Flüchtlinge werden in Saalfeld empfangen / Ramelow: "Ich könnte weinen vor Freude" / Weiterreise nach Dresden, Hermsdorf und Halberstadt
Wer kann so viel Hass ausschütten? Hass gegenüber einem
dreijährigen kleinen Jungen, der auf der Flucht vor dem Krieg umgekommen
ist? Benjamin S. aus Berlin-Hellersdorf, 26-jähriger Initiator einer
vor allem im Internet aktiven rechtsradikalen Gruppe namens "Berlin
wehrt sich", kann es.
Die Leiche von Aylan war am Mittwoch am Strand des türkischen
Bodrum angespült worden. Ein Foto des toten syrischen Kindes hat
international tiefe Bestürzung ausgelöst. S. aber hat das Bild auf
Facebook mit diesem Kommentar gepostet: "WIR TRAUERN NICHT SONDERN WIR
FEIERN. Nur ein Flüchtling, ein Flüchtling ist zu wenig: Das Meer hat
schon mehr Flüchtlinge geschluckt." Polizei und Staatsanwaltschaft haben
daraufhin am Wochenende die Wohnung des Hass-Kommentators durchsucht,
Computer und Mobiltelefone sichergestellt. Im Netz ist Benjamin S. schon
seit geraumer Zeit als Verfasser rechter Hasstiraden bekannt.
Ausländer, Linke, Schwule sind Opfer seiner Attacken, regelmäßig fordert
er die Wiedereinführung der Todesstrafe.
Großbritanniens Premier David Cameron hingegen lässt der großen
persönlichen Betroffenheit über das Foto des toten Aylan nun politische
Taten folgen. Großbritannien will einem Zeitungsbericht zufolge 15000
syrische Flüchtlinge aufnehmen. Das Land hat in diesem Jahr bislang
lediglich 216 Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Insgesamt
erhielten seit Beginn des Bürgerkriegs im Jahr 2011 rund 5000 Syrer in
Großbritannien Asyl.
Von Andreas Hummel, JULIA VOLLMER UND CHRISTOPH SPRINGER
Saalfeld. Ein Mann verteilt Bonbons an Kinder, Menschen halten
Willkommens-Schilder in die Höhe, singen und winken. Etwa 680
Flüchtlingen in einem Sonderzug aus Ungarn ist im thüringischen Saalfeld
ein herzlicher Empfang bereitet worden.
Um 20.49 Uhr fährt der Zug ein. Dort wartet Thüringens
Ministerpräsident Bodo Ramelow, begleitet von Polizei, Helfern, Kameras
und Journalisten. Der Linken-Politiker hält ein kleines Spielzeugauto in
der Hand. Er winkt den Flüchtlingen zu. Wenig später begrüßt er sie
durch ein Megafon auf Arabisch. "Ihr seid in Thüringen herzlich
willkommen." Die Flüchtlinge applaudieren. Einer fragt, wo er seinen
Fingerabdruck abgeben kann. Und der junge Dolmetscher flüstert Ramelow
zu: "Manche sagen, sie wollen gar nicht hier bleiben." Schweden sei ihr
eigentliches Ziel.
"Jetzt sind wir sicher", sagt ein 21-jähriger lächelnd und zündet sich
eine Zigarette an. "Wir sind so froh, hier zu sein." Die Strapazen der
langen Reise sind den Flüchtlingen anzusehen. Viele blicken erschöpft
drein, ein Baby weint.
Andere sind sichtlich erleichtert und lachen, als sie in Saalfeld aus
dem Sonderzug steigen. Ostdeutschland zeigt sich von seiner besten
Seite. "Wir sind jetzt sehr müde. Danke Deutschland", sagt ein Syrer,
der seit mehr als einem Monat mit Frau und drei Kindern auf der Flucht
ist. Zuletzt hatten sie sich in Ungarn durchkämpfen müssen.
Vor dem Bahnhof herrscht Freudentaumel. Mehr als 200 Menschen singen
dort auf Englisch "Flüchtlinge sind hier willkommen", klatschen und
winken. Helfer reichen Beutel mit Broten, Spielzeug, Süßigkeiten, Obst
und Joghurt. Schubweise steigen die Neuankömmlinge in Busse. Es regnet.
Bestimmten die Bilder des rechten Mobs im sächsischen Heidenau in den
vergangenen Wochen Schlagzeilen über Fremdenfeindlichkeit im Osten, so
zeigt die 25000-Einwohner-Stadt Saalfeld ein anderes, ein freundliches
Gesicht. Zwar mischen sich auch Angehörige der rechten Szene unter die
Menschen am Bahnhof, doch bleiben sie in der Minderheit. Mindestens 43
Platzverweise verhängt die Polizei, weil sich vier Betroffene nicht
daran halten, werden sie in Gewahrsam genommen.
Spontane Hilfe
Erst am Sonnabendvormittag war bekannt geworden, dass ein Sonderzug auf
dem Weg nach Thüringen ist. Zunächst ist von 500 Menschen die Rede.
Binnen weniger Stunden tragen Dutzende Helfer Lebensmittel, Süßigkeiten,
Spielzeug, Hygieneartikel, aber auch Zigaretten zusammen und bringen
diese nach Saalfeld. Im Büro der Linken-Abgeordneten Katharina König
werden Brote geschmiert und Willkommenspakete für die Flüchtlinge
gepackt.
Angesichts dieser Hilfsbereitschaft zeigt Ramelow sich auf dem Bahnhof
überwältigt: "Ich könnte weinen vor Freude", sagte er. Die Flüchtlinge
werden zur Registrierung in eine Turnhalle gebracht. Danach bringen sie
Busse nach Dresden, Halberstadt und in eine Industriehalle in einem
Gewerbegebiet in Hermsdorf.
Die Unterbringung von rund 280 der Asylsuchenden in der Turnhalle der
Offiziersschule Dresden ist als Provisorium gedacht und auf zwei Wochen
beschränkt, sagt Oberst Helmut Baumgärtner, Kommandeur des
Landeskommandos der Bundeswehr in Sachsen. "Uns ist offiziell nichts
davon bekannt, dass noch mehr Flüchtlinge hier untergebracht werden
sollen. Unsere Kapazitäten sind auch erschöpft." Der Lehrbetrieb wird
vorübergehend eingeschränkt. Bei einem Rundgang habe er "sehr viele
Familien mit Kindern gesehen", so der Oberst, der erst am
Sonnabendmorgen davon erfahren hat, dass die Schule Flüchtlinge
aufnehmen muss. Die anderen Erstaufnahmeeinrichtungen seien ausgelastet,
so die Begründung. In Dresden betrifft das die Zeltstadt an der Bremer
Straße mit Platz für bis zu 1000 Flüchtlinge und zwei Sporthallen der
Technischen Universität, in denen für 600 Flüchtlinge Platz ist.
Tillich besucht Unterkunft
Sachsens Regierungschef Stanislaw Tillich (CDU) besucht am gestrigen
Abend die Offiziersschule. Die Flüchtlinge, so sagt er, seien gut
aufgenommen worden. Sie sollen im Auftrag des DRK von einer Drittfirma
mit Lebensmitteln versorgt werden. Die Bundeswehr will prüfen, ob sie
dabei Unterstützung leisten kann. Die Landesdirektion hat für die
Bewachung zusätzliche Kräfte eines privaten Sicherheitsdienstes
angefordert. Die Schule wird auch im Normalbetrieb von einem privaten
Dienst bewacht.
Von Tim Braune
Berlin. Die Koalitionspartner in Berlin versuchen, eine
gemeinsame Linie zu finden. Die Flüchtlingszahlen setzen aber alle
Parteien unter Druck, sich programmatisch teilweise neu aufzustellen. Im
folgenden die Kernpositionen:
CDU/CSU: Flüchtlinge mit guter Bleibeperspektive sollen schnell
arbeiten und Geld verdienen dürfen, sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge
ohne Aussicht auf Asyl dagegen möglichst ferngehalten werden. Die Union
fordert, an Asylbewerber in der Erstaufnahme kein Bargeld mehr
auszuzahlen und lehnt für sie auch eine Gesundheitskarte ab. Wer mit
seinem Asylantrag keinen Erfolg hatte, soll noch aus der Erstaufnahme
abgeschoben werden. Der Kreis der "sicheren Herkunftsstaaten" soll rasch
um Albanien, Montenegro und den Kosovo erweitert werden. Die Union
will, dass der Bund seine Hilfe für Länder und Kommunen zur
Unterbringung der Flüchtlinge aufstockt.
SPD: Die SPD beansprucht für sich, lange vor der Union vor dem
Anstieg der Flüchtlingszahlen gewarnt zu haben. Die SPD will schnellere
Asylverfahren und eine Kostenübernahme des Bundes für 50 000
Erstaufnahmeplätze. Zur Entlastung von Ländern und Kommunen soll
Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) deutlich mehr als 3 Milliarden
Euro bereitstellen - "umfassend, dauerhaft, strukturell". Gemeint ist,
dass die Finanzhilfen des Bundes automatisch steigen, sobald die
Flüchtlingszahlen anwachsen.
Linke: In einem Zehn-Punkte-Papier verlangt die Fraktion, "die
Flüchtlingsaufnahme in die maßgebliche Verantwortung des Bundes zu
legen, der die Kosten für die Dauer des Asylverfahrens und für eine
Übergangszeit nach der Anerkennung übernimmt". Asylsuchende brauchten
Zugang zu Sprachkursen und Arbeitsförderung. "Ausgrenzende Gesetze" und
Arbeitsverbote sollten aufgehoben werden, zudem sollten Flüchtlinge
"vorrangig dezentral und in eigenen Wohnungen" untergebracht werden.
Grüne: In einem Fünf-Punkte-Plan zur Flüchtlingspolitik wird vor
allem gefordert, für Arbeitsmigranten vom Balkan zusätzliche legale
Wege zu öffnen. Die Kapazitäten zur Unterbringung müssten ausgebaut,
Länder und Kommunen entlastet werden. Die Asylverfahren sollten
beschleunigt werden. Maßnahmen zur Integration wie Sprachkurse und die
Versorgung etwa durch eine Gesundheitskarte sollen verbessert werden.