Pietätlos oder respektvoll? Aktivisten bestatten in Berlin den Leichnam einer Syrerin, die auf der Flucht im Mittelmeer ertrank.
Von Marina Kormbaki
Berlin. Vielleicht kommt echter Protest nicht ohne theatralisch in Szene gesetzte Symbolik aus. Aber selten geht beides, Anliegen und Theater, so ineinander über wie an diesem Morgen im islamischen Teil des Friedhofs Berlin-Gatow.
Es steht das Begräbnis einer vierfachen Mutter aus Syrien an, die auf
dem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrank. So steht es in einer vorab
verbreiteten Erklärung. Das "Zentrum für politische Schönheit" hat dazu
eingeladen. Gekommen sind viele Medienvertreter, einige Trauergäste;
eine mit roter Kordel abgetrennte Ehrentribüne, darauf Schilder mit den
Namen von Mitgliedern der Bundesregierung, bleibt leer.
"Das ist kein Theater", sagt Stefan Pelzer, einer der Aktivisten, als er zu einer Rede ansetzt. "Das ist die Realität."
Seit Tagen schon waren an Stromkästen und auf Hauswänden in der
Hauptstadt Aufkleber zu sehen, sternengesprenkelte Europafahne auf
schwarzem Grund, darauf der Satz: "Die Toten kommen." Das klingt wie der
platte Werbespruch für einen Horrorfilm, und das ist so gewollt.
Maximale Aufmerksamkeit will das Kollektiv aus Künstlern und Kritikern
erregen, um für sein Ansinnen zu werben: eine andere Flüchtlingspolitik
an Europas Außengrenzen.
Die Gruppe ist bekannt für politische Inszenierungen, die an die
Schmerzgrenze gehen. Im vergangenen Herbst, im Jubiläumsjahr des
Mauerfalls, hat das "Zentrum für politische Schönheit" die Kreuze für
die Mauertoten in der Mitte Berlins abmontiert und an den
EU-Sperranlagen in Bulgarien wieder aufgestellt - um, wie es hieß, "auf
die Mauertoten von heute aufmerksam zu machen".
Das Sterben an Europas Grenzen ist das Thema ihres Protests. Was
geschieht mit den Leichen all jener, die Schutz in Europa suchen und
dabei den Tod finden? Mindestens 1800 Menschen sind in diesem Jahr auf
der Flucht ums Leben gekommen, schätzt die Internationale Organisation
für Migration. "Ihre Leichen werden in Plastikbeutel geschafft, in
Kühlhäusern gestapelt und in anonymen Massengräbern verscharrt", sagt
Stefan Pelzer.
Pelzer und seine Mitstreiter haben an italienischen und griechischen
Grenzorten recherchiert. Ihre Schilderungen erwecken den Eindruck, als
seien sie dort fortwährend über Leichen gestolpert. "Es war nicht
schwierig, Tote zu finden, die gibt es dort im Überfluss", berichten
sie. Die Menschen vor Ort seien dankbar für das Interesse der Deutschen.
Die Exhumierung der Leichen habe "keine Probleme bereitet".
Die Exhumierungen erfolgen, das betonen die Aktivisten, mit
Einverständnis von Angehörigen. Sie behaupten, sie wollten den Toten
ihre Würde zurückgeben - mit einer Bestattung in Deutschland, am
Sehnsuchtsort vieler, nach christlichem oder islamischem Brauch. Die
Beerdigung der Syrerin solle der Auftakt sein zu einer Reihe von
Bestattungen in Berlin.
Es lässt sich nicht mit letzter Gewissheit sagen, ob tatsächlich der
Leichnam der 34-jährigen, vierfachen Mutter aus Syrien in dem Sarg
liegt, den sechs Bestattungshelfer in die Erde lassen. Ob sich wirklich
alles so zugetragen hat, wie die Aktivisten es berichten. Demnach hat
sich die Frau mit ihrem Mann und vier Kindern vom kriegszerstörten
Damaskus aus auf den Weg nach Europa gemacht. Dieser Weg führte durch
den Sudan, Ägypten, Libyen. Dort bestiegen sie ein Boot, das vor der
italienischen Küste in Seenot geriet und kenterte, als ein Handelsschiff
zur Hilfe nahte. Der Vater, so schildert es Pelzer, hat sich und drei
seiner Kinder retten können. Die Mutter starb und mit ihr ein
zweijähriges Kind. Dessen Leiche wurde nicht geborgen. Ein zweiter,
leerer Sarg erinnert an dieses Kind. Der Vater und die überlebenden
Kinder sind nicht in Berlin-Gatow dabei, obwohl sie in Deutschland
leben. Die Ausländerbehörde, sagt Pelzer, habe ihnen die Anreise
verwehrt. "Die Frau wurde nicht von Schleusern, sondern von den
politisch Verantwortlichen hier in Berlin aufs Boot gezwungen", sagt er
noch. "Von Schreibtischtätern."
Die Geschichte der Syrerin ist eine Geschichte, wie sie sich jetzt
täglich ereignet. Eine kaum erträgliche Geschichte. Und doch: Darf man
das, im Namen der Menschlichkeit Tote instrumentalisieren, plakativ,
politisch?
Es spricht einiges dafür, dass diese Bestattung nicht nur Show ist. Zum
Beispiel die sich überschlagende Stimme des Berliner Imams Abdallah
Hajjir, als er sagt: "Ich bin hier, um einen Menschen in Würde zu
beerdigen - das ist das Mindeste, was ein Mensch für einen anderen tun
kann, wenn er schon nicht dabei helfen konnte, dass der andere am Leben
bleibt." Auch die Verkehrspolizei im bayerischen Freising trägt zur
Glaubwürdigkeit bei. Ein Sprecher sagt, dass am Freitag auf der A9 ein
italienischer Transporter angehalten worden sei. Bei der Durchsuchung
des Wagens stießen die Beamten auf zwei Särge. Die Papiere seien in
Ordnung gewesen, der Fahrer habe einen Tag später seine Reise nach
Berlin fortgesetzt - "zu unserer Beerdigung", sagen die Aktivisten.
Flüchtlingshelfer und Kirchenvertreter sprechen von Pietätlosigkeit.
Öffentlich mochte das allerdings gestern niemand sagen. Schließlich sei
die Kritik im Kern berechtigt. Und die Aktivisten antworten denen, die
ihnen die Missachtung der Totenruhe um des Effekts willen vorhalten:
"Pietätlos sind Massengräber an Europas Außengrenzen."
Der Protestforscher Prof. Dieter Rucht findet nichts Anstößiges an der
Aktion. "Die sittlichen Grenzen für politischen Protest sind weit -
Provokation ist gut und hilfreich, wenn sie eine verdrängte Debatte in
Gang setzt", sagt Rucht. Er selbst habe sich noch nicht die Frage
gestellt, was mit den Leichen der Flüchtlinge geschieht. "Jetzt
diskutieren wir darüber. Ist doch gut."