Die kranke Karte

Erstveröffentlicht: 
23.10.2015
Kaum Daten, kaum Funktionen: Der elektronische Patientenausweis wird zum Fiasko – nun droht Minister Gröhe mit Sanktionen
Von Jörg Köpke

 

Berlin. Es könnte so einfach sein. Nach dem Beinbruch im Skiurlaub bekommt der Orthopäde das Röntgenbild aus den Alpen frei Haus zur Ansicht – innerhalb von Minuten. Noch an der Unfallstelle auf der Autobahn weiß der Notarzt mit einem Blick, welche Blutgruppe der Schwerverletzte hat, ob er im Falle seines Ablebens bereit wäre, Organe zu spenden. 20 000 Tote weniger könnte es jedes Jahr geben, wenn Apotheker zuverlässige Informationen über unverträgliche Medikamente hätten. Es könnte so einfach sein ...

 

Die intelligente Gesundheitskarte sollte alle notwendigen Daten auf einen Blick liefern. Sie sollte Leben retten und den Alltag von Patienten wie Ärzten erleichtern. Den 1. Januar 2006 hat das Sozialgesetzbuch als spätesten Starttermin für die kluge Karte verbindlich vorgeschrieben – zehn Jahre später gibt es sie immer noch nicht. So gut wie alles, was diese Chipkarte für Krankenversicherte wirklich nützlich machen könnte, fehlt. Das ehrgeizige Milliardenprojekt droht zum finanziellen, technischen und politischen Fiasko zu werden, das die Kinderkrankheiten der Lkw-Maut in den Schatten stellt.

 

Karl-Josef Laumann (CDU), Patientenbeauftragter der Bundesregierung, schlägt deshalb jetzt Alarm. „Man hat bereits eine Milliarde Euro für die Entwicklung der Gesundheitskarte ausgegeben. Der Großteil davon ist weg. Durch diverse Machenschaften ist sehr viel Geld der Versicherten versenkt worden“, sagte Laumann dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), dem diese Zeitung angehört.

 

Diverse Machenschaften? Geld versenkt? Solche Vorwürfe sind selbst aus dem Munde des rauflustigen Staatssekretärs, der für klare Aussagen bekannt ist, selten. Wen meint der oberste Interessenwächter von mehr als 70 Millionen Krankenversicherten damit?

 

Seit nunmehr 15 Jahren quälen sich diverse Bundesregierungen mit der Einführung einer Gesundheitskarte, die ihren Namen tatsächlich verdient. Alles sieht danach aus, dass auch Hermann Gröhe (CDU) als nunmehr vierter verantwortlicher Bundesgesundheitsminister nicht einmal ansatzweise etwas bewegen können wird. Genau das lässt Laumann jetzt zur verbalen Keule greifen – solange „das Eisen noch glüht“, wie er betont.

 

Obwohl niemand daran zweifelt, dass Gröhe das E-Health-Gesetz in diesem Herbst erfolgreich durch den Bundestag bringen wird, steht es offenbar schlecht um das ambitionierte Vorhaben. Von einem „schlimmen Trauerspiel“ spricht Laumann. Vor allem Ärzte seien nicht daran interessiert, ihre Arbeit transparent zu machen und der Gesundheitskarte zum Erfolg zu verhelfen. Genau die Ärzte, die das Projekt federführend in der Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH (Gematik) kontrollieren und koordinieren müssten. Vor allem sie entscheiden darüber, wann und an wen wie viel Geld fließt. Insgesamt 260 Spezialisten, die inzwischen mehr als 200 Millionen Euro Honorar kassiert haben, arbeiten für die Gematik – „ein Treppenwitz“, wie ein Insider anmerkt.

 

Ärztekammern und Kassenärztliche Bundesvereinigung sollen ein Instrument mitentwickeln, das sie im Grunde ablehnen. Das Ergebnis: Mitte 2016 werden die Patienten laut Gesundheitsministerium eine Karte in den Händen halten, auf der nach wie vor nicht viel mehr zu finden sein wird als ein Passfoto und eine Versichertennummer. Kein elektronisches Rezept. Kein Medikamentenpass. Nicht einmal ein Notfallpass, der Ärzten helfen könnte, schneller als bisher lebensrettende Informationen zu erhalten. Gröhe schätzt, dass in Deutschland jedes Jahr mehr Menschen an unerwünschten Arzneimittelwirkungen sterben als im Straßenverkehr.

 

Dennoch hat das Gesundheitsministerium vor den Lobbyverbänden offenbar längst kapituliert. Alles auf einmal umzusetzen „wäre zum Scheitern verurteilt“, heißt es hinter vorgehaltener Hand. Der Minister hat bereits einen mutmaßlichen weiteren Schuldigen ausgemacht: die Industrie.

 

In einem internen Schreiben an die Regierungsfraktionen von Union und SPD, das dieser Zeitung vorliegt, droht Gröhe der Selbstverwaltung – Ärzten, Apothekern und Krankenhäusern – zwar Sanktionen an für den Fall, dass sie nicht pünktlich zuarbeiten („Wer blockiert, zahlt.“). Doch weiter heißt es: Es sei „auch an der Industrie des Hightech-Standortes Deutschland, in diesem Projekt die eigene Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen“. Und in einem Brief an die verantwortlichen Konzerne schreibt er: „Letztlich muss auch geliefert werden.“

 

Für Harald Terpe, Gesundheitsexperte der Grünen-Bundestagsfraktion, kommen diese Aussagen nicht überraschend. Geld sei in der Selbstverwaltung „versandet“. Insbesondere die Ärzte, die keine Transparenz wollten, hätten geblockt. Es sei viel Geld an die Industrie geflossen, ohne einen erkennbaren Erfolg zu sehen. Auch Terpe vergleicht die drohenden Aussetzer der Gesundheitskarte mit den Kinderkrankheiten der Lkw-Maut. 2003 habe Toll Collect nicht pünktlich liefern können. Jetzt seien es Telekom und Compu Group, denen ein Super-GAU mit der Gesundheitskarte drohe. Ohne Medikamentenpass und elektronisches Rezept sei die Karte kaum etwas wert.

 

Wie berichtet, rechnet die Industrie damit, dass im Zuge der digitalen Vernetzung von Ärzten, Kliniken und Apotheken ab Mitte 2016 sämtliche Kartenlesegeräte der rund 200 000 niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten ausgetauscht werden müssen. Kosten: nochmals fast 100 Millionen Euro. Hintergrund sind Bedenken des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Demnach hat sich herausgestellt, dass die bisherigen Lesegeräte nicht ausreichend vor dem Zugriff Unbefugter geschützt sind. Am vergangenen Donnerstag gab es nach RND-Informationen ein Krisentreffen im Gesundheitsministerium. Gröhe rechnet offenbar nicht mehr damit, dass sich der 1. Juli 2016 als Ausgabedatum der neuen Karte halten lässt. Schuld habe vor allem die Telekom.

 

Maria Klein-Schmeink (Grüne), Mitglied im Gesundheitsausschuss des Bundestages, fühlt sich in ihren Befürchtungen bestätigt. Die Bundesregierung habe viel zu lange zugeschaut, wie die Gematik die Entwicklung der Karte „mit fragwürdigen Argumenten verzögert“ habe. „Die Industrie liefert zu spät und schiebt dies auf Sicherheitsanforderungen des BSI.“ Auch viele Patienten allerdings haben Angst vor einem grenzenlosen Datenaustausch. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach nennt all dies „bitter“. Er spricht vom „Morbus Selbstverwaltung“, von einer „Ineffizienz, die jeden Tag Menschenleben kostet“.

 

Grünen-Politiker Terpe erhebt indes auch Vorwürfe gegen die Apotheker: „Hätten wir Transparenz, könnten Apotheker Medikamente nicht mehr dreimal verkaufen.“ Die Rede ist von bis zu 200 Millionen Euro Umsatz, die den 20 000 Apotheken nach Einführung eines fälschungssicheren elektronischen Rezeptes jedes Jahr verloren gehen könnten. Doch genau dieses Rezept wird es auf Jahre nicht geben. Dem Apothekerverband scheint das egal zu sein. Das Interesse am elektronischen Medikationsplan sei groß, erklärt Sprecher Reiner Kern. Vom fälschungssicheren E-Rezept will er aber nichts wissen.

 

So bleibt es bei einer Gesundheitskarte, die Milliarden kostet – und doch weit hinter ihren erklärten Zielen zurückbleibt. Die Gematik bestätigt auf Nachfrage, die erste Einführungsstufe werde „im Laufe des kommenden Jahres“ mit Versichertenstammdaten starten, aber das war’s dann. Die Frage, wann mit Notfall- oder Medikamentenmanagement zu rechnen sei, beantwortet Sprecherin Heike F. Fischer gar nicht. Stattdessen erklärt sie, die Äußerungen Laumanns „überraschen uns und sind für uns nicht nachvollziehbar“.

 

Ähnlich äußert sich die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV). Die Ärzteschaft widerspricht dem Vorwurf, das Projekt nach Kräften blockiert zu haben. Was Laumann mit „diversen Machenschaften“ und „Gelder versenken“ meine, sei ihm nicht klar, sagt KBV-Sprecher Roland Stahl. Entscheidend sei, „dass die neue Technik von allen Beteiligten akzeptiert wird“. Auf die Frage, bis wann die KBV mit einer gehaltvollen Gesundheitskarte rechne, verweist Stahl auf die Gematik. Auch die Telekom lässt kritische Fragen unbeantwortet: „Leider erlaubt es unser Vertragsverhältnis mit der Gematik als Auftraggeber nicht, uns zu Ihren Fragen öffentlich zu äußern.“

 

Die Rechtsaufsicht über die Gematik ist übrigens klar definiert: Sie liegt bei Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe.

 


 

Welche Daten sollen auf den Chip?


Online-Abgleich der Versichertenstammdaten: Sobald Ärzte, Zahnärzte, Krankenhäuser und Apotheken miteinander in einer sicheren Umgebung vernetzt sind, können die Versichertendaten (z. B. bei Anschriftenänderung) auf der Karte aktualisiert werden.

 

Digitale Unterschrift des Arztes: Der Arzt hinterlegt im System seine digitale Unterschrift als Schlüssel für jede medizinische Behandlung. Arzt und Patient müssen zustimmen.

 

Elektronischer Arztbrief: Ärzte können auf elektronischem Wege Patienteninformationen wie Befunde, Laborergebnisse oder Entlassungsbriefe austauschen (freiwillige Anwendung).

 

Notfallpass: Ärztin oder Arzt können mit Einverständnis des Patienten Daten auf der Gesundheitskarte erfassen, die in einem Notfall wichtige Informationen geben, z. B. Angaben zu Allergien, Blutgruppe, Erkrankungen, Unverträglichkeiten.

 

Arzneimittelplan: Damit kann der Arzt oder Apotheker bei einer Medikamentenverordnung feststellen, ob diese mit anderen bereits verordneten Medikamenten verträglich sind (freiwillig).

 

Organspende: Auch Verweise auf Willenserklärungen können gespeichert werden – beispielsweise auf einen Organspendeausweis.

 

Elektronisches Rezept: Das elektronische Rezept gehört zu den Pflichtanwendungen. Es kann über die Gesundheitskarte sowohl in der Apotheke als auch im Online-Versand eingelöst werden. Der Zeitpunkt der Einführung ist ungewiss. Mit der Karte sollen künftig zudem ärztliche Verordnungen dauerhaft gespeichert und abgerufen werden können.

 

Patientenquittung: Sie enthält Informationen des Versicherten über abgerechnete Leistungen und vorläufige Kosten.

 

Patientenakte: Sie dokumentiert – auf freiwilliger Basis – die individuelle Krankengeschichte, wichtige Laborbefunde, Operationsberichte sowie Röntgenbilder und Daten anderer Untersuchungen. Sie ist das elektronische Äquivalent der jeweiligen Akten aller Ärzte des Patienten.