Tillich kündigt hartes Vorgehen gegen Gewalttäter an / EU-Politiker Winkler sieht Mitschuld bei Europa
Von Anita Kecke, Hauke Heuer und Johannes Angermann
Dresden/Heidenau. Schlachtähnliche Szenen haben sich gestern vor einer
Unterkunft für Flüchtlinge im sächsischen Heidenau abgespielt.
Rechtsradikale und fremdenfeindliche Gewalttäter haben die dritte Nacht
in Folge randaliert und Polizisten angegriffen. Nach zwei
vorangegangenen Nächten, die von Randalen geprägt waren, hatte die
Polizei am gestrigen Abend eine Sicherheitszone um die
Asylbewerberunterkunft in einem ehemaligen Baumarkt eingerichtet. In
diesem Bereich - einem Umkreis von etwa einem Kilometer - können die
Beamten anlasslos Personen kontrollieren und Platzverweise leichter
erteilen. Etwa 250 Polizisten waren gestern im Einsatz. Zwei
Wasserwerfer wurden aufgefahren. Sachsens Ministerpräsident Stanislaw
Tillich (CDU) kündigte gestern vor Ort ein konsequentes Vorgehen gegen
die Gewalttäter an. "Mich erschüttern die Ereignisse zutiefst", erklärte
Tillich. "Wir lassen uns das nicht bieten, wir werden mit aller Macht
dagegen vorgehen."
Während bis in die Nacht hinein kleinere Gruppen aus dem rechten
Spektrum durch Heidenau zogen, versammelten sich nahe der Notunterkunft
zunächst etwa 50 Gegendemonstranten, die gegen Rassismus auf die Straße
gingen. Die Polizei ließ sie gewähren. "Mit den Linken hatten wir in den
letzten Tagen keine Probleme", erklärte Polizeisprecher Marko Laske am
frühen Abend. Da sei alles friedlich geblieben. In der Stadt waren
vereinzelt Böllerwürfe zu hören. Gegen 22 Uhr stieß eine Gruppe von 200
bis 300 Personen aus dem Antifa-Spektrum zu dieser ersten Demonstration.
Eine halbe Stunde später eskalierte die Lage, es kam es zu mehren
Zusammenstößen mit kleineren Gruppen von Rechten. Augenzeugen berichten
von wilden Schlägereien.
Die Polizei ging gegen die Randalierer mit großer Härte vor. Reizgas,
Räumschilde und Schlagstöcke kamen zum Einsatz. Auch Unbeteiligte wurden
durch Beamte abgedrängt. Gegen 23 Uhr hatten die Sicherheitskräfte die
Lage unter Kontrolle.
Heidenaus Bürgermeister Jürgen Opitz (CDU) verurteilte die Randale und
forderte die Einwohner zur Solidarität mit Flüchtlingen auf. Vizekanzler
Sigmar Gabriel (SPD) will heute die Flüchtlinge in ihrer Unterkunft
besuchen.
Auch Hermann Winkler, CDU-Europaabgeordneter aus Leipzig, verurteilte
die Gewalt. Selbstkritisch merkte er aber an: "Auch wir Europapolitiker
tragen eine Mitschuld." Europa habe keine Lösung anzubieten für das
lange bekannte Flüchtlingsproblem. Er forderte seine Kollegen auf, einen
europäischen Migrationsplan zu erstellen, sagte Winkler gestern.
Zugleich mahnte er Sanktionen an gegenüber den EU-Ländern, die kaum
Flüchtlinge aufnehmen: "Sie sollten weniger Infrastrukturhilfen
bekommen, wenn sie nicht bereit sind, in europäischer Solidarität
Verantwortung zu übernehmen."
Leitartikel Von Anita Kecke
Heidenau als Weckruf
Von Anita Kecke
Man muss es deutlich sagen: Was in Heidenau passiert, ist eine Schande
für Sachsen und für Deutschland: Verzweifelte Menschen, die vor Gewalt
und Krieg fliehen, um endlich Ruhe und Hilfe zu finden, erleben
Straßenschlachten, angezettelt von einem rechtsradikalen Mob.
Heidenau ist kein Einzelfall. Es steht in einer Reihe mit unrühmlichen
Ereignissen in Freital, Meißen, Dresden und Suhl. Beide Freistaaten,
Sachsen und Thüringen, wirken in höchstem Maße überfordert mit der
menschenwürdigen Unterbringung der Zufluchtsuchenden. Das ist beileibe
kein ostdeutsches Problem, auch westdeutsche Bundesländer stöhnen. Aber
der ausufernde Ausländerhass, die Gewaltexzesse gegen Flüchtlinge und
Polizisten, all das häuft sich in Sachsen und wirft Fragen auf, warum
die Situation gerade hier so eskaliert. Dass sich in Sachsen Hochburgen
der Rechtsextremen befinden, ist seit Langem bekannt. Auch Innenminister
Markus Ulbig weiß das. Es ist deshalb unverständlich, warum er in
Heidenau Polizisten gleich zwei Mal hintereinander offenbar
unvorbereitet in eine Schlacht mit organisierten rechtsradikalen
Gewalttätern schickte. Warum richtete er den gestern angekündigten
Kontrollbereich um die Asylunterkunft nicht schon eher ein?
Ulbig wirkt nicht nur überfordert, sondern auch allein gelassen. Bis auf
wenige Kabinettsmitglieder, wie Integrationsministerin Petra Köpping,
ging die Landesregierung lieber auf Tauchstation bei diesem schwierigen
Thema, mit dem sich kaum Lorbeeren ernten lassen. Dass dies spätestens
seit gestern nicht mehr geht, hat Regierungschef Stanislaw Tillich
erkannt und Gesicht gezeigt. Ein richtiges Zeichen. Zu hoffen ist, dass
vom Besuch in Heidenau nicht nur ein Showeffekt bleibt, und dass die
Ankündigungen, härter gegen die Täter vorzugehen, nicht im Nebel des
politischen Alltags verschwinden. Heidenau muss ein Weckruf sein.
Dazu gehört auch ein besseres Miteinander zwischen Land und Kommunen.
Die Bürgermeister fühlen sich meist überrumpelt, wenn sie kurzfristig
Unterkünfte bereitstellen sollen. Nicht nur Jürgen Opitz in Heidenau und
Leipzigs OBM Burkhard Jung haben das massiv kritisiert. Denn durch
diesen Aktionismus werden die Bürger oft zu wenig einbezogen und
mitgenommen, was eine aufgeheizte Stimmung begünstigt. Das Land schiebt
wiederum alles auf den Bund, und der auf die Europäische Union. So
entwickelt sich das Flüchtlingsdrama zu einem beschämenden
Schwarzer-Peter-Spiel. Die Politik stolpert konzeptionslos von einem
Problem zum nächsten. Dabei ist absehbar, dass auch weiterhin Menschen
aus den Konfliktgebieten Zuflucht bei uns suchen werden. Und Thüringens
Ministerpräsident Bodo Ramelow hat Recht, wenn er sagt, dass dieses
Problem allen Verantwortlichen auf die Füße fällt, wenn sie nicht
reagieren, egal, welches Parteibuch sie haben. Ergänzt werden muss noch:
Egal, ob sie im Osten oder Westen wohnen.
Die Krawalltäter dominieren zwar die Schlagzeilen. Aber es gibt auch
viele Helfer, die Willkommenskultur im Alltag buchstabieren, die für
Asylsuchende spenden, sie Deutsch lehren, sie zu Ämtern begleiten. Auch
das ist Sachsen. Auch das ist Deutschland. Zum Glück.
a.kecke@lvz.de