Lage in Ungarn eskaliert immer mehr / Budapest verschärft Gesetze gegen Einwanderer
Von Anne-Beatrice Clasmann
Budapest. "Kommt mit uns, eure Söhne und Töchter werden es euch danken", ruft ein hochgewachsener Mann auf Arabisch in ein Megafon. Seine verschwitzten Locken kleben ihm auf der Stirn. Zehn junge Männer umringen ihn. Gemeinsam mit ihm rufen sie immer wieder: "Steht auf, steht auf, lasst uns zu Fuß nach Deutschland gehen." Etwa jeder Dritte der rund 3000 Männer, Frauen und Kinder, die hier im Budapester Ostbahnhof gestrandet sind, folgt dem Aufruf. "Los, pack die Decken zusammen und lass den Rest da", ruft ein stämmiger Syrer seiner Ehefrau zu.
In Ungarn bleiben - das wollen weder die syrischen Kriegsflüchtlinge,
die hier kampieren, noch die Afghanen, Albaner und Iraker, die in den
Unterführungen und Gängen dieses Fernbahnhofs ihre Decken ausgebreitet
haben. Vor dem Bahnhof hat sich inzwischen ein Tross formiert. Es sind
fast nur junge Männer. Sie wollen zu Fuß zur österreichischen Grenze
marschieren - grob geschätzt sind das 170 Kilometer. Sie sagen, andere
Transportmöglichkeiten gebe es nicht, seit die ungarische Polizei einen
Zug in Bicske gestoppt hat - dort gibt es in der Nähe ein
Flüchtlingslager.
Die Lage dort spitzte sich zu: Etwa 500 Flüchtlinge weigerten sich auch
gestern, den Zug auf dem Bahnhof von Bicske zu verlassen. Sie lehnten
Nahrungsmittel ab und forderten die Weiterfahrt nach Österreich, um von
dort nach Deutschland zu kommen. Einer der Flüchtlinge starb gestern:
Der 50-Jährige sei zusammengebrochen auf den Schienen gefunden worden,
berichtete eine ungarische Nachrichtenagentur. Rettungsversuche seien
vergeblich gewesen. Über die genaue Todesursache und über die Herkunft
des Mannes gab es zunächst keine Informationen.
Die ungarische Regierung hatte zuletzt Deutschland kritisiert, weil es
das sogenannte Dublin-Verfahren für Syrer ausgesetzt hat. Diese müssen
damit nicht mehr in dem Land Asyl beantragen, in dem sie zuerst
europäischen Boden betreten, sondern können dies in Deutschland tun. Aus
Sicht Ungarns erzeugt das deutsche Vorgehen eine Sogwirkung und bringt
noch mehr Flüchtlinge nach Europa.
Im Eilverfahren hat Ungarn seine Gesetze gegen Einwanderer verschärft.
Das Parlament in Budapest verabschiedete am Freitag ein von der
Regierung von Viktor Orban vorgelegtes Gesetzespaket, das unter anderem
bis zu drei Jahre Haft für illegalen Grenzübertritt vorsieht.
Eine gemeinsame Strategie der EU-Staaten in der Flüchtlingskrise ist
weiterhin nicht in Sicht. Die luxemburgische Ratspräsidentschaft äußerte
am Freitag beim Treffen der EU-Außenminister die Hoffnung, dass ein
gemeinsames Konzept im Oktober vorliegen könne. Einen ersten Schritt in
diese Richtung wollen die EU-Innen- und Justizminister am 14. September
bei einem Sondertreffen machen.
Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer hat derweil das deutsche Asylsystem
heftig wegen hoher Hürden für die Integration von Flüchtlingen
kritisiert. Es müsse dafür gesorgt werden, "dass Asylbewerber nicht
viele Monate vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden", sagte der Präsident
der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Die
steigenden Flüchtlingszahlen seien eine Chance für den Arbeitsmarkt,
sagte Kramer der "Süddeutschen Zeitung". Der Deutsche Städtetag
forderte einen raschen Ausbau der Erstaufnahme von Flüchtlingen. Die
Zahl der Plätze in winterfesten Quartieren müsse bundesweit auf 150000
erhöht werden, sagte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags,
Stephan Articus. Außerdem müssten wegen der vielen Flüchtlinge nach
Schätzungen des Städtetags in Deutschland jährlich mindestens 300000
neue Wohnungen gebaut werden.