Willkommen im deutschen Osten - Wer will was in der Flüchtlingspolitik?

Erstveröffentlicht: 
07.09.2015

Flüchtlinge werden in Saalfeld empfangen / Ramelow: "Ich könnte weinen vor Freude" / Weiterreise nach Dresden, Hermsdorf und Halberstadt

 

Wer kann so viel Hass ausschütten? Hass gegenüber einem dreijährigen kleinen Jungen, der auf der Flucht vor dem Krieg umgekommen ist? Benjamin S. aus Berlin-Hellersdorf, 26-jähriger Initiator einer vor allem im Internet aktiven rechtsradikalen Gruppe namens "Berlin wehrt sich", kann es.

Die Leiche von Aylan war am Mittwoch am Strand des türkischen Bodrum angespült worden. Ein Foto des toten syrischen Kindes hat international tiefe Bestürzung ausgelöst. S. aber hat das Bild auf Facebook mit diesem Kommentar gepostet: "WIR TRAUERN NICHT SONDERN WIR FEIERN. Nur ein Flüchtling, ein Flüchtling ist zu wenig: Das Meer hat schon mehr Flüchtlinge geschluckt." Polizei und Staatsanwaltschaft haben daraufhin am Wochenende die Wohnung des Hass-Kommentators durchsucht, Computer und Mobiltelefone sichergestellt. Im Netz ist Benjamin S. schon seit geraumer Zeit als Verfasser rechter Hasstiraden bekannt. Ausländer, Linke, Schwule sind Opfer seiner Attacken, regelmäßig fordert er die Wiedereinführung der Todesstrafe.

Großbritanniens Premier David Cameron hingegen lässt der großen persönlichen Betroffenheit über das Foto des toten Aylan nun politische Taten folgen. Großbritannien will einem Zeitungsbericht zufolge 15000 syrische Flüchtlinge aufnehmen. Das Land hat in diesem Jahr bislang lediglich 216 Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Insgesamt erhielten seit Beginn des Bürgerkriegs im Jahr 2011 rund 5000 Syrer in Großbritannien Asyl.

Von Andreas Hummel, JULIA VOLLMER UND CHRISTOPH SPRINGER


Saalfeld. Ein Mann verteilt Bonbons an Kinder, Menschen halten Willkommens-Schilder in die Höhe, singen und winken. Etwa 680 Flüchtlingen in einem Sonderzug aus Ungarn ist im thüringischen Saalfeld ein herzlicher Empfang bereitet worden.


Um 20.49 Uhr fährt der Zug ein. Dort wartet Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, begleitet von Polizei, Helfern, Kameras und Journalisten. Der Linken-Politiker hält ein kleines Spielzeugauto in der Hand. Er winkt den Flüchtlingen zu. Wenig später begrüßt er sie durch ein Megafon auf Arabisch. "Ihr seid in Thüringen herzlich willkommen." Die Flüchtlinge applaudieren. Einer fragt, wo er seinen Fingerabdruck abgeben kann. Und der junge Dolmetscher flüstert Ramelow zu: "Manche sagen, sie wollen gar nicht hier bleiben." Schweden sei ihr eigentliches Ziel.


"Jetzt sind wir sicher", sagt ein 21-jähriger lächelnd und zündet sich eine Zigarette an. "Wir sind so froh, hier zu sein." Die Strapazen der langen Reise sind den Flüchtlingen anzusehen. Viele blicken erschöpft drein, ein Baby weint.


Andere sind sichtlich erleichtert und lachen, als sie in Saalfeld aus dem Sonderzug steigen. Ostdeutschland zeigt sich von seiner besten Seite. "Wir sind jetzt sehr müde. Danke Deutschland", sagt ein Syrer, der seit mehr als einem Monat mit Frau und drei Kindern auf der Flucht ist. Zuletzt hatten sie sich in Ungarn durchkämpfen müssen.


Vor dem Bahnhof herrscht Freudentaumel. Mehr als 200 Menschen singen dort auf Englisch "Flüchtlinge sind hier willkommen", klatschen und winken. Helfer reichen Beutel mit Broten, Spielzeug, Süßigkeiten, Obst und Joghurt. Schubweise steigen die Neuankömmlinge in Busse. Es regnet.


Bestimmten die Bilder des rechten Mobs im sächsischen Heidenau in den vergangenen Wochen Schlagzeilen über Fremdenfeindlichkeit im Osten, so zeigt die 25000-Einwohner-Stadt Saalfeld ein anderes, ein freundliches Gesicht. Zwar mischen sich auch Angehörige der rechten Szene unter die Menschen am Bahnhof, doch bleiben sie in der Minderheit. Mindestens 43 Platzverweise verhängt die Polizei, weil sich vier Betroffene nicht daran halten, werden sie in Gewahrsam genommen.


Spontane Hilfe


Erst am Sonnabendvormittag war bekannt geworden, dass ein Sonderzug auf dem Weg nach Thüringen ist. Zunächst ist von 500 Menschen die Rede. Binnen weniger Stunden tragen Dutzende Helfer Lebensmittel, Süßigkeiten, Spielzeug, Hygieneartikel, aber auch Zigaretten zusammen und bringen diese nach Saalfeld. Im Büro der Linken-Abgeordneten Katharina König werden Brote geschmiert und Willkommenspakete für die Flüchtlinge gepackt.


Angesichts dieser Hilfsbereitschaft zeigt Ramelow sich auf dem Bahnhof überwältigt: "Ich könnte weinen vor Freude", sagte er. Die Flüchtlinge werden zur Registrierung in eine Turnhalle gebracht. Danach bringen sie Busse nach Dresden, Halberstadt und in eine Industriehalle in einem Gewerbegebiet in Hermsdorf.


Die Unterbringung von rund 280 der Asylsuchenden in der Turnhalle der Offiziersschule Dresden ist als Provisorium gedacht und auf zwei Wochen beschränkt, sagt Oberst Helmut Baumgärtner, Kommandeur des Landeskommandos der Bundeswehr in Sachsen. "Uns ist offiziell nichts davon bekannt, dass noch mehr Flüchtlinge hier untergebracht werden sollen. Unsere Kapazitäten sind auch erschöpft." Der Lehrbetrieb wird vorübergehend eingeschränkt. Bei einem Rundgang habe er "sehr viele Familien mit Kindern gesehen", so der Oberst, der erst am Sonnabendmorgen davon erfahren hat, dass die Schule Flüchtlinge aufnehmen muss. Die anderen Erstaufnahmeeinrichtungen seien ausgelastet, so die Begründung. In Dresden betrifft das die Zeltstadt an der Bremer Straße mit Platz für bis zu 1000 Flüchtlinge und zwei Sporthallen der Technischen Universität, in denen für 600 Flüchtlinge Platz ist.


Tillich besucht Unterkunft


Sachsens Regierungschef Stanislaw Tillich (CDU) besucht am gestrigen Abend die Offiziersschule. Die Flüchtlinge, so sagt er, seien gut aufgenommen worden. Sie sollen im Auftrag des DRK von einer Drittfirma mit Lebensmitteln versorgt werden. Die Bundeswehr will prüfen, ob sie dabei Unterstützung leisten kann. Die Landesdirektion hat für die Bewachung zusätzliche Kräfte eines privaten Sicherheitsdienstes angefordert. Die Schule wird auch im Normalbetrieb von einem privaten Dienst bewacht.

 

Von Tim Braune


Berlin. Die Koalitionspartner in Berlin versuchen, eine gemeinsame Linie zu finden. Die Flüchtlingszahlen setzen aber alle Parteien unter Druck, sich programmatisch teilweise neu aufzustellen. Im folgenden die Kernpositionen:


CDU/CSU: Flüchtlinge mit guter Bleibeperspektive sollen schnell arbeiten und Geld verdienen dürfen, sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge ohne Aussicht auf Asyl dagegen möglichst ferngehalten werden. Die Union fordert, an Asylbewerber in der Erstaufnahme kein Bargeld mehr auszuzahlen und lehnt für sie auch eine Gesundheitskarte ab. Wer mit seinem Asylantrag keinen Erfolg hatte, soll noch aus der Erstaufnahme abgeschoben werden. Der Kreis der "sicheren Herkunftsstaaten" soll rasch um Albanien, Montenegro und den Kosovo erweitert werden. Die Union will, dass der Bund seine Hilfe für Länder und Kommunen zur Unterbringung der Flüchtlinge aufstockt.


SPD: Die SPD beansprucht für sich, lange vor der Union vor dem Anstieg der Flüchtlingszahlen gewarnt zu haben. Die SPD will schnellere Asylverfahren und eine Kostenübernahme des Bundes für 50 000 Erstaufnahmeplätze. Zur Entlastung von Ländern und Kommunen soll Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) deutlich mehr als 3 Milliarden Euro bereitstellen - "umfassend, dauerhaft, strukturell". Gemeint ist, dass die Finanzhilfen des Bundes automatisch steigen, sobald die Flüchtlingszahlen anwachsen.


Linke: In einem Zehn-Punkte-Papier verlangt die Fraktion, "die Flüchtlingsaufnahme in die maßgebliche Verantwortung des Bundes zu legen, der die Kosten für die Dauer des Asylverfahrens und für eine Übergangszeit nach der Anerkennung übernimmt". Asylsuchende brauchten Zugang zu Sprachkursen und Arbeitsförderung. "Ausgrenzende Gesetze" und Arbeitsverbote sollten aufgehoben werden, zudem sollten Flüchtlinge "vorrangig dezentral und in eigenen Wohnungen" untergebracht werden.


Grüne: In einem Fünf-Punkte-Plan zur Flüchtlingspolitik wird vor allem gefordert, für Arbeitsmigranten vom Balkan zusätzliche legale Wege zu öffnen. Die Kapazitäten zur Unterbringung müssten ausgebaut, Länder und Kommunen entlastet werden. Die Asylverfahren sollten beschleunigt werden. Maßnahmen zur Integration wie Sprachkurse und die Versorgung etwa durch eine Gesundheitskarte sollen verbessert werden.