Eine Woche des Schreckens

Erstveröffentlicht: 
29.08.2015

Der Hass von Heidenau, der Anschlag in Salzhemmendorf, die Tragödie von Österreich: Wie verändern uns diese Nachrichten? Woher kommt die Gewalt? Szenen aus einem Land, das sich selbst fremd wird.

 

Von Dirk Schmaler und Thorsten Fuchs

 

Die Jüngste war eins. So viel weiß man jetzt. Ein Mädchen, gerade 18 Monate alt, offenbar erstickt in diesem weißen Kühl-Lkw einer Wurstfabrik, irgendwo auf der Fahrt von Ungarn nach Österreich.


71 Menschen, das erklärten die österreichischen Behörden gestern, sind in diesem Lkw ums Leben gekommen. Die Polizei musste sich also korrigieren. Bis zu 50 Tote, so hatten es die Ermittler am Tag zuvor noch berichtet, hätten sie in dem Lkw auf einem Pannenstreifen an der A4 im Bezirk Neusiedl am See gefunden. Er war ihnen aufgefallen, weil Flüssigkeit aus den Türen drang. Verwesungsflüssigkeit.


Die Zahl der Opfer war zunächst eine Schätzung. Mehr, vermuteten die Ermittler, konnten unmöglich in den Kühlraum des 7,5-Tonners gepasst haben. Sie hatten sich geirrt. "Die Kollegen waren die ganze Nacht im Einsatz und haben Leichen geborgen", sagte der Polizeisprecher Helmut Marban am Freitag.


Dann kannten sie die genauen Zahlen: 62 männliche Leichen, neun weibliche. Eine trug einen syrischen Pass bei sich. Unter den Toten waren vier Kinder, außer dem Mädchen noch drei Jungen. Sie wurden drei, acht und zehn Jahre alt.


Erinnerungen an Mölln

 
Zeitgleich zu der Pressekonferenz in Österreich steht am Freitagvormittag Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil mit betroffener Miene vor Mikrofonen in Salzhemmendorf. In dem Ort nahe Hameln haben in der Nacht zuvor zwei Männer und eine Frau einen Molotow-Cocktail in ein Fenster einer Asylbewerberunterkunft geworfen. Das Zimmer brannte aus. Eine Mutter und deren drei kleine Kinder, die im Nebenraum schliefen, konnten sich retten. SPD-Politiker Weil spricht von "versuchtem Mord".


Es war der traurige Schlusspunkt einer Woche, die Deutschland womöglich nachhaltig verändern wird. Eine Woche des Leids, auf dem Mittelmeer und den anderen Routen aus den Krisengebieten dieser Welt nach Europa. Aber auch eine Woche des Hasses, die wohl viele noch vor wenigen Monaten nicht für möglich gehalten hätten. Es verging hierzulande kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo im Land Turnhallen oder Unterkünfte brannten oder angegriffen wurden, in denen Asylbewerber untergebracht werden sollten, an dem sich nicht irgendwo selbst ernannte "Asylkritiker" zu Kundgebungen oder Attacken auf Flüchtlingsunterkünfte zusammengerottet hätten. Plötzlich scheint es, als habe Deutschland doch nichts gelernt, seit Anfang der Neunzigerjahre die Asylbewerberheime brannten, in Mölln, Solingen, Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen. Wie auch damals erscheint der Staat machtlos gegen den Mob, der längst behauptet, für die schweigende Mehrheit zu stehen.


Die Hetzerin von Heidenau

 
Sie trägt rote Haare, eine Sonnenbrille, und sie hält ein Schild in der Hand: "Volksverräterin". So stand sie da, als Angela Merkel am Mittwoch die Flüchtlingsunterkunft in Heidenau besuchte, jenen Ort, an dem am vergangenen Wochenende rechtsextreme Chaoten zwei Nächte lang randalieren und Polizisten angreifen konnten. Die Frau trug nicht nur ihr Schild. Sie soll die Kanzlerin auch beschimpft haben, "blöde Schlampe" und Härteres. Sie stand dabei die ganze Zeit vor der Polizei. Niemand stoppte sie. Am Freitag erklärt die Polizei, sie ermittele jetzt wegen Beleidigung.


Ob es in Heidenau nun ruhig bleibt? Jedenfalls darf wieder demonstriert werden. Die Behörden hatten dort zunächst alle Versammlungen für das Wochenende verboten, "polizeilicher Notstand" hieß es, nicht genug Beamte. Eine Kapitulation des Rechtsstaats, kritisierten SPD, Linke, Grüne. Ausgerechnet ein Willkommensfest für die Flüchtlinge sollte ausfallen. Das Verwaltungsgericht Dresden hob das Demo-Verbot gestern teilweise auf. Die Kanzlerin kennt jetzt die Verhältnisse in Heidenau. Der Bund, versprach sie, "wird alles tun, um die sächsische Polizei zu unterstützen".


Ein Aufstand der Abgehängten?

 
Wer nach Erklärungen für den Hass sucht, kann sich umhören. Es gibt unzählige Meinungsäußerungen zur Flüchtlingsproblematik, man findet sie in Leserbriefen, in Kommentareinträgen im Internet und bei Gesprächen beim Bäcker. Man kann offen Fremdenfeindliches lesen, vor allem im Internet. Von Gaskammern ist da die Rede, kaum verklausulierte Aufrufe zum Anzünden von Asylbewerberheimen findet man auch. Die meisten allerdings sind zaghafter, sie betonen sogar, dass sie mit Nazis nichts am Hut haben. Aber.


Offenbar eint viele jener, die vor den Asylbewerberheimen grölend Bier trinken, die Hasstiraden im Internet veröffentlichen oder gegen Asylbewerber demonstrieren, vor allem eines: die Angst, dass ihnen die Flüchtlinge etwas wegnehmen - den Arbeitsplatz, öffentliches Geld, Wohnraum, auch Sicherheit.


Ist der Aufstand gegen die Flüchtlinge in einem der reichsten Länder der Welt also eigentlich ein Aufstand der Abgehängten? Oder reicht die Angst viel weiter, bis in die Mitte der Gesellschaft? Wissenschaftler und Politiker tun sich schwer, darauf schlüssige Antworten zu geben. Die Abstiegsängste existieren tatsächlich - trotz aller guten Wirtschaftszahlen. Denn die Verteilung des Geldes wird immer ungleicher. Die Reichen werden jedes Jahr reicher, die Armen ärmer. Und die breite Mittelschicht dazwischen, die gut über die Runden kommt und für politische Stabilität sorgen könnte, sie wird Jahr für Jahr kleiner. Das ist kein Grund, Asylbewerberheime anzuzünden. Aber es erklärt womöglich, warum beides gleichzeitig passiert: Es gibt die Welle der Gewalt. Aber es gibt auch die Welle der Hilfsbereitschaft. Sie ist sogar größer als je zuvor - und viel größer als jeder Mob vor einem Asylbewerberheim. Aber eben auch viel, viel leiser.


Angst vor dem Rechtsterrorismus

 
In Nauen in Brandenburg hat ein Feuer in der Nacht zu Dienstag eine Turnhalle zerstört, in der Asylbewerber untergebracht werden sollten. Die Feuerwehr konnte nichts anderes mehr tun, als die Halle "kontrolliert abbrennen" zu lassen. In Berlin ist am Mittwoch eine Turnhalle in der Nähe einer Unterkunft für 900 Flüchtlinge abgebrannt. In Aue, Sachsen, stand am Freitag Vormittag plötzlich der Dachstuhl eines Hauses in Flammen, in dem 70 Asylbewerber untergebracht waren.


In Nauen deutet vieles auf einen rechtsextremistischen Anschlag hin, Landesinnenminister Karl-Heinz Schröter (SPD) spricht von einer "erbärmlichen Tat". In Aue war es binnen weniger Tage der dritte Brand. In Berlin ist unklar, ob jemand das Feuer gelegt hat. Stets gibt es nach solchen Bränden einen Verdacht. Nicht immer ist er berechtigt. Doch auch wenn sich herausstellt, dass es für einen Brand eine andere Ursache gibt als den Wahn von Extremisten, so scheint die Tendenz klar: Die ­Behörden befürchten einen neuen Rechtsterrorismus.


Laut "Spiegel" hat das Bundesamt für Verfassungsschutz einen Fragebogen an die Länder verschickt. Das Ziel: herauszufinden, ob Rechtsextremisten die Anschläge auf Asylbewerberheime bundesweit koordinieren. Oder, ob die Gewalt gegen Fremde tatsächlich der Ausdruck eines beängstigenden Stimmungsumschwungs ist. Es ist gerade einmal neun Jahre her, da stellte sich Deutschland der Welt als Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft als weltoffenes, multikulturelles und gastfreundliches Land dar. Womöglich stellt sich in diesen Tagen heraus, was davon eine geschickte schwarz-rot-goldene Marketingkampagne war. Und was tatsächlich echt.


Todeskampf im Lastwagen

 
Die Menschen in dem weißen Lkw haben noch alles versucht. Auf der Beifahrerseite fanden die Ermittler im Burgenkreis eine meterlange Ausbeulung. Offenbar wollten die Flüchtlinge im Todeskampf die Wand durchstoßen. Doch die Schlepper, die sie in eine neue, sichere Heimat bringen sollten, haben ihre Schläge ignoriert - und den Lkw an der Autobahn abgestellt. Mindestens 24 Stunden soll er bereits dort gestanden haben, bevor die Polizei auf ihn aufmerksam wurde.


Drei Männer haben die Ermittler in Ungarn festgenommen. Sie sollen den Lkw gefahren haben. Zwei Bulgaren, einer von ihnen, offenbar der Besitzer des Fahrzeugs, libanesischer Herkunft, und einen Ungarn. Die Köpfe des Schleuserrings sind sie nicht. Bis zu sieben Ebenen, erklären Experten, umfassten große Schlepperbanden. "Derzeit", erklärt der burgenländische Landespolizeidirektor Hans Peter Doskozil, seien die Ermittler bei der "untersten Ebene".