"Wir werden es wieder tun" - Charta der Streikenden

Sozialstreik-Demo in Napoli, 14. November 2014

(Anm. d. Übersetzerin: Im Zuge des italienischen "sciopero sociale" vom November 2014 ist es europaweit zu Diskussionen über einen "transnationalen Sozialstreik" gekommen. Im Folgenden ein Pamphlet von italienischen GenossInnen, die für eine neue Art des Streikens plädieren.)

-- CHARTA DER STREIKENDEN --

 

Wir sind die Streikenden: Wir sind die Prekären, die MigrantInnen, die IndustriearbeiterInnen, die Studierenden, die am 14. November 2014 zusammen in Streik getreten sind und so die Spaltungen, die unsere gemeinsame prekäre Lage produzieren, herausgefordert haben.

 

Wir sind jene, die im Stundenlohn auf Abruf arbeiten, wir sind die ArbeiterInnen, die tatsächlich untergeordnet sind, obwohl wir als „Selbständige“ oder als „Arbeitspartner“ einer kollektiven Unternehmung gelabelt werden. Wir sind die „Internen“, die „VolontärInnen“, die „Lehrlinge“ und die StudentInnen, die gratis arbeiten und hoffen, in der Zukunft einen Lohn zu erhalten. Wir sind die neue Generation von autonomen ArbeiterInnen, verarmt, ohne wohlfahrtsstaatliche Leistungen und getroffen von der unfairen Besteuerung. Wir haben eine Aufenthaltsgenehmigung in unseren Taschen, die erneuert wird als Gegenleistung für unsere Ausbeutung. Wir sind die ArbeiterInnen ohne Rechte, mit tiefen Löhnen, mit kaum Zugang zu staatlichen Leistungen. Wir sind prekäre ArbeiterInnen, auch wenn wir einen festen Arbeitsvertrag haben. Der Sozialstreik ist die Kampfansage, die uns vereint hat gegen jene, die von unserer Prekarität profitieren: Wir haben es einmal getan und wir werden es wieder tun.

 

Wir sind die Streikenden: Wir glauben denen nicht, die uns sagen, die Krise sei vorbei und die Wirtschaft erhole sich. Die europäischen Austeritätspolitiken sind unsere neue Normalität. In Italien nennen sie diese Massnahmen „Jobs Act“, „Sblocca Italia“, Jugendgarantie, „Buona Scuola“ und „Buona Università“, aber für uns bedeuten sie nur eines: Prekarität. Wir akzeptieren nicht, dass Europa und seine Staaten uns die Türen verschliessen, wenn wir nicht mehr „verwertbar“ sind, und dass sie uns „Wohlfahrtstouristen“ oder „Illegale“ nennen. Mit den Krümeln, die sie uns überlassen, sind wir nicht zufrieden, wir verlangen viel mehr. Wir wissen, dass wir neue, zeitgemässe Werkzeuge brauchen, um unsere Kämpfe zu vereinen und uns selbst zu organisieren. Wir wissen, was wir wollen: Ein Grundeinkommen und eine Grundversorgung („welfare“ im Original), einen Mindestlohn und die bedingungslose Aufenthaltserlaubnis. Nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa, weil wenn die Prekarität die Grenzen überschreitet, müssen das unsere Kämpfe auch tun.

 

Wir sind die Streikenden, wir sind durch den Streik definiert, nicht durch die Prekarität: Ein Streik auch für jene, die nicht streiken können, für jene, die neue Werkzeuge erfinden müssen, um sich zu organisieren. Aus diesem Grund wollen wir das Grundeinkommen und eine europaweite Grundversorgung. Jede Kürzung der öffentlichen Ausgaben im Namen des Budgetausgleichs macht uns ärmer und produziert neue Prekarität, zwingt uns zur Erbringung von Dienstleistungen zu immer tieferen Löhnen, die alleine der Markt bestimmt. Jede Steuererleichterung für Unternehmen, jede Verteuerung der Sozialleistungen, jede neue Finanzierung einer Megabaustelle ist eine Attacke gegen unsere Rechte und unsere Leben. Wir produzieren Wohlstand und wir wollen nicht arm sein. Deshalb fordern wir das Recht auf Wohlfahrt („welfare“) und auf ein bedingungsloses Grundeinkommen in allen Teilen Europas. Bedingungslos deshalb, weil wir nicht bereit sind, jegliche Arbeitsbedingungen und jeden Lohn zu akzeptieren, nur um jenen zu erhalten. Bedingungslos, weil es somit unabhängig der Staatsbürgerschaft ist: Wir wollen nicht, dass die MigrantInnen den Preis dafür zu zahlen haben. Diese Kosten müssen von jenen bezahlt werden, die Profite aus unserer Prekarität schlagen.

 

Wir sind die Streikenden: Der Streik ist unsere Waffe gegen die Erpressung des Lohnes. Aus diesem Grund wollen wir einen europäischen Mindestlohn. Wir haben es satt, immer wenn wir rebellieren, grossen oder kleinen Bossen zuzuschauen, wie sie die Produktion nach Polen oder Rumänien auslagern. Wir sind es leid, durch WerkvertragsarbeiterInnen ersetzt zu werden, weil ein/e ArbeiterIn einer Temporäragentur („socio lavoratore“ im Original) weniger kostet als ein/e Festangestellte/r. Wir wollen die Kämpfe all jener Männer und Frauen vereinen, die in jedem Teil Europas mit der selben Ausbeutungskette verbunden sind, auch wenn sie verschiedene Arbeitsverträge und unterschiedliche Papiere in ihren Taschen tragen.

 

Wir sind die Streikenden: Unser Streik kennt keine Grenzen. Deshalb wollen wir eine bedingungslose europäische Aufenthaltserlaubnis. Wir haben eine Aufenthaltserlaubnis in unserer Tasche und wir müssen jeden erdenklichen Job und jeden Lohn akzeptieren, nur um diese Aufenthaltserlaubnis zu behalten. Wir müssen diese Erpressung täglich erdulden und bezahlen unsere „Bürgerschaft“ mit dem Preis der Ausbeutung. Wenn wir unseren Job verlieren, werden wir ausgeschafft, auch wenn wir den Grossteil des europäischen Wohlstands produzieren. Wir MigrantInnen werden mit der Kampferfahrung, die wir in ganz Europa und in Italien gesammelt haben, weiterkämpfen, um nicht die Flüchtlinge des europäischen Arbeitsmarktes zu werden.

 

Wir sind die Streikenden: Wir wissen, dass wir den Streik auch ausserhalb unserer Arbeitsplätze brauchen. Das ist der Grund, warum wir uns im Projekt eines neuen Sozialstreiks engagieren. Unser Streik ist sozial, weil er nicht durch den existierenden Aktivismus oder die Gewerkschaftsarbeit begrenzt ist, weil er innerhalb und ausserhalb der Arbeitsplätze stattfindet, weil er die Formen der Organisierung neu denkt mit dem Zweck die sozialen und politischen Bedingungen der Ausbeutung anzugreifen. Wir denken den Streik auch als einen Prozess, der alte und neue Subjektivitäten neu definiert, als ein Werkzeug, das fähig ist, Produktion und soziale Reproduktion zu beeinflussen. Dieses Projekt leitet unsere Kämpfe: Alle Erfahrungen des sozialen Syndikalismus, der Solidarität und des Mutualismus, den wir täglich praktizieren, all die Kämpfe für das Bleiberecht, alle territorialen Kampagnen für ein Grundeinkommen, alle Dispute über den Lohn zielen in diese Richtung. Unsere Forderungen müssen Waffen sein für all jene Frauen und Männer, welche die Prekarität jeden Tag am eigenen Leib erfahren. Wir sind die Streikenden: Wir wissen, dass das Einzige, was wir verlieren können, unsere Prekarität ist. Deshalb nehmen wir - in Italien und ganz Europa - diese Herausforderung mit all jenen an, die den transnationalen Sozialstreik aufbauen wollen. Wir haben es einmal getan, wir werden es wieder tun.

 

 

english version:

http://www.connessioniprecarie.org/2015/12/08/strikers-charter/

 

italienisches Original:

http://blog.scioperosociale.it/carta-degli-strikers/

 

mehr Infos:

http://www.transnational-strike.info/