Vizekanzler im Flüchtlingsheim / Kommt morgen Merkel? / Leipziger Flüchtlinge wollen nicht nach Heidenau
Von jürgen kochinke, Tim Braune und Dieter Wonka
Heidenau/Berlin/Leipzig. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und
Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) haben die rassistischen Ausschreitungen
in Heidenau (Kreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge) mit scharfen
Worten verurteilt. Merkel ließ ihren Sprecher Steffen Seibert gestern in
Berlin erklären: "Es ist abstoßend, wie Rechtsextreme und Neonazis
versuchen, rund um eine Flüchtlingseinrichtung ihre dumpfe Hassbotschaft
zu verbreiten. Und es ist beschämend, wie Bürger, sogar Familien mit
Kindern, durch ihr Mitlaufen diesen Spuk unterstützen."
Gabriel besuchte die betroffene Flüchtlingsunterkunft in der
sächsischen Stadt und forderte eine harte Bestrafung für das rechte
"Pack", das für die Krawalle verantwortlich sei.
Linken-Bundesvorsitzende Katja Kipping zeigte sich gestern bei ihrem
Besuch in der umstrittenen Unterkunft beeindruckt vom Schicksal der
Flüchtlinge. Was sie gesehen habe, gehe ihr sehr nahe, sagte sie.
Rechtsextremisten und Rassisten hatten am Wochenende vor der
Notunterkunft in einem ehemaligen Baumarkt in Heidenau zwei Nächte lang
Polizisten angegriffen und Flüchtlinge bedroht. Dabei wurden mehr als 30
Polizisten verletzt.
Seit Sonntagabend ist in der Kleinstadt am südöstlichen Stadtrand von
Dresden ein Bereich eingerichtet, in dem die Polizei anlasslos
Personalien und Taschen kontrollieren kann. Seibert sagte: "Deutschland
lässt nicht zu, dass Flüchtlinge, über deren schwierige Lebenssituation
jeder durchaus einmal nachdenken sollte, von hasserfüllten Parolen
empfangen werden oder von alkoholisierten Schreihälsen bedroht werden."
Die Zunahme rechter Übergriffe auf Flüchtlingsheime bereite der
Regierung Sorgen. Allein im ersten Halbjahr zählte die Polizei gut 200
Proteste gegen Flüchtlingsunterkünfte und Übergriffe auf
Asylbewerberheime - und damit bereits etwas mehr als im gesamten
vergangenen Jahr. Gabriel machte sich gestern selbst ein Bild von der
Lage in Heidenau und sprach mit Flüchtlingen und Anwohnern. Der SPD-Chef
und Wirtschaftsminister, der als erstes Mitglied der Bundesregierung
die sächsische Stadt besuchte, verlangte eine harte Bestrafung der
Täter. "Bei uns zu Hause würde man sagen, das ist Pack, was sich hier
rumgetrieben hat", sagte er. "Für die gibt's nur eine Antwort: Polizei,
Staatsanwaltschaft und nach Möglichkeit für jeden, den wir da erwischen,
das Gefängnis."
Der Heidenauer Bürgermeister Jürgen Opitz (CDU) erklärte, die Stimmung
in der Stadt sei sehr angespannt. Heidenau mit 16500 Einwohnern sei
anders als die jüngsten Bilder vermittelt hätten. Opitz lud auch
Kanzlerin Merkel ein, sich selbst ein Bild zu machen. Einen passenden
Termin gebe es jedenfalls für sie. Morgen wird die Regierungschefin in
der nur rund 20 Kilometer entfernten Uhrmacherstadt Glashütte bei der
Übergabe einer neuen Produktionsstätte der renommierten Manufaktur Anton
Lange & Söhne erwartet. Beobachter gehen davon aus, dass sie im
Vorfeld ihrer Glashütte-Visite auch dem Flüchtlingslager einen Besuch
abstatten könnte.
Die Ereignisse rund um das Flüchtlingslager in Heidenau wirken sich
mittlerweile auch unmittelbar auf Leipzig aus. So wehrten sich gestern
Flüchtlinge, die provisorisch in der HTWK-Sporthalle im Leipziger Süden
(Arno-Nitzsche-Straße) untergebracht sind, gegen eine Verlegung nach
Heidenau. Nach Angaben der Landesdirektion sollten die Bewohner
ausziehen, weil die Halle baufällig ist. Leipziger Flüchtlinge sprachen
von "blanker Angst" vor Heidenau.
Bei einem ökumenischen Gottesdienst haben rund 200 Gläubige gestern
Abend in Heidenau ihre Sorgen zum Ausdruck gebracht. Mit den
Flüchtlingen, auch denen, die noch kommen werden, "wollen wir in Frieden
und gut leben", sagte Pfarrerin Erdmute Gustke.