Damals wie heute: Nicht wegschauen!

Erstveröffentlicht: 
10.11.2015

Leipziger gedenken Opfer der Pogromnacht und warnen vor pogromartiger Stimmung gegen Flüchtlinge


VON MATHIAS ORBECK

 

Leipzig. Vielen Hunderten Leipzigern war es gestern Abend ein Bedürfnis, zur Gottschedstraße zu kommen. An der Gedenkstätte erinnerten sie an das Pogrom vom 9./10. November 1938. Vor 77 Jahren wurden auch in Leipzig jüdische Mitbürger verhaftet, ihre Geschäfte geplündert, die Synagogen in Brand gesteckt – ein Sturm der Gewalt brach aus. „Geschichte wiederholt sich nicht – außer in den Köpfen derer, die von Geschichte nichts wissen oder nichts wissen wollen. Sonst würde ihnen auffallen, dass Denk- und Verhaltensmuster im Umlauf sind, die wir in unserem Land für überwunden gehalten haben“, sagte Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) mit Blick auf die Flüchtlingskrise. Gemeinsam mit Küf Kaufmann, dem Vorsitzenden der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig, und Prof. Cornelius Weiss, Schirmherr der Gedenkaktion „Mahnwache und Stolpersteine putzen“, erinnerte Jung daran, dass nach dem Holocaust von einst 13000 nur noch 24 jüdische Mitbürger in Leipzig lebten. Heute hat die Gemeinde mehr als 1300 Mitglieder.

 

Der Pfarrer i. R. Christian Wolff, aber Studenteninitiativen und andere Vereine, hatten zur Teilnahme am Gedenken aufgerufen. „Menschen sind plötzlich, weil sie ausgrenzen wollen, zu allem bereit – das zeigt sich beim Terror gegen Flüchtlingsheime“, zieht er Parallelen zu aktuellen Ereignissen. Denn heute brennen wieder Flüchtlingsheime, werden Menschen auf offener Straße attackiert. Menschenfeindliche Bewegungen wie Pegida oder Legida würden diesem Hass Vorschub leisten. Viele können daher nicht verstehen, dass am 9. November eine Kundgebung genehmigt wird. „Jede Aktivität von Rechtsextremisten und Ausländerfeinden muss an so einem Tag unterbunden werden“, so Frank Kimmerle vom Erich-Zeigner-Haus-Verein. „Demonstrationsrecht ist ein hohes Gut in unserem Land. Wenigstens dürfen sie nicht laufen“, so Rathauschef Jung. Küf Kaumann sagte, dass vor vier Tagen ein Hakenkreuz an den Eingang des Gemeindezentrums geschmiert wurde. Er warnte ebenfalls vor „importiertem Antisemitismus“, da jüdische Hetze auch in Herkunftsländern der Flüchtlinge verbreitet ist.

 

Vor der Gedenkfeier gab es gestern ein Friedensgebet in der Nikolaikirche. Dort predigte Andreas Cerny und forderte, Nein zu Gewalt und Hass sowie zu Hetze in den sozialen Netzwerken zu sagen. „Damals wie heute: Nicht wegschauen!“, sagte er. Ein Kerzenweg führte die Friedensgebet-Besucher zum Gedenkort Gottschedstraße. Am Nachmittag wurden in Leipzig 309 Stolpersteine an 135 Orten geputzt. Das sind in den Gehweg eingelassene Messingplatten. Sie erinnern an ehemalige Bewohner, die verfolgt und deportiert worden sind. Unscheinbar neben der Haltestelle am Dittrichring 13 ist ein Stolperstein der Familie Frankenthal gewidmet. Vom Operationstisch weg wurde der Arzt Günther Frankenthal am 10. November 1938 – gemeinsam mit über 500 weiteren Leipziger jüdischen Gefangenen – ins KZ Buchenwald verschleppt.