. „Der erste italienische Betriebsrat wurde 1966 bei VW gewählt“, lobt Artale. Später glückte auch die Integration in der Stadt. Ein Ratsausschuss, an dem Artale sich als Bürgervertreter beteiligte, beschäftigte sich intensiv mit den Zuwanderern, eine bilinguale Schule und Kindergärten wurden gegründet. „Wir haben unser Schicksal in die Hand genommen, uns am Alltag beteiligt. Die Wolfsburger haben gemerkt, dass wir Teil der Gesellschaft sind.“ Katharina Ahlers