In Deutschland leben inzwischen Zehntausende Flüchtlinge in zum Teil unbeheizten Zelten - besonders dramatisch ist die Lage in Hamburg
Von Marcus Stöcklin
Hamburg. Es ist nass, es ist kalt im Jenfelder Moorpark. Ein Bauzaun neben Mietskasernen, an dem ein grünes Netz als Sichtschutz angebracht ist. Dahinter ragen im Nieselregen die weißen Dächer des Zeltlagers auf, in dem aktuell 800 Flüchtlinge auf ein besseres Leben warten.
"Alle Zelte sind jetzt beheizt", hatte gestern Vormittag Frank
Reschreiter, Sprecher der Behörde für Inneres bei der Stadt Hamburg,
behauptet. Die Realität jedoch sieht, zumindest gestern in Jenfeld,
anders aus.
"Wir frieren", sagt Framerz (52), ein Ingenieur aus dem Iran. In seinem
Zelt seien an die 20 Menschen untergebracht - darunter Frauen und
Kinder. "Nachts schreien die Babys, weil ihnen so kalt ist", so
schildert er es. "Niemand kann schlafen."
Framerz ist einer von 4200 Flüchtlingen in Hamburg, für die die reiche
Hansestadt kein festes Dach über dem Kopf mehr hat. Bundesweit sind es
mehr als 40000 Menschen, die nun nur in Zelten oder ähnlich
provisorischen Konstruktionen untergekommen sind. Die Zeltlager überall
im Land sind ein Problem für die Flüchtlinge, die darin den ersten
kalten Nächten kaum geschützt ausgeliefert sind - und sie sind ein
Zeichen, dass auch Deutschland ein Problem hat. Dass die Sorge wächst,
dass es vielleicht nicht gelingt, jedem möglichst bald eine
menschenwürdige, warme Unterkunft zu bieten.
In Hamburg-Jenfeld jedenfalls fehlt es an allem, was wärmt. "Sie können
sich vorstellen, was los ist, wenn 800 Leute gleichzeitig eine Decke
wollen", berichtet Thore Voller (22), der an der benachbarten
Otto-Hahn-Schule arbeitet. Dort haben sie Kleiderspenden gesammelt, und
nun ist er mit Decken, Schlafsäcken und einem Mantel unterm Arm auf dem
Weg in das Flüchtlingslager. Eine junge Mutter aus Eritrea, die einen
Kinderwagen schiebt, ist eine dankbare Abnehmerin. Sogleich bedeckt sie
ihr Kind mit dem wärmenden Überwurf. Ein junger Mann, ebenfalls aus
Eritrea, weist auf seine Flipflops. "Andere Schuhe habe ich nicht", sagt
er. Dabei ist der Boden matschig, vom Regen aufgeweicht.
Ein Stück weiter ist ein Mann aus Stormarn mit dem Auto vorgefahren. Er
will Kinderkleidung spenden, sogar zwei Heizpilze hat er dabei. "Die
nehmen wir gerne", freut sich Uwe (61), der für "Fördern und Wohnen",
den Träger des Lagers, in der Kleiderkammer arbeitet. "Die warmen Sachen
geben wir zuerst den Frauen und Kindern", berichtet der Helfer, der
seine Haare zu einem grauen Pferdeschwanz gebunden hat und eine gelbe
Regenjacke trägt. Für die Männer reiche es nicht immer. Doch ständig
kämen neue Spenden. Auch Schuhe seien an sich genug da. "Aber viele
junge Männer wollen modische Sportschuhe. Welche aus Leder nehmen sie
nicht. Dann müssen sie eben in Flipflops laufen."
Der frühe Kälteeinbruch hat die Behörden überrascht - das räumt Sprecher
Reschreiter von der Stadt Hamburg offen ein. Immerhin gebe es 750
Betten in winterfesten Bundeswehrzelten mit funktionierender Heizung.
Holzhäuser sollen die übrigen Zelte bis spätestens November ersetzen -
das ist der Plan. Doch auch Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) ist sich
offenbar nicht sicher, ob er aufgeht. "Wir alle wissen, dass es in
Hamburg wie überall in Deutschland so sein wird, dass es auch im Winter -
hoffentlich winterfeste - Zelte geben wird", sagte er am Mittwoch in
seiner Regierungserklärung. Das klingt zumindest sehr, sehr vorsichtig.
Ohne die Helfer, so viel steht fest, wäre die Lage noch weit schlechter.
Als Antje Zeisberg (48), die in der Nachbarschaft wohnt, im Sommer den
Aufbau der kleinen Zeltstadt im Moorpark mitbekam, wusste sie sofort,
dass sie helfen wollte. Auch sie arbeitet in der Kleiderkammer,
gemeinsam mit zwei jungen Syrern. "Die habe ich heute Abend zum Essen
eingeladen", verrät sie. "Das sind nette junge Männer, die in ihrer
Heimat Jura studiert haben." Das Studium würden sie am liebsten hier
fortsetzen. Stattdessen sitzen sie seit Wochen im Lager fest. Und jetzt
auch noch die Kälte. "Das frustriert die Menschen hier."
Gut, dass es nicht weit entfernt das Jugendzentrum Jenfeld gibt. Der
orangefarbene Flachdachbau ist in der Woche von mittags bis abends um
20Uhr geöffnet. Dort ist es warm, dort gibt es Snacks, sogar einen
Internetzugang. Draußen stehen Bänke um einen Feuerkorb, der behagliche
Wärme verbreitet.
Drei junge Männer aus Eritrea sitzen davor. Das Internet nützt ihnen
nicht viel. "Wir haben keine Verbindung mehr zu unseren Familien", sagt
Abdul (24), der vor jahrelangem Zwangsmilitärdienst aus der Heimat
geflüchtet ist. 1200 Euro zahlte er dem Schlepper, Geld, das er sich von
Freunden lieh. "Wer Glück hat, schafft es auf ein Boot", sagt der junge
Technologiestudent. "Andere sterben oder werden ausgeraubt." Über den
Sudan gelangte er nach Libyen, wo er in einem überfüllten Fischkutter
gemeinsam mit 700 Leidensgenossen nach Griechenland übersetzte. Trotz
der Kälte ist er froh, hier zu sein. Doch es ginge ihm besser, wenn er
zumindest wüsste, wie lange er in Jenfeld bleiben muss. Als einer der
wenigen spricht er Englisch. "Es ist ein Problem, dass für meine
Landsleute fast nie jemand da ist, der ihre Sprache spricht."
Wegen der vielen Nationalitäten im Lager gebe es oft Streit und
Schlägereien, sagt Lieth (19) aus Damaskus - was die Polizei bestätigt.
1057 Einsätze in Erstaufnahmeeinrichtungen verzeichneten die Hamburger
Ordnungshüter seit Jahresbeginn. 93-mal rückten sie wegen
Körperverletzung aus, zudem gab es 28Suizidversuche. Aggression und
Verzweiflung gehören zum Alltag in den Heimen. Zwischen den teils
streitlustigen jungen Männern leben schwangere Frauen, stehen
Kinderwagen, kleine Jungen und Mädchen laufen zwischen den Zelten herum.
Sie alle hoffen auf ein besseres Leben irgendwann - und auf mehr Wärme
möglichst bald. "Wir sind Menschen", sagt Framerz, und dabei liegt eine
Spur Verzweiflung in seiner Stimme.