Der Kampf gegen die Kälte

Erstveröffentlicht: 
16.10.2015

In Deutschland leben inzwischen Zehntausende Flüchtlinge in zum Teil unbeheizten Zelten - besonders dramatisch ist die Lage in Hamburg

 

Von Marcus Stöcklin

 

Hamburg. Es ist nass, es ist kalt im Jenfelder Moorpark. Ein Bauzaun neben Mietskasernen, an dem ein grünes Netz als Sichtschutz angebracht ist. Dahinter ragen im Nieselregen die weißen Dächer des Zeltlagers auf, in dem aktuell 800 Flüchtlinge auf ein besseres Leben warten.


"Alle Zelte sind jetzt beheizt", hatte gestern Vormittag Frank Reschreiter, Sprecher der Behörde für Inneres bei der Stadt Hamburg, behauptet. Die Realität jedoch sieht, zumindest gestern in Jenfeld, anders aus.


"Wir frieren", sagt Framerz (52), ein Ingenieur aus dem Iran. In seinem Zelt seien an die 20 Menschen untergebracht - darunter Frauen und Kinder. "Nachts schreien die Babys, weil ihnen so kalt ist", so schildert er es. "Niemand kann schlafen."


Framerz ist einer von 4200 Flüchtlingen in Hamburg, für die die reiche Hansestadt kein festes Dach über dem Kopf mehr hat. Bundesweit sind es mehr als 40000 Menschen, die nun nur in Zelten oder ähnlich provisorischen Konstruktionen untergekommen sind. Die Zeltlager überall im Land sind ein Problem für die Flüchtlinge, die darin den ersten kalten Nächten kaum geschützt ausgeliefert sind - und sie sind ein Zeichen, dass auch Deutschland ein Problem hat. Dass die Sorge wächst, dass es vielleicht nicht gelingt, jedem möglichst bald eine menschenwürdige, warme Unterkunft zu bieten.


In Hamburg-Jenfeld jedenfalls fehlt es an allem, was wärmt. "Sie können sich vorstellen, was los ist, wenn 800 Leute gleichzeitig eine Decke wollen", berichtet Thore Voller (22), der an der benachbarten Otto-Hahn-Schule arbeitet. Dort haben sie Kleiderspenden gesammelt, und nun ist er mit Decken, Schlafsäcken und einem Mantel unterm Arm auf dem Weg in das Flüchtlings­lager. Eine junge Mutter aus Eritrea, die einen Kinderwagen schiebt, ist eine dankbare Abnehmerin. Sogleich bedeckt sie ihr Kind mit dem wärmenden Überwurf. Ein junger Mann, ebenfalls aus Eritrea, weist auf seine Flipflops. "Andere Schuhe habe ich nicht", sagt er. Dabei ist der Boden matschig, vom Regen aufgeweicht.


Ein Stück weiter ist ein Mann aus Stormarn mit dem Auto vorgefahren. Er will Kinderkleidung spenden, sogar zwei Heizpilze hat er dabei. "Die nehmen wir gerne", freut sich Uwe (61), der für "Fördern und Wohnen", den Träger des Lagers, in der Kleiderkammer arbeitet. "Die warmen Sachen geben wir zuerst den Frauen und Kindern", berichtet der Helfer, der seine Haare zu einem grauen Pferdeschwanz gebunden hat und eine gelbe Regenjacke trägt. Für die Männer reiche es nicht immer. Doch ständig kämen neue Spenden. Auch Schuhe seien an sich genug da. "Aber viele junge Männer wollen modische Sportschuhe. Welche aus Leder nehmen sie nicht. Dann müssen sie eben in Flipflops laufen."


Der frühe Kälteeinbruch hat die Behörden überrascht - das räumt Sprecher Reschreiter von der Stadt Hamburg offen ein. Immerhin gebe es 750 Betten in winterfesten Bundeswehrzelten mit funktionierender Heizung. Holzhäuser sollen die übrigen Zelte bis spätestens November ersetzen - das ist der Plan. Doch auch Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) ist sich offenbar nicht sicher, ob er aufgeht. "Wir alle wissen, dass es in Hamburg wie überall in Deutschland so sein wird, dass es auch im Winter - hoffentlich winterfeste - Zelte geben wird", sagte er am Mittwoch in seiner Regierungserklärung. Das klingt zumindest sehr, sehr vorsichtig.


Ohne die Helfer, so viel steht fest, wäre die Lage noch weit schlechter. Als Antje Zeisberg (48), die in der Nachbarschaft wohnt, im Sommer den Aufbau der kleinen Zeltstadt im Moorpark mitbekam, wusste sie sofort, dass sie helfen wollte. Auch sie arbeitet in der Kleiderkammer, gemeinsam mit zwei jungen Syrern. "Die habe ich heute Abend zum Essen eingeladen", verrät sie. "Das sind nette junge Männer, die in ihrer Heimat Jura studiert haben." Das Studium würden sie am liebsten hier fortsetzen. Stattdessen sitzen sie seit Wochen im Lager fest. Und jetzt auch noch die Kälte. "Das frustriert die Menschen hier."


Gut, dass es nicht weit entfernt das Jugendzentrum Jenfeld gibt. Der orange­farbene Flachdachbau ist in der Woche von mittags bis abends um 20Uhr geöffnet. Dort ist es warm, dort gibt es Snacks, sogar einen Internetzugang. Draußen stehen Bänke um einen Feuerkorb, der behagliche Wärme verbreitet.


Drei junge Männer aus Eritrea sitzen davor. Das Internet nützt ihnen nicht viel. "Wir haben keine Verbindung mehr zu unseren Familien", sagt Abdul (24), der vor jahrelangem Zwangsmilitärdienst aus der Heimat geflüchtet ist. 1200 Euro zahlte er dem Schlepper, Geld, das er sich von Freunden lieh. "Wer Glück hat, schafft es auf ein Boot", sagt der junge Technologiestudent. "Andere sterben oder werden ausgeraubt." Über den Sudan gelangte er nach Libyen, wo er in einem überfüllten Fischkutter gemeinsam mit 700 Leidensgenossen nach Griechenland übersetzte. Trotz der Kälte ist er froh, hier zu sein. Doch es ginge ihm besser, wenn er zumindest wüsste, wie lange er in Jenfeld bleiben muss. Als einer der wenigen spricht er Englisch. "Es ist ein Problem, dass für meine Landsleute fast nie jemand da ist, der ihre Sprache spricht."


Wegen der vielen Nationalitäten im Lager gebe es oft Streit und Schlägereien, sagt Lieth (19) aus Damaskus - was die Polizei bestätigt. 1057 Einsätze in Erstaufnahmeeinrichtungen verzeichneten die Hamburger Ordnungshüter seit Jahresbeginn. 93-mal rückten sie wegen Körperverletzung aus, zudem gab es 28Suizidversuche. Aggression und Verzweiflung gehören zum Alltag in den Heimen. Zwischen den teils streitlustigen jungen Männern leben schwangere Frauen, stehen Kinderwagen, kleine Jungen und Mädchen laufen zwischen den Zelten herum. Sie alle hoffen auf ein besseres Leben irgendwann - und auf mehr Wärme möglichst bald. "Wir sind Menschen", sagt Framerz, und dabei liegt eine Spur Verzweiflung in seiner Stimme.