"Stress begünstigt Aggression"

Erstveröffentlicht: 
26.09.2015

Der Leipziger Pychologe Philipp Jugert im Interview

 

VON LUCAS GROTHE


Leipzig. Wie entstehen schwere Konflikte wie in der Messehalle 4? Und was kann man dagegen tun, wie kann man vorbeugen? Dr. Philipp Jugert, Sozialpsychologe an der Universität Leipzig, gibt Antworten.


1800 Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Sprachen auf engstem Raum, sind da Konflikte programmiert?

 
Wir haben es mit Menschen zu tun, die ex-treme Erfahrungen gemacht, manchmal Familienangehörige hinter sich gelassen haben, oft durch Krieg traumatisiert sind. Dazu kommt: Vor Ort ist ihre Perspektive ungewiss, sie wissen nicht, ob sie hier bleiben dürfen. In der Halle gibt es kaum Privatsphäre und mangelnde Verständnismöglichkeiten. Kulturelle Unterschiede erleichtern das Aufkommen von Missverständnissen. Aus der Forschung wissen wir: Stress begünstigt Aggression. Es kommt unter Stress zu einer Beeinträchtigung unserer kognitiven Fähigkeiten. Dadurch werden Reize aus der Umgebung schneller als negativ bewertet, das fördert wieder die Aggression. Das gleiche Verhalten einer anderen Person interpretiere ich unter Stress ganz anders und zwar schnell negativ. Dann reagiere ich schnell aggressiv. Ein weiterer Faktor ist, dass hier Menschen zusammentreffen, die in anderen Kulturen Konfliktparteien sind, etwa Sunniten und Schiiten.


Welche Maßnahmen wären sinnvoll, um die Situation zu entspannen?

 
Es muss schnelle Asylverfahren geben. Die Leute brauchen Klarheit über ihre Perspektive. Aber schneller zu gewährleisten wären wohl angeleitete Freizeitangebote wie Musik und Sport, bei denen die Flüchtlinge sich kennenlernen, um Missverständnissen vorzubeugen und Spannungen abzubauen. Es gibt sicher nichts Schlimmeres, als wenn die Leute nichts zu tun haben. Wir wissen aus der Forschung: Wenn sich die Leute einmal kennenlernen und positiven Kontakt miteinander erleben, kommt es zu einem Abbau von Vorurteilen. Parallel dazu sind psychotherapeutische Angebote nötig.


Wenn sich einmal Konfliktgruppen gebildet haben, ist es dann schwierig, das wieder zu deeskalieren?

 
Es ist schwierig mit so einer großen Anzahl von Menschen über den Konflikt zu sprechen. Es wäre höchstens möglich, wenige Leute mit einem Mediator an einen Tisch zu bringen. Um die Situation zu entspannen, wäre das sicher sinnvoller, als nur die Verletzten zu betreuen und zu sagen: Jetzt geht ihr alle wieder zurück. Damit ist der Konflikt nicht gelöst und schließlich müssen alle noch länger zusammenleben.


Wird sich die Situation mit dem aufkommenden Winter noch verschärfen?

 
Vermutlich, da sich die Menschen stark eingesperrt fühlen. Es ist sicher das Beste, so schnell wie möglich dezentrale Unterbringung zu fördern und keine große Unterkunft mehr zu benutzen. Dass Aggressionen auftreten, hat nichts damit zu tun, dass die Leute aus Afghanistan oder Syrien kommen, sondern hängt mit den extremen Belastungen zusammen, denen die Leute ausgesetzt sind. Jeder Mensch kann zu Aggression gebracht werden, wenn man ihn genügend stresst. Und hier kommen viele Stressfaktoren zusammen.


Interview: Lucas Grothe