In Frankreich werden die Kritik und Unmut über Deutschland größer, offen wird der "Rauswurf der Deutschen" angesprochen
In Frankreich steht die sozialistische Regierung angesichts der Tatsache unter Druck, dass sie den deutschen Kurs in der Griechenland-Frage unterstützt hat. Das führte nun dazu, dass der französische Finanzminister als erstes Regierungsmitglied seinen deutschen Kollegen klar kritisiert hat. Mit dem Ausstieg würde die Büchse der Pandora aufgemacht und andere Problemländer könnten das Heil in einer Abwertung suchen. Derweil wird in der Öffentlichkeit darüber debattiert, die Deutschen "allein im tiefen Wald auszusetzen", damit sie "ganz allein mit der geliebten Euro-Mark und ihren Konvergenzkriterien" spielen können.
Wie in vielen europäischen Ländern wird auch in Frankreich mit großer Sorge über den Umgang mit Griechenland diskutiert. Während sich die konservativen Regierungen in Portugal oder Spanien auf die Seite Berlins schlagen, weil sie ihre Austeritätspolitik vor den Wahlen im Herbst als alternativlos darstellen wollen, sieht die Lage beim großen Nachbarn Deutschlands anders aus. Der massiven Kritik an der Regierung Hollande, Frankreich habe sich dem "Staatsstreich" nicht wirklich entgegengestellt ("Verrückte Forderungsliste" für einen "Staatsstreich"), versucht sie nun nachträglich mit seichter Kritik an Deutschland auszuweichen.
Mit Finanzminister Michel Sapin hat sich das erste französische Regierungsmitglied nach dem entscheidenden EU-Gipfel gegen Wolfgang Schäuble positioniert. Im ersten Interview nach diesem Gipfel macht er dies ausgerechnet im deutschen Handelsblatt. Und der Titel lautet: "Es gab einen klaren Dissens mit Schäuble." Damit zielt er aber nicht darauf ab, dass Hollande bis auf den Grexit alles geschluckt hat, denn er kapitulierte vor Berlin. Hollande nickte ab, dass die gescheiterte Austeritätspolitik weitergeht, es weder einen Schuldenschnitt noch eine Umschuldung gab, die sogar Premierminister Manuel Valls gefordert hatte und Griechenland sogar ein Art Protektorat werden soll.
Sapin kritisiert die Schäuble-Pläne für einen zeitweisen Rauswurf aus einem ganz besonderen Blickwinkel: "Wenn Sie zulassen, dass man zeitweilig ausscheren kann, bedeutet das: Jedes andere Land, das sich in Schwierigkeiten befindet, wird sich durch eine Anpassung seiner Währung aus der Affäre ziehen wollen." Nur an diese Stelle scheint es also einen "Dissens, einen klaren Dissens", gegeben zu haben. Der französische Finanzminister glaubt, dass sich Schäuble dabei "irrt und sogar in Widerspruch zu seinem tiefen europäischen Willen gerät". Denn Sapin meint, dass Schäuble den gleichen Willen habe wie er, die Euro-Zone zu stärken. Doch das, so meint der Franzose, schließt einen Ausstieg aus.
Doch Sapin verstrickt sich tief bei seinem Versuch, einerseits Schäuble zu kritisieren und andererseits nicht in den Tenor einzustimmen, die in Schäuble eine "Bedrohung für Europa" sehen. Er meint, dass er Schäubles Position sogar respektiere, die dieser "nicht aus Taktik, sondern aus Überzeugung" eingenommen habe. Doch wird damit nicht genau das Gegenteil deutlich? Wie will man die Euro-Zone mit einem Finanzminister wie Schäuble stärken, der einen Rauswurf aus Überzeugung propagiert und damit nicht nur taktisch in Verhandlungen agiert? Angeblich will er mit dem deutschen Kollegen die Euro-Zone stärker integrieren, wofür Vorschläge auf dem Tisch lägen, die mit Deutschland konkretisiert werden sollen.
Offenbar wirbt der Sozialist Sapin also im eigenen Land für Verständnis für den konservativen Deutschen. Denn dort ist die Stimmung gegen Deutsche nicht sonderlich gut. Sogar der ehemalige Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF) spricht von einem "Diktat", das Griechenland auferlegt werde. Dominique Strauss-Kahn spricht in einem offenen Brief "an seine deutschen Freunde" davon, dass so ein "verheerendes Klima" in einem vereinten Europa geschaffen werde.
In der liberalen Tageszeitung "Liberation" ging der Kolumnist Luc Le Vaillant noch deutlich schärfer mit den hässlichen Deutschen ins Gericht. Er stellt sich die Frage, warum man Griechenland aus dem Euro werfen sollte. "Wie wäre es mit einem Rauswurf der Deutschen?" Er fragt, ob man die Deutschen nicht "ganz allein stinkreich schmachten" lassen sollte, "tief im Wald ausgesetzt", um sie "allein mit ihrer geliebten Euro-Mark und ihren Konvergenzkriterien spielen zu lassen".
Er greift dabei auch auf ein Buch des Chefs der "Parti de Gauche" (Linkspartei) zurück und spricht von einem "ausgezeichnetem Pamphlet", in dem Jean-Luc Mélenchon "hübsch übertreibend analysiert, wie Deutschland aus Europa eine Apotheose der Gegenrevolution, einen christlichen Markt und eine geballte Kraft des Ordoliberalismus gemacht hat". Deutschland habe vergessen, dass ihm in den 1950er Jahren Schulden erlassen wurden: "Deutschland betreibt die Politik seiner Rentner. Es braucht einen starken Euro und hohe Dividenden. Es drückt sich um Investitionen in die Zukunft, für eine Jugend, die nicht existiert."
Deutschland profitiere weiter von der Ost-Erweiterung, denn die hat "billige Arbeitskräfte gebracht, die vom früheren sowjetischen Erziehungssystem bestens ausgebildet wurden". Und der Kolumnist hat nicht den Eindruck, dass Deutschland seinen Nachbarn viele Möglichkeiten bietet. Wenn es darum geht, dieser "von Berlin aufgezwungenen rezessiven Strenge ein Ende zu setzen", dann müsste auch ein "alternativer Weg" erforscht werden - "mit oder ohne Deutschland". Also müsse auch über einen "Germexit" nachgedacht werden, Deutschland zurückzulassen.
Die Idee für ein Ausscheiden Deutschland aus der Eurozone statt eines Grexits hat nicht nur der Liberation-Kolumnist. Erst kürzlich hatte einen "Deuexit" auch der ehemalige IWF-Direktor Ashoka Mody vorgeschlagen. Anders als Luc Le Vaillant ist Mody ein Ökonomie-Experte. Er ist derzeit Gastprofessor an der USamerikanischen PrincetonUniversität im Fach Internationale Ökonomie. Für alle Beteiligten sei es das Beste, wenn im zugespitzten Streit um die griechischen Schulden Deutschland die Euro-Zone verlässt und Griechenland im Euro bleibt, schreibt Mody in einem Gastbeitrag für Bloomberg: "It would be better for all involved, though, if Germany rather than Greece were the first to exit."
Auch er geht davon aus, dass das Leiden für Griechenland mit dem Berliner-Programm nur weitergehen wird, da weiter dieselbe ökonomische Strategie fortgeführt werde, die auch bisher gescheitert sei. Eigentlich schlägt er sich auf die Seite des griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras, der immer wieder betont hatte, dass Griechenland dazu in die Lage versetzt werden müsse, überhaupt wieder Schulden zurückzahlen zu können. Der Ex-IWF-Direktor glaubt, dass mit dem sogenannten dritten Hilfsprogramm Gläubiger wohl am Ende sogar weniger von ihrem Geld zurückbekommen, als mit einem Schuldenschnitt und einem Aufweichen der griechischen Sparpolitik: "The creditors will probably see even less of their money than they would with a package of reduced austerity and immediate debt relief."
Die Annahme von Mody ist, dass die für viele europäische Länder nötige Abwertung des Euros über eine Rückkehr Deutschlands zur D-Mark möglich wäre, womit die innere Abwertung über Lohndumping nicht weiter nötig sei, um wettbewerbsfähiger zu werden. Bei einem Deuexit würde der Wert des Euro massiv fallen und damit den Ländern an der Peripherie den nötigen Schub für ihre Wettbewerbsfähigkeit geben. "German return to the deutsche mark would cause the value of the euro to fall immediately, giving countries in Europe's periphery a much-needed boost in competitiveness." Ein schwächerer Euro würde ihnen die Chance zu einem Wachstumssprung geben.
Und sogar Deutschland hätte von der Rückkehr zur D-Mark Vorteile, obwohl sich mit einer Aufwertung der Währung natürlich die deutschen Waren dann auch im Euroraum verteuern würden. Er vermutet, dass die Exporte nur leicht zurückgehen würden, womit Deutschland aber einen Beitrag dazu leiste, seinen enormen Exportüberschuss abzubauen. Davon profitiere die Weltwirtschaft, meint Mody. Tatsächlich wird Deutschland immer wieder dafür kritisiert, mit dem immer größeren Überschuss die Weltwirtschaft zu destabilisieren. Das würde aber deutsche Firmen nur dazu animieren, wie in früheren Zeiten der D-Mark ihre Produktivität und die Produkte zu verbessern.
Da die D-Mark im Vergleich zum Euro deutlich mehr wert wäre, könnte Deutschland aber mit derselben Geldmenge deutlich mehr Produkte und Dienstleistungen in der verbleibenden Eurozone einkaufen. Das gelte natürlich bei einer Aufwertung auch für den Rest der Welt, weshalb die Deutschen mit einem Schlag reicher würden. Die Schulden im Ausland würden sinken und wären einfacher zu bezahlen
Weil eine Deutsche Mark mehr Waren und Dienstleistungen in Europa (und im Rest der Welt) kaufen könnte als ein Euro heute, würden die Deutschen plötzlich reicher. Die deutschen Anlagen im Ausland würden an Wert im Hinblick auf die teure D-Mark verlieren, aber die deutschen Schulden wären leichter zu bezahlen.
Einen Grexit sieht er eher als ein Desaster und stellt sich in die Reihe von Ökonomen, die ihn auch als "Megakatastrophe" bezeichnen. Würde es doch noch dazu kommen, würde dies Griechenland extrem hart treffen. Zwar wäre es plötzlich über eine stark abgewertete Drachme wettbewerbsfähiger, doch die ohnehin unbezahlbaren Schulden wären - weil es Euro-Schulden sind - dann noch unbezahlbarer.
Er geht wie andere Experten davon aus, dass es bei einem Grexit nicht bleiben werde, sondern früher oder später auch die hoch verschuldeten Länder Portugal und Italien zum Ausstieg gezwungen wären, wodurch es zu Staatspleiten als Dominoeffekt käme. "Were Greece to leave, possibly followed by Portugal and Italy in the subsequent years, the countries' new currencies would fall sharply in value. This would leave them unable to pay debts in euros, triggering cascading defaults."
© Ralf Streck, den 03.07.2015