In jüngster Zeit sind die Bewegungsforscher Roland Roth und Dieter Rucht in einer Reihe von Medien zu gefragten Experten in Sachen Protest aufgestiegen. Das ist sicher auch auf ihr Buch »Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945« zurückzuführen. Es erschien im Frühling 2008 und ist fast 800 Seiten dick. Die Süddeutsche Zeitung erklärte es zum »Standardwerk«. Dieses »Handbuch« wurde nicht nur allein mit Unterstützung des Wissenschaftszentrums Berlin realisiert, das Landesamt für Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen hat auch geholfen.
Einem seiner Angestellten,
Thomas Grumke, haben es Roth und Rucht hinter dem Rücken aller
anderen Autoren ermöglicht, Neonazi-Terror als
»Aktionsrepertoire« und als »Streben nach
grundlegendem sozialen Wandel« zu bagatellisieren.
Energischen Protest gegen die verdeckte Präsenz eines
Subalternen der Staatssicherheit West in einem Projekt zur
Erforschung sozialer Bewegungen, sind Roth und Rucht mit gelassener
Souveränität begegnet: Private Briefe eines entfernten
Projektbeteiligten haben sie einfach an das Landesamt
weitergeleitet.
Roth und Rucht sind also institutionell außerordentlich gut
vernetzt. Sie stehen für fachgutachterliche Stellungnahmen
aller Art gern zur Verfügung. Wenig überraschend ist es
dabei, daß Roth und Rucht in der stets unruhigen Mai-Zeit
auch zu den Autonomen befragt werden. Klar, daß die
Bewegungsforscher mit den Autonomen nicht sehr viel anzufangen
wissen, lehnen diese doch die von Roth und Rucht in ihrem Handbuch
explizit geltend gemachte Perspektive eines »aktiven
Verfassungsschutzes« in der aktiven Bürgergesellschaft
schon deshalb ab, weil sich damit weder in Gegenwart noch in
Zukunft ein glückliches Leben beschreiben
läßt.
Kurz vor dem Kreuzberger »Revolutionären 1. Mai«
verneinte Roth in einem Interview mit der taz die Polizeifrage, ob
denn nun »am 1. Mai der Aufstand« beginne, um den
Autonomen den vieldeutigen Begriff »Rächer der
Enterbten« unterzuschieben. Damit entwirft er eine
Klischeefolie, gemixt aus Hollywood-Western und der
Märchenfigur Robin Hood. Seine Entscheidung, auf eine dumme
Frage eine dumme Antwort zu ergänzen, speist sich aus seinem
kühl kalkulierten Interesse, das politische wie soziale
Anliegen von Autonomen gar nicht erst zur Sprache zu bringen.
Anläßlich der Berliner »Action Days« stand
dann Rucht einem Moderator des Deutschlandradios Rede und Antwort.
Rucht wußte im Grunde Beruhigendes mitzuteilen. Gefragt,
»welche Zukunft« er denn den Autonomen gebe, verwies
der aktive Verfassungsschützer auf »Zahlen«, die
wohl gegenüber früheren Zeiten »nachgelassen«
haben sollen. Schlußfolgerung Rucht: Die Autonomen sind
»ein Zerfallsphänomen, würde ich sagen,
Zerfallsprodukt der 80erJahre, das aber eine gewisse
Zählebigkeit noch aufweist.«
Ich persönlich habe es zeit meines außerinstitutionellen
politischen Engagements seit dem Ende der 70er Jahre gelernt, mit
Prognosen wie diesen umzugehen, ja sie zu überleben. Deshalb
soll ihnen auch gar nicht erst widersprochen werden. Die Frage
muß aber erlaubt sein, ob denn die Professoren Roth und Rucht
mit dem den Autonomen zugeschriebenen bösen Begriff des
»Zerfallsphänomens« unzulässig von sich auf
andere schließen? Gewiß ist hier jedenfalls nur, das
sich diese beiden Mitglieder im ATTAC-Wissenschaftsrat einerseits
auf den Slogan: »Eine andere Welt ist möglich«
verpflichtet haben und andererseits mit den Institutionen
zusammenarbeiten, deren Auftrag nun mal darin besteht, genau die
»alte Scheiße« (Marx) mit allen regulären
und irregulären Gewaltmitteln aufrechtzuerhalten. Wenigstens
das muß als intellektuelles Zerfallsphänomen gelten.