Stimmen zur Diskussion über eine mögliche Intervention der Türkei in Rojava

Nach den türkischen Parlamentswahlen vom 7. Juni und den andauernden Diskussionen um mögliche Koalitionsbildungen konkretisiert sich die innen- und außenpolitische Strategie des türkischen Staatspräsidenten Erdo­ğan immer deutlicher. Mit dem Überfall des Islamischen Staats (IS) in Kobanê am 25.6.2015 mit über 200 toten ZivilistInnen, der Tagung des Nationalen Sicherheitsrats der Türkei am vergangenen Montag und dem erstmaligem Bombardement der Kandilgebirge seit fast zwei Jahren am nächsten Tag nehmen die Praxis und Rhetorik der AKP sowie die von Erdoğan immer mehr die Züge einer „Kriegsregierung“ an. Bereits am vergangenen Freitag erklärte Erdoğan in einer Rede: „Wie hoch auch der Preis ist, wir werden niemals die Bildung eines neuen Staates an unserer Südgrenze im Norden Syriens akzeptieren.“ Nach der Tagung des Nationalen Sicherheitsrats wurden bereits dutzende Panzer und andere gepanzerte Fahrzeuge an die syrische Grenze verlagert. Im Folgenden einige Stellungnahmen zu den Diskussionen um eine mögliche Intervention von Vertretern der kurdischen Demokratiebewegung.

 

Salih Müslim: Eine grenzüberschreitende Operation würde in einer Katastrophe enden

Der Kovorsitzende der PYD Salih Muslim bewertete gegenüber der Nachrichtenagentur ANF die oben geschilderten Diskussionen. Müslim erklärte, dass eine grenzüberschreitende Operation des türkischen Staates sowohl für die Türkei als auch die gesamte Region in einer Katastrophe enden könnte: „Mit den Behauptungen der Türkei von einer grenzüberschreitenden Operation wollen sie angesichts ihrer innenpolitischen Lage einigen Stellen Botschaften übermitteln. Ich denke nicht, dass sie solch eine Operation wagen werden. Eine Intervention durch die Türkei würde den chaotischen Zustand der Region nur weiter vergrößern.“ Eine Operation würde laut Muslim zudem dem internationalen Recht widersprechen. Muslim erklärte weiter, dass der IS das Massaker in Kobanê über die Grenze von der Türkei aus verübt habe. Man habe versucht, mit einem Massaker durch den IS einen Grund für eine grenzüberschreitende Operation zu geben. Dieser Versuch sei jedoch fehlgeschlagen: „Seit zwei Jahren werden Kurden, Syrer, Assyrer und Turkmenen von Seiten des IS massakriert, aber von der Türkei kam kein Laut. Nun sind sie überrauscht über die Befreiung von Tel Abyad. Sie schlagen buchstäblich um sich, um eine Rechtfertigung [für eine Intervention] zu finden.“ Muslim betonte weiter, dass sie keinen Angriff der Türkei dulden werden: „Wir haben mit unserem Widerstand die Kräfte des Regimes vertreiben können; seit zwei Jahren leisten wir einen unvergleichlichen Kampf gegen den IS-Terror, gegen den sich selbst die Staaten nicht einen Tag gestellt haben. Wie sagen offen, dass wir uns gegen jeden verteidigen werden, der uns antasten will.“

 

Mithat Sancar: Militäroperation wird schwere Folgen haben

In einem Interview mit der kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem erklärte der Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP) aus Mardin, Mihat Sancar, dass die angedrohte Operation das Ziel verfolge, die Ent­wicklungen in Rojava zu verhindern: „Seit den letzten Tagen versuchen die Regierung und der Staatspräsident, die Operation als Unternehmen gegen den IS darzulegen. Damit wird versucht, die NATO und die USA von der Operation zu überzeugen. Doch jeder weiß, dass der IS vor einem Monat viel gefährlicher war als heute. Als der IS Tel Abyad kontrollierte, haben sie über solch eine Operation nicht nachgedacht. Es ist nicht leicht, glaubhaft zu machen, das die Operation gegen den IS gerichtet sein soll, nachdem der IS von Tel Abyad vertrieben wurde und die Sicherheitslage im Vergleich vor einem Monat nicht so gefährlich ist. (…) Die Erklärung von Russland ist auf dem Tisch. Die NATO hat keine Zusage gegeben. Die internationale Koalition hat ebenfalls nicht zugestimmt. Es gibt die PYD und YPG. Es gibt die Burkan el Firat. Soll gegen diese Krieg geführt werden? Würden sie solch ein Abenteuer wagen? Unter normalen Bedingungen und der Verfolgung einer vernünftigen Außenpolitik würde kein Staat so ein Abenteuer wagen. Doch mit dem Verlust der innenpolitischen Kraft und Hegemonie könnte sie diesen Wahnsinn wagen, um mit dem Manöver wieder an Hegemonie zu gewinnen. Das gilt insbesondere für den Staatspräsidenten Erdoğan.“

 

Aldar Xelîl: Wann hat Erdoğan denn überhaupt Syrien verlassen, dass er jetzt von neuem interveniert?

Das Mitglied der Koordination der Westkurdischen Bewegung für eine demokratische Gesellschaft (TEV-DEM) Aldar Xelil ging in einer Reportage mit der westkurdischen Nachrichtenagentur Hawar News auf die Entwicklungen hinsichtlich der türkischen Politik gegenüber Rojava ein:

„Als die Politik des türkischen Staates gegenüber Syrien und Rojava am Tiefpunkt war, hat sie auf neuen Wegen versucht, ihre Politik gegenüber den Kurden und Rojava zu führen. Im Grunde wollte der türkische Staat niemals, dass in Syrien ein demokratisches System eingeführt wird und die Kurden in Syrien die Vorreiterrolle in der demokratischen Revolution einnehmen. Die AKP führt ihre feindliche Haltung gegenüber den Kurden fort. Aus diesem Grund sieht sie es als eine große Gefahr an, dass an ihrer eigenen Grenze ein demokratisches System aufgebaut wird. Deshalb führt die AKP innerhalb von Syrien eine Politik gegen die kurdische Gesellschaft und deren Freiheit. Der Krieg, der von der AKP geführt wird, ist im Grunde ein Krieg zwischen der nationalstaatlichen, machtfokussierten Mentalität und der demokratischen Mentalität, die die kurdische Gesellschaft vertritt. Es ist bekannt, dass die Al-Nusra-Front an die Türkei gebunden ist und von allen staatlichen Institutionen der Türkei unterstützt wurde. Doch als die Al Nusra-Front zunehmend geschwächt wurde, hat sich die Türkei dem IS angenähert, um die demokratische Freiheitsbewegung der Kurden und das demokratisch-autonome System zu vernichten. Sie haben nicht davor gescheut alles Mögliche zu unterstützen, um den Kurden zu schaden. Der IS hat sehr von der AKP-Regierung profitiert. An dem Grenzübergang hat sie Unterstützung im großen Maße erhalten. (…) Wenn ich vom türkischen Staat spreche, meine ich die AKP. Denn die Völker der Türkei sind Opfer der AKP-Politik. Nachdem der IS das Massaker in Kobanê verübt hat, ist die Politik des türkischen Staates ins Leere gelaufen. Erdoğan hat mit der Intervention in Syrien ein neues Projekt hervorgebracht. Wann hat Erdoğan denn überhaupt Syrien verlassen, dass er jetzt von neuem interveniert? Erdoğan hat seit Beginn der syrischen Revolution niemals Syrien verlassen. Erdoğan möchte aufgrund seiner Niederlage bei den türkischen Wahlen eine Verwirrung erzeugen. In Nordkurdistan gibt es den rechtmäßigen Kampf der kurdischen Gesellschaft, die nun auch ins Parlament gezogen sind. Auch innerhalb der türkischen Gesellschaft mehren sich die Stimmen gegen Erdoğan. Erdoğan kann alleine keine Regierung bilden. Alle Karten von Erdoğan sind ausgebrannt. Aus diesem Grund möchte er in Rojava intervenieren. Dies bedeutet, dass Erdoğan die demokratische Verwaltung der Völker nicht akzeptiert. Falls Erdoğan in Syrien und Rojava militärisch interveniert, wird das die Türkei in die Zerstörung führen und die Gesellschaften der Türkei und Syrien aufeinanderhetzten. Es würde auch den Weg für Interventionen anderer Länder in Syrien den Weg ebenen und eine Lösung der Krise in Syrien um Jahrzehnte verschieben.“ (CA, 1.7., ISKU)

 

Quelle: Civaka Azad

 

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