Bombenangriff auf eine syrische Basis

Erstveröffentlicht: 
08.12.2015

Von Arnold Hottinger, 08.12.2015 Taktischer Fehler von Seiten der Koalition oder der Russen? Zum ersten Mal erfolgte - offenbar irrtümlicherweise - die Bombardierung syrischer Armeeeinheiten in Syrien. Ein Irrtum der Amerikaner oder der Russen, dem weitere Irrtümer folgen könnten.

 

Dementi des Koalitionssprechers

 

Die syrische Regierung verurteilt in scharfen Tönen einen Luftangriff der amerikanischen Koalition auf syrische Militärs in Deir az-Zor am Euphrat. Der Sprecher der syrischen Luftwaffe, der dies bekannt gab, nannte den genauen Ort nicht. Doch die "Beobachtungsstelle für die Bewahrung der Menschenrechte in Syrien", die in London beheimatet ist und mit der Hilfe von lokalen Mitarbeitern in Syrien arbeitet, will wissen, dass es sich um den syrischen Militärflugplatz "al-Saeqa" bei dem Dorf Ayyasch, nah bei Deir az-Zor gelegen, gehandelt habe.

 

Ein offizieller Sprecher der westlichen Koalition, Oberst Steve Warren, hat dementiert, dass ein derartiger Angriff von Seiten der Koalition stattgefunden habe. Er sagte, keinerlei Luftschläge seien in der Umgebung der Stadt Deir az-Zor durchgeführt worden. Die einzige Operation zu dem angegebenen Zeitpunkt am Sonntagabend in der Provinz Deir az-Zor habe über dem Ölfeld von Omari etwa 55 Kilometer südlich der Stadt Deir az-Zor stattgefunden.

 

Der letzte Halt der Armee Asads

 

Die Gesamtlage in Stadt und Provinz Deir az-Zor ist die folgende: Es gibt nur einen Punkt, in dem sich die pro-Asad-Kräfte seit Ausbruch des Bürgerkrieges halten konnten. Dies ist der erwähnte Militärflugplatz, as-Saeqa, bei dem Dorf Ayyasch, am nördlichen Rand der Stadt Deir az-Zor. Die Hauptstadt, die Dörfer sowie die übrigen Gebiete dominiert ebenfalls der IS.

 

Der IS hat mehrfach versucht, die Luftwaffenbasis zu stürmen, doch ohne Erfolg. Zwischen zwei Offensiven begnügen die IS-Kämpfer sich damit, die Basis "zu belagern", das heisst umzingelt zu halten, so dass sie nur durch Militärflugzeuge und Helikopter mit der Aussenwelt und damit auch mit Damaskus in Verbindung steht. Die Linien zwischen den Verteidigern der Basis und den sie belagernden IS-Kämpfern sollen etwa zwei Kilometer voneinander entfernt sein. Die Kämpfe zwischen dem IS und den Soldaten der syrischen Armee waren in den letzten Tagen wieder aufgeflammt.

 

Ein Angriff, schwerlich erfunden

 

Trotz der Dementis der Koalitionsführung ist es denkbar, dass Kampfflugzeuge der Koalition - oder auch solche der Russen – versuchten, den IS anzugreifen, und stattdessen die syrischen Truppen bombardierten. Sollten es wirklich die Russen gewesen sein, die diesen Fehler begingen, besteht natürlich ein starkes Interesse für die syrische Kriegspropaganda, ihn ihren Feinden, der amerikanischen Koalition, in die Schuhe zu schieben.

 

Doch es hätte natürlich auch die Möglichkeit gegeben, einen derartigen Fehlgriff durch die russischen Verbündeten einfach zu verschweigen. Deshalb ist es auch denkbar, dass die Aussagen des syrischen Sprechers den Tatsachen entsprechen und der Fehler in der Tat und trotz des Dementis aus Amerika den Kampfflugzeugen der Koalition zuzuschreiben wäre. Dies ist die Ansicht der Beobachtergruppe, die von "mutmasslichen Koalitionsflugzeugen" spricht.

 

Heimliche Zeugen im Kampfgelände

 

Die Menschenrechtsbeobachtungsgruppe, die in London ihr Arbeitszentrum hat, gilt als alles andere als pro-Asad. Sie unterstreicht stets ihre Neutralität, doch sehr viele der Informationen, die sie ausgibt, sind solche, die der syrischen Staatspropaganda widersprechen und Gräueltaten der syrischen Sicherheitdienste dokumentieren.

 

Die Beobachtungsstelle räumt ein, dass die Identifikation der Flugzeuge, von deren Aktionen sie spricht, auf Beobachtungen ihrer heimlichen Mitarbeiter im Gelände beruht. Diese können wegen der Geschwindigkeit, mit der die Angriffe ablaufen, unzuverlässig sein. Auch wegen des Umstandes, dass die Angriffe oft in der Nacht mit Hilfe von Nachtsichtgeräten durchgeführt werden, können die Feststellungen der Beobachter auf blosse Vermutungen zurückgehen, die zum Beispiel auf den Motorgeräuschen beruhen, durch die sich die Kampfflugzeuge manchmal voneinander unterscheiden lassen.

 

Erstmals Anschuldigungen aus Damaskus

 

Die Beschuldigungen der Behörden von Damaskus sind sehr präzise. Sie sprechen davon, dass am Sonntagabend neun Raketen abgefeuert worden seien. Sie hätten vier Militärfahrzeuge zerstört, drei Soldaten getötet und 13 verwundet. (Die erwähnte Beobachtungsstelle nennt vier Todesopfer unter den syrischen Soldaten.) Die syrische Regierung hat den Sicherheitsrat der Uno angerufen. Sie spricht von "flagranter Aggression" und fordert ein "eiliges Eingreifen, um zu verhindern, dass sie sich wiederholt."

 

Den syrischen Anschuldigungen steht das Dementi des Sprechers der Koalition entgegen. Man kann unter den gegeben Umständen von drei Möglichkeiten ausgehen. Entweder handelte es sich um einen Fehler von Piloten der amerikanischen Koalition oder um einen der russischen Kampfflugzeuge, oder der Angriff hat überhaupt nicht stattgefunden, und die syrische Propaganda hätte ihn erfunden. Die dritte Möglichkeit ist die unwahrscheinlichste.

 

Der erste Zusammenstoss mit der syrischen Armee

 

Ob die erste oder die zweite Möglichkeit eher zutrifft, kann man offen lassen. Jedenfalls ist festzuhalten: Es handelt sich um das erste Mal, dass syrische Offizielle erklären, ihre Soldaten seien von Koalitionsflugzeugen der Koalition angegriffen worden. Dies, obwohl die Bombardierungen in Syrien seit September 2014 andauern und inzwischen Tausende von Bombenflügen stattgefunden haben.

 

Die Anklage kommt in einem Zeitpunkt, in dem die Koalition beschlossen hat, ihre Aktionen zu verschärfen. Englische Kampfflugzeuge sind seit kurzer Zeit an den Bombardierungen in Syrien beteiligt, und der französische Präsident hat nach den Anschlägen von Paris Vergeltung geschworen und die französischen Bombardements verstärkt.

 

Die letzten Enklaven

 

Die Amerikaner kündigten an, dass sie ihre Aktionen gegen den IS verschärfen wollten. Raqqa und Deir az-Zor sind Orte, an denen sowohl die Russen wie die westliche Koalition und auch die syrische Luftwaffe in der letzten Novemberwoche Luftangriffe durchführten, die sich gegen den IS richteten.

 

In den Wochen zuvor hatten die Russen ihre Schläge auf die Gebiete rund um die Provinz Lattakiya konzentriert, weil diese Gefahr lief, von Rebellengruppen angegriffen zu werden, was die stärkste Gefährdung des Asad-Regimes darstellte. In den späteren Wochen hatten die Russen ihre Angriffe mehr auf die östlichen Gebiete am Euphrat ausgedehnt, die vom IS beherrscht werden. In diesen Gebieten liegt auch die Hauptaktivität der Koalitionsflugzeuge.

 

Die Luftwaffenbasis bei Ayyasch war eine der letzten Enklaven am Euphrat, die sich noch in Besitz der Regierung befanden. Sie dürfte aus diesem Grund ein bevorzugtes Ziel für Angriffe durch den IS gewesen sein - und bleiben. Denn sie bildet die letzten grössere Basis des Regimes in den mesopotamischen Ostgebieten Syriens, die man al-Dschezira, die Insel (zwischen Euphrat und Tigris), nennt.

 

Feinde und die Freunde sind nicht die gleichen

 

Offiziell gibt es keine Absprachen zwischen der amerikanischen Koalition und der syrischen sowie der russischen Luftwaffe. Dennoch ist es bisher nicht zu Zusammenstössen zwischen den drei Luftwaffen gekommen, die auf engstem Raum agieren und sowohl gemeinsame Feinde haben, nämlich den IS und - weniger deutlich – al-Nusra, wie auch Feinde unter den Freunden der Gegenseite.

 

Feinde wären alle Widerstandskämpfer für Damaskus und Moskau, aber für die amerikanische Koalition nur der IS und al-Nusra (plus al-Nusras Verbündete in bestimmten Fällen). - Oder, schliesslich, bloss der IS, weniger al-Nusra und Verbündete für den saudischen und Golfflügel der Koalition. Wozu noch die syrischen Kurden kommen, die oftmals im Waffenstillstand mit Damaskus stehen, aber energische Kämpfer gegen den IS sind und dabei Luftunterstützung der Koalition erhalten.

 

Keine Koordination aber "Regeln"

 

Obwohl keine offizielle Koordination besteht, haben die drei Luftwaffen offenbar doch gewisse Regeln aufgestellt, um zu vermeiden, dass ihre Flugzeuge einander beschiessen. Zu diesen Regeln gehörte bisher auch, dass die Amerikaner und ihre Freunde vermieden, Truppen der syrischen Armee anzugreifen. Was für die syrische Luftwaffe galt, war auch für die syrische Landarmee gültig. Falls die Version von Damaskus zutrifft, wäre diese Konvention nun gebrochen worden. Das geschah eher auf Grund eines Fehlers als auf Grund eines beabsichtigten Bruchs der bisher geltenden Regeln. Denn die syrische Version spricht davon, dass die Vorfälle die Unfähigkeit der Koalitionsflugzeuge zeigten, die taktische Lage in Deir az-Zor zu verstehen.

 

Gefahr der Eskalation

 

Wenn es sich wirklich um einen Fehler handelte - der Russen oder der Koalition - zeigt dieser jedenfalls deutlich die Gefahren auf, die bis jetzt vermieden werden konnten, von denen jedoch nicht zu erwarten ist, dass sie immer vermeidbar wären. In Syrien findet eine Gratwanderung statt, die jederzeit zu einem Absturz führen kann. Die wachsenden Spannungen um - und Eingriffe in - den syrischen Bürgerkrieg bei einem allzu dünnfädigen Sicherheitsnetz lassen befürchten, dass die äusseren Mächte, die in Syrien auf unterschiedlichen Seiten kämpfen, nicht immer werden vermeiden können, sich gegenseitig in kriegerische Verwicklungen zu verstricken.