«Manchmal reicht die schlechte Laune eines Funktionärs aus»

Erstveröffentlicht: 
03.08.2015

Mit David Bozzini sprach Anja Burri. 

Der Westschweizer Anthropologe David Bozzini hat zwei Jahre in Eritrea geforscht. Er sagt, was die Menschen in die Flucht treibt.

 

Sie haben von 2005 bis 2007 zwei Jahre in Eritrea gelebt. Wie muss man sich das vorstellen?

Ich lebte in der Hauptstadt Asmara mit einer jungen Familie und einem Mann zusammen, der sich als Wehrdienst­verweigerer vor der Polizei versteckte. Daneben verbrachte ich viel Zeit in Dörfern, wo es weder Strom noch fliessend Wasser gab. Dort lebten ehemalige ­Unabhängigkeitskämpfer. Zudem traf ich auf ehemalige Soldaten, die im Grenzkrieg gegen Äthiopien gekämpft hatten und nun im zivilen Nationaldienst als Lehrer arbeiten mussten. Diese Menschen haben mir Einblick in ihr Leben und das System des eritreischen Regimes gegeben und dadurch viel riskiert. Zudem habe ich an der ­Universität in Asmara unterrichtet, bis diese 2006 geschlossen wurde.

 

Sie haben untersucht, wie der Polizeistaat in Eritrea funktioniert. Was haben Sie herausgefunden?

Um die Situation zu verstehen, muss man wissen, wie der Staat entstanden ist: Nach der Unabhängigkeit Eritreas 1991 sind Guerillakämpfer an die Macht gekommen. Dieses Regime funktionierte von Beginn an nach Guerillaregeln und besass keine Kenntnisse über Diplomatie oder Demokratie. Als 1998 der Grenzkrieg mit Äthiopien ausbrach, radikalisierte sich das Regime. Seither müssen alle Frauen und Männer den zeitlich unbegrenzten Nationaldienst leisten – entweder in der Armee oder im zivilen Bereich wie Schulen oder auf Baustellen. Auch Minderjährige oder ältere Menschen können eingezogen werden. Es hat sich ein System etabliert, in dem es keine persönlichen Freiheiten gibt.

 

Das ist schwierig vorstellbar. Können Sie das erklären?

Um sicherzustellen, dass die Leute ­diesen Nationaldienst auch alle leisten, installierte das Regime ein System der Kontrolle, Unterdrückung und Repression. Das Problem dabei: Die mangelhafte staatliche Bürokratie wurde durch Willkür wettgemacht. Wenn die Polizei zum Beispiel Mühe hatte, die Papiere der Leute richtig zu kontrollieren, sperrte sie Leute ein, bestrafte sie. Ein beliebtes Mittel sind auch willkürliche Versetzungen. Als Eritreer musst du in jedem Moment damit rechnen, ans andere Ende des Landes versetzt zu werden. Als Grund reicht zum Teil die schlechte Laune eines Funktionärs.

 

Und dagegen wehrt sich niemand?

Zu einem solchen Polizeistaat gehört es auch, dass er allmählich mit der Gesellschaft selber verschmilzt, dass das System mit der Bevölkerung zusammen funktioniert.

 

Wie meinen Sie das?

Erpressen, Ausspionieren und Drohen sind nicht nur die Mittel der Behörden, sondern werden auch zwischen Nachbarn, unter Freunden und Verwandten angewandt. Will man jemanden loswerden, denunziert man diese Person. Oder man erpresst sie: Wenn du mir nicht diesen Gefallen tust, schwärze ich dich an. Zuerst werden die Leute gezwungen, die Nachbarn auszuspionieren. Dann tun sie es von sich aus und profitieren selber von diesem System. Die Solidarität wird zerstört. Das alles führt dazu, dass kein Mensch mehr frei ist. Ich finde, das eritreische System ist mit jenem der Stasi in der ehemaligen DDR zu vergleichen. Man hat nicht mehr nur Angst vor der Polizei, sondern auch vor den Nachbarn, dem eigenen Onkel.

 

Konnten Sie Gefängnisse besuchen?

Ich erhielt keinen Zugang. Aber ich habe Dutzende Menschen zu ihren Gefängnisaufenthalten befragt. Es gibt die offiziellen, sichtbaren Gefängnisse, und dann gibt es in abgeschlossenen Bereichen Container. Prozesse werden fast keine geführt, zum Teil wissen die Inhaftierten nicht einmal, warum sie im Gefängnis sind. Oft ist auch nicht klar, wie lange man eingesperrt bleibt. Das ist unglaublich belastend – und kombiniert mit der Gewalt, den schlechten Hygiene- und Platzverhältnissen kaum zu ertragen. In unterirdischen Gefängnissen verlieren die Häftlinge manchmal das Bewusstsein – weil sie fast keine Luft kriegen.

 

In Europa haben viele Leute den Eindruck, die Eritreer fliehen vor allem vor der Armut.

Eritrea ist arm. Aber die Menschen fliehen vor einem System, das ihnen jede persönliche Freiheit nimmt und dem sie völlig schutzlos ausgeliefert sind. Das sind die Fluchtgründe. Sie fliehen zum Beispiel, wenn das Militär ins Dorf kommt und Häuser zerstört. Wenn sie erpresst werden und deshalb befürchten müssen, in einen anderen Landesteil versetzt zu werden. Wenn sie im Nationaldienst einen neuen Chef erhalten, der sie schlecht behandelt.

 

Wie rekrutiert der Staat neue Führungskräfte?

Es gibt Leute, die versuchen, innerhalb des Staats Karriere zu machen. Aber das ist fast aussichtslos.

Die Funktionäre sind alle ehemalige Guerillakämpfer.

 

Man hat Angst vor der Polizei, den Nachbarn, dem eigenen Onkel.

 

Es ist fast unvorstellbar, dass ein Polizeistaat, wie Sie ihn beschreiben, einen ausländischen Forscher zwei Jahre lang einfach gewähren lässt. Wie erklären Sie sich das?

Zu der Zeit waren wir mehrere Forscher aus dem Westen. Ich war extrem vorsichtig und habe versucht, alle meine Gesprächspartner zu schützen. Aber klar, wenn das Regime gewollt hätte, hätte es zum Beispiel meine Notiz­bücher beschlagnahmen können. Das klingt jetzt paradox: Selbst bei den Funktionären des Militärs hat sich eine Art Hoffnungslosigkeit verbreitet. Auch sie sagen: Wir leben in einem Land, das am Sterben ist. Heute, nach der Veröffentlichung meiner Forschung, bin ich jedoch Persona non grata in Eritrea. Ich kann nicht mehr zurückkehren.

 

Was sagen Sie zu den neuen Berichten etwa aus Dänemark, die die Situation in Eritrea um einiges entspannter beschreiben?

Das, was ich während zwei Jahren ­erforscht habe, sieht man nicht, wenn man das Land kurz besucht. Willkür, Angst oder Erpressung sind keine sichtbaren Dinge wie Cafés oder Strassen.

 

In der Schweiz sorgen Eritreer für Unmut, wenn sie sich über Zivilschutzanlagen beschweren. Verglichen mit dem Horror, den Sie beschreiben, scheint eine solche Unterkunft vernachlässigbar.

Das absolute Fehlen von persönlicher Freiheit beschert den Eritreern in Europa Integrationsprobleme. Sie haben unrealistische Fantasien, wie diese persönliche Freiheit sein würde. Sie denken: Ich kann endlich machen, was ich will und wann ich das will. Wenn sie dann mit der Realität konfrontiert werden, mit Ausgangssperrzeiten, engen Zivilschutz­anlagen, gehen diese Illusionen kaputt.

 

(Tages-Anzeiger)