Diskussion zur politischen Einschätzung der aktuellen Refugee Fluchtbewegung und den Reaktionen

Mitte September 2015

Die Entwicklungen haben sich in den letzten Wochen überschlagen. Um die Lage einschätzen zu können und uns darin zu verorten, um handlungsfähig zu werden, haben wir -wie viele andere auch- miteinander diskutiert. Hier unser sicherlich unvollständiger Stand der Dinge, vielleicht als Anstoß für weiterführende Diskussionen und mehr.

 

Vor circa einem Monat setzte eine massive Fluchtbewegung über den Landweg ein. Auf ihrem Weg in die bislang krisenresistenten westlichen Kernländer Europas ließen sich die Menschen überwiegend aus Syrien, Afghanistan und dem Irak wie Palästinenser_innen und Kurd_innen nicht stoppen. Die Flüchtenden ziehen von der Türkei über Griechenland quer durch den Balkan. Eines ihrer Hauptzielländer ist Deutschland, zunehmend auch Schweden. Auf der Balkanroute gingen EU wie Nicht-EU Staaten gewalttätig gegen die Flüchtenden vor. Die politische Linie in Mazedonien und Ungarn reichte von schnellstmöglich Durchschleusen bis hin zu brutalen Attacken gegen die Flüchtenden. Viele Versuche diese Fluchtbewegung zu steuern, in den Griff zu bekommen, niederzuschlagen oder abzuwehren, scheiterten. Die Flüchtenden ließen und lassen sich nicht abschrecken, sie ziehen weiter, finden neue Wege, umgehen Polizei- und Militäraufgebote, Tränengasangriffe, meterhohe Zäune.


Der Diskurs von Politik und Medien in Deutschland drehte sich innerhalb weniger Tage um 180 Grad. Die Willkommenskultur Deutschlands wurde zum neuen Markenzeichen deutscher Flüchtlingspolitik erhoben. Die Kanzlerin entpuppt sich in den innerdeutschen wie europäischen Debatten als mutige und empathische Fürsprecherin der Geflüchteten, die wirklich in Not sind. Heroisch werden die neuen Herausforderungen als nationale Aufgabe angenommen, die es jetzt zu bewältigen gilt.


Die breite gesellschaftliche Beteiligung bei der Versorgung der eintreffenden Geflüchteten durch Spenden, Freiwilligendienste usw. stehen als Beweise für Empathie und Aufnahmebereitschaft weiter Teile der biodeutschen Bevölkerung. Die Unterbringung der Geflüchteten war von Anfang an chaotisch, überall wurde Überforderung signalisiert und hochstilisiert: Zeltstädte für Geflüchtete im reichsten Metropolenland Europas bestimmten die Bilder, medizinische Versorgung, die kaum zu bewältigen schien, riesige Sammellager für Hunderte von Menschen, der massive Einsatz der Bundeswehr im Inneren bei der Unterbringung von Geflüchteten, all das wird innerhalb weniger Tagen zum Normalzustand.


Gleichzeitig greifen Nazis kontinuierlich in Ost- wie in Westdeutschland Flüchtlingsunterkünfte an. Sie verüben Brandanschläge, mobilisieren zu rechten
Kundgebungen, heizen die rechte Stimmung an. In Heidenau bestimmen Nazi-Schlägertrupps über zwei Tage die Straßen. Der Einsatz von Bullen wird an Tag eins gezielt zurückgefahren nach dem Motto: Freilauf für Nazis in Sachsen, damit sich an Tag zwei die geballte Kraft der sächsischen Polizei auf die lokal wie bundesweit angereisten Antifa-Gruppen konzentrieren kann.


Vor zwei Wochen, als die Willkommenskultur medial und politisch aus allen Ecken schallte, haben wir uns bereits misstrauisch gefragt: Wann wird zurück gerudert? Mehr noch: Wann setzt das Rollback ein und die Zustände für die Geflüchteten werden massiv verschärft und zwar auf ein weitaus schlechteres Level als zuvor? Wie viel Chaos wurde hier eigentlich bewusst inszeniert? Im wirtschaftspotenten Euroland schlechthin bürgern sich plötzlich Bilder ein von riesigen Zeltlagern für Geflüchtete, die ohne die Unterstützung freiwilliger Hilfskräfte nicht mehr zu versorgen sind.

Bereits eine Woche später wurde die medial hochstilisierte Überforderung, dass die „Flüchtlingsströme“ nicht mehr zu bewältigen seien, genutzt, um jetzt den Riegel vorzuschieben. Zum ersten Mal werden die Grenzen im Schengen- Raum in diesem Ausmaß geschlossen: die Deutschen machen die Grenze Richtung Österreich dicht. Jetzt heißt es: Polizeikontrollen werden gebraucht, Registierung ist dringend notwendig, Regulierung muss jetzt sofort einsetzen, die ungezügelte Einreise ist nicht mehr zu verantworten. Das wird auch genutzt um das neue Gesetzpaket der Bundesregierung zum Asylrecht zu legitimieren und ohne grösseren Widerstand durchzuwinken. Geplant ist noch mehr Entrechtung und Repression per Gesetz:

 

Geduldeten droht Obdachlosigkeit

Zwangsweise Einweisung in Erstaufnahmelager
Wiedereinführung von Sachleistungen
Ausweitung von Inhaftierung und Schnellverfahren an Flughäfen
Ausweitung der sicheren Herkunftsländer (Albanien, Mazedonien, Montenegro)
Konzentrierung von Geflüchteten in riesigen Massenlagern


Was die Einschätzung der gesamtpolitischen Lage angeht, so haben wir diskutiert inwieweit die Fluchtbewegung von oben politisch gewollt und somit quasi mit-initiiert wurde. Sollte die bad guy Rolle Deutschlands im rigiden Umgang mit Griechenland schnellstmöglich wieder aufpoliert werden? Im internationalen Kontext stellt sich die Frage, ob die Fluchtbewegung auch Teil eines westeuropäischen Versuchs ist, gegen Syrien vorzugehen? So wurden beispielsweise genau jetzt französische Bodentruppen in Syrien eingesetzt. Welche Rolle spielen NATO und diverse Geheimdienste? Gab es eine Art „Masterplan“, wann die Grenzen auf dem Balkan aufgingen und wann sie geschlossen wurden, um die Fluchtbewegung zu steuern? Wie viele der Vorankündigungen, dass die Fluchtbewegung kommen wird, wurden bewusst in den Wind geschlagen? Welche Szenarien könnten noch initiiert werden, um weitere Abschottungen zu legitimieren? Jenseits verschwörungstheoretischer Konstruktionen gilt es auch im Hinblick auf die internationalen Entwicklungen und Akteure zu einer Einschätzung zu kommen.


Dennoch: Die aktuellen Fluchtbewegungen stehen für die Autonomie der Geflüchteten. Sie haben die Mauern Europas zu Fall gebracht. Sie haben fight fortress Europe umgesetzt, Tag für Tag, Schritt für Schritt!


In Europa, speziell in Deutschland, setzte die Spaltung der Geflüchteten sofort ein. Ganz deutlich werden Geflüchtete aus Syrien in eine Sonderposition gehievt; für sie wird Dublin außer Kraft gesetzt. Im öffentlichen Diskurs wiederholt sich gebetsmühlenartig: die syrischen Flüchtlinge kommen aus der Mittelschicht, sind beruflich qualifiziert und extrem gut ausgebildet. Passgenau fügt sich daran die unschön absteigende demographische Entwicklung
der Biodeutschen und der Fachkräftemangel an. Das Verwertungsinteresse ist offensichtlich: Grenzen auf für gebildete Syrer, das restliche uneinschätzbare Humankapital fällt unter die rigide Asylverschärfung, wird abgewehrt, interniert, abgeschoben. Letzteres gilt vor allem für Romas aus den südosteuropäischen Staaten.


Die aktuellen Fluchtbewegungen hatten in den letzten Wochen absolute Priorität in den Medien. Über Wochen bestimmten sie die Nachrichten, Sondersendungen wurden bald täglich ausgestrahlt. Zu prüfen ist, in welchem Verhältnis eigentlich die gegenwärtigen Zahlen der Geflüchteten stehen beispielsweise zur Fluchtbewegung von mehrheitlich afrikanischen Geflüchteten über die Mittelmeerroute nach Malta und Lampedusa seit Jahren? Zudem fällt in dieser ganzen Szenerie auf, dass diese nicht abreißende Fluchtbewegung aus den nordafrikanischen/arabischen Staaten über das Mittelmeer nach Europa medial in den Hintergrund gedrängt wurde. Die Katastrophen im Mittelmeer, bei denen Tausende von Geflüchteten in vollkommen seeuntüchtigen Booten ums Leben kamen und die Frontex und andere Akteure der Festung Europa zu verantworten haben, verschwinden fast vollständig aus der Berichterstattung; genaue Zahlen existieren bis heute nicht. Doch die lebensgefährliche Bedrohung hält die Flüchtenden bis heute nicht ab, den Weg über das Mittelmeer anzutreten.


Was wäre also, wenn eine schwarze Fluchtbewegung vom afrikanischen Kontinent derart massiv nach Europa durchgebrochen wäre? Wäre es zu ebensolchen medialen, öffentlichen, politischen und gesellschaftlichen Reaktionen gekommen, die wir jetzt erleben? Welche rassistischen Hierarchien wirken ergo in diesen Reaktionen auch mit?


Ein weiterer Diskussionsschwerpunkt ist, wie in dieser ganzen Entwicklung die Unterstützung der sogenannten Zivilgesellschaft einzuschätzen ist? Wie weit geht sie? Wird diese Solidarität anhalten, wenn die Geflüchteten ihre Rechte fordern, eigenständige Positionen formulieren, die nicht mehr mit Teddybären und Secondhand- Klamotten zu handeln sind? Das von den westlichen Metropolen verantwortete Elend steht mit den Geflüchteten direkt vor unserer Tür und lässt sich nicht mehr so einfach ignorieren. Auffällig ist die Parallelität des Ansteigens von Pegida und der Willkommenskultur. Werden in der medialen Darstellung die Willkommeninitiativen auch dazu benutzt, um die röhrenden Pegidaversammlungen und die gezielten Angriffe der Nazis zu übertünchen?


Vor diesem grob skizzierten Hintergrund, haben wir in der Diskussion vier Bereiche für die radikale Linke ausgemacht, um politisch und praktisch zu agieren bzw. zu intervenieren:


Erkämpfte Fluchtwege offen halten!
Naziangriffe abwehren und gegen halten!
Verschärfungen der Gesetzgebung und die Lagersituation thematisieren, gemeinsam mit
Refugees intervenieren!
Fluchtverursacher_innen benennen und angreifen!