Der Ruf nach Einwanderung ist eine Art Kolonialismus
Deutschland brauche Migranten, um Wohlstand und Renten zu sichern. Das soll weltoffen klingen, ist aber nichts als Kosten-Nutzen-Denken – eine Art von Kolonialismus mit menschlichem Antlitz. Von Henryk M. Broder
"Die Flüchtlinge sind (Menschen) wie du und ich", sagt Margot Käßmann. "Flüchtlinge sind keine Last, sondern eine große Chance", vor allem für schrumpfende Städte, sagt Oliver Junk, Oberbürgermeister der Stadt Goslar. "Es ist so, dass wir die Entwicklung bewältigen können", die Haushalte würden durch die entstehenden Kosten nicht über Gebühr belastet, sagt Wolfgang Schäuble.
Wenn dem so ist, worüber reden wir dann? Gibt es ein Problem, oder bilden wir es uns nur ein? Für Frank-Walter Steinmeier ist alles nur eine Frage der Kommunikation. Die europäische Solidarität müsse "ausbuchstabiert" werden. "Dazu gehört auch, dass wir uns verständigen über eine faire Verteilung der Flüchtlinge in Europa."
Angela Merkel ist das nicht genug. "Unsere Pflicht ist es jetzt, sowohl in den entsprechenden Regionen dafür zu sorgen, dass dort Frieden auch wieder Realität wird, aber aus unserer eigenen historischen Erfahrung ist es auch wichtig, den Menschen, deren Leben bedroht ist, Schutz und Hilfe zu geben."
Warum nicht eine Luftbrücke nach Deutschland?
Wenn es tatsächlich "unsere Pflicht" wäre, dafür zu sorgen, dass in den "entsprechenden Regionen" der Frieden ausbricht, dann müsste die Bundeswehr ausrücken. Nicht um wie in Afghanistan "die Herzen der Menschen" zu erobern, sondern um mit Waffengewalt für ein Ende des Blutvergießens in Syrien zu sorgen.
Da sie aber dazu nicht in der Lage ist, und da der Bundestag so ein Mandat nie genehmigen würde, konzentrieren wir uns darauf, "den Menschen, deren Leben bedroht ist, Schutz und Hilfe zu geben" – wenn sie nicht bereits im Meer ertrunken oder in einem Lkw erstickt sind.
Würde die Kanzlerin es wirklich so meinen, wie sie es sagt, dann hätte sie ihre Verteidigungsministerin längst angewiesen, ein paar Zeltstädte an der griechisch-mazedonischen beziehungsweise mazedonisch-serbischen Grenze zu errichten, um die Flüchtlinge mit dem Nötigsten zu versorgen: Essen, Medikamenten und einem temporären Dach über dem Kopf.
Noch effektiver wäre allerdings, wenn die Bundeswehr gleich eine Luftbrücke nach Deutschland einrichten würde, denn allem Gerede über eine "faire Verteilung der Flüchtlinge in Europa" zum Trotz wird Deutschland die Hauptlast der Katastrophe tragen müssen. Flüchtlingsströme lassen sich ebenso wenig umleiten wie Flüsse zur Zeit der Schneeschmelze.
Und was heißt hier "faire Verteilung"? Fair für wen? Mindestens 18 der 28 EU-Länder wollen keine Flüchtlinge aufnehmen. Sie fühlen sich dazu weder rechtlich noch moralisch verpflichtet. Wie will Steinmeier sie dazu zwingen? Denkt er daran, die Kavallerie in Marsch zu setzen, mit der schon Steinbrück der Schweiz gedroht hat?
Die Flüchtlinge ihrerseits haben nicht alles aufgegeben und ihr Leben riskiert, um am Ende des Weges nach Bulgarien, Rumänien oder Kroatien abgeschoben zu werden. Sie wissen, warum sie Deutschland, Schweden, Österreich und Holland vorziehen. Und man kann es ihnen nicht übel nehmen.
Umgekehrt sollte man die Willkommenskultur in ethnisch homogenen Ländern nicht überschätzen. Die Polen zum Beispiel sind sehr gastfreundlich, aber eben nur gegenüber Gästen. Sie haben keine Multikulti-Erfahrung und pflegen ihre Traditionen auf eine altmodische Weise, ohne sie zu hinterfragen.
Debatten, wie sie in Deutschland geführt werden, über Integration, Kopftuch tragende Lehrerinnen oder Islamunterricht an Schulen wären in Polen ebenso undenkbar wie die Einführung der "Ehe für alle". Die baltischen Staaten ticken ähnlich. Hätte man ihnen vor dem Beitritt zur EU gesagt, dass sie ihre nationale und kulturelle Identität radikal ändern müssen, um in den Klub aufgenommen zu werden, wären sie lieber draußen vor der Tür geblieben.
Frischzellenkur für Gesellschaft und Wirtschaft
Deutschland dagegen sieht die Flüchtlingsfrage als eine Gelegenheit, sich moralisch und ökonomisch zu rehabilitieren. Eine Art Frischzellenkur für Gesellschaft und Wirtschaft. Da ist zum einen der unvermeidliche Rekurs auf "unsere eigene historische Erfahrung", der mit schrägen Vergleichen unterlegt wird – "wir haben doch auch Millionen von Vertriebenen aus dem Osten aufgenommen!"
Zum anderen herrscht eine Kosten-Nutzen-Haltung, die so berechnend ist wie die Politik der Unternehmen, die ihre Produktion in Billiglohnländer verlagern. Nur dass diesmal die Jobs nicht exportiert, sondern die Jobber importiert werden.
"Der Migrationswille der Menschen aus den Westbalkanstaaten könnte genutzt werden, um ihn in eine reguläre Einwanderung und Integration in den deutschen Arbeitsmarkt zu kanalisieren. Die Wirtschaft verlangt nach mehr Fachkräften, und zur Sicherung unseres Wohlstands sind wir auf – je nach Berechnung – zwischen 300.000 bis 500.000 Einwanderer pro Jahr angewiesen", sagt die grüne Fachfrau für Integration und Migration, Katrin Göring-Eckardt.
Was sie da "ausbuchstabiert", ist die Antithese zu der rechten Propaganda, die Ausländer würden uns die Arbeit wegnehmen. Wären wir nicht "zur Sicherung unseres Wohlstandes und unserer Renten" auf Einwanderer "angewiesen", wie es Ex-Kanzler Gerhard Schröder gerade schrieb, würden wir keinen Gedanken darauf vergeuden, ob sie daheim bleiben oder zu uns kommen sollten. Ist das nicht eine Art von Kolonialismus mit menschlichem Antlitz?
Vizekanzler Sigmar Gabriel sieht in den Flüchtlingen ebenfalls "eine Chance für unser Land", denn "wir sind ein Land, das verliert in den nächsten Jahren ganz viele Arbeitskräfte dadurch, dass wir Gott sei Dank alle länger leben, aber leider weniger Kinder haben". Diese demografische Lücke sollen die Migranten füllen.
Als Fürstin Gloria von Thurn und Taxis vor mittlerweile 14 Jahren in einer Talkshow erklärte, "der Schwarze schnackselt halt gerne", brach ein Sturm der Entrüstung über sie herein, von dem sie sich bis heute nicht erholt hat. Bei Gabriel blieb der Shitstorm aus. Denn seine Migranten schnackseln nicht aus Spaß an der Freud, sondern um "das Land jünger und attraktiver zu machen", also zur Sicherung unseres Wohlstands. Wir lassen arbeiten, wir lassen gebären.
Kleiderspenden allein sind keine Lösung
Schon möglich, dass die Rechnung irgendwann aufgeht. Dass Deutschland ein multikulturelles, multiethnisches Land wird, in dem Sprache, Herkunft und Hautfarbe keine Rolle spielen. Leider neigen bevölkerungspolitische Experimente eher zum Scheitern als zum Gelingen. Auch der neue Mensch, der keinen Neid und keine sozialen Unterschiede kennt und alles mit seinen Nächsten teilt, hat sich als wenig belastbar erwiesen.
Deswegen sollte man die aktuelle Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen nicht überschätzen. Willkommensfeste zu organisieren und Kleiderspenden zu verteilen ist eine Sache, auf die Dauer Verantwortung zu übernehmen eine andere.
Jetzt hat die Kanzlerin das Flüchtlingsdrama zur Chefsache erklärt. "Wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden", sagte sie bei ihrer Sommer-Pressekonferenz. Als es vor Kurzem darum ging, Griechenland zu retten, meinte sie: "Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg." Ähnlich dezidiert äußerte sie sich über den Klimawandel, die Energiewende und die Zukunft der EU.
Alle Wege führen nach Berlin. Und sie enden im Bundeskanzleramt.