Der Leipziger Pychologe Philipp Jugert im Interview
VON LUCAS GROTHE
Leipzig. Wie entstehen schwere Konflikte
wie in der Messehalle 4? Und was kann man dagegen tun, wie kann man
vorbeugen? Dr. Philipp Jugert, Sozialpsychologe an der Universität
Leipzig, gibt Antworten.
1800 Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Sprachen auf engstem Raum, sind da Konflikte programmiert?
Wir haben es mit Menschen zu tun, die ex-treme Erfahrungen gemacht,
manchmal Familienangehörige hinter sich gelassen haben, oft durch Krieg
traumatisiert sind. Dazu kommt: Vor Ort ist ihre Perspektive ungewiss,
sie wissen nicht, ob sie hier bleiben dürfen. In der Halle gibt es kaum
Privatsphäre und mangelnde Verständnismöglichkeiten. Kulturelle
Unterschiede erleichtern das Aufkommen von Missverständnissen. Aus der
Forschung wissen wir: Stress begünstigt Aggression. Es kommt unter
Stress zu einer Beeinträchtigung unserer kognitiven Fähigkeiten. Dadurch
werden Reize aus der Umgebung schneller als negativ bewertet, das
fördert wieder die Aggression. Das gleiche Verhalten einer anderen
Person interpretiere ich unter Stress ganz anders und zwar schnell
negativ. Dann reagiere ich schnell aggressiv. Ein weiterer Faktor ist,
dass hier Menschen zusammentreffen, die in anderen Kulturen
Konfliktparteien sind, etwa Sunniten und Schiiten.
Welche Maßnahmen wären sinnvoll, um die Situation zu entspannen?
Es muss schnelle Asylverfahren geben. Die Leute brauchen Klarheit über
ihre Perspektive. Aber schneller zu gewährleisten wären wohl
angeleitete Freizeitangebote wie Musik und Sport, bei denen die
Flüchtlinge sich kennenlernen, um Missverständnissen vorzubeugen und
Spannungen abzubauen. Es gibt sicher nichts Schlimmeres, als wenn die
Leute nichts zu tun haben. Wir wissen aus der Forschung: Wenn sich die
Leute einmal kennenlernen und positiven Kontakt miteinander erleben,
kommt es zu einem Abbau von Vorurteilen. Parallel dazu sind
psychotherapeutische Angebote nötig.
Wenn sich einmal Konfliktgruppen gebildet haben, ist es dann schwierig, das wieder zu deeskalieren?
Es ist schwierig mit so einer großen Anzahl von Menschen über den
Konflikt zu sprechen. Es wäre höchstens möglich, wenige Leute mit einem
Mediator an einen Tisch zu bringen. Um die Situation zu entspannen, wäre
das sicher sinnvoller, als nur die Verletzten zu betreuen und zu sagen:
Jetzt geht ihr alle wieder zurück. Damit ist der Konflikt nicht gelöst
und schließlich müssen alle noch länger zusammenleben.
Wird sich die Situation mit dem aufkommenden Winter noch verschärfen?
Vermutlich, da sich die Menschen stark eingesperrt fühlen. Es ist
sicher das Beste, so schnell wie möglich dezentrale Unterbringung zu
fördern und keine große Unterkunft mehr zu benutzen. Dass Aggressionen
auftreten, hat nichts damit zu tun, dass die Leute aus Afghanistan oder
Syrien kommen, sondern hängt mit den extremen Belastungen zusammen,
denen die Leute ausgesetzt sind. Jeder Mensch kann zu Aggression
gebracht werden, wenn man ihn genügend stresst. Und hier kommen viele
Stressfaktoren zusammen.
Interview: Lucas Grothe