Nach Rauchbombe in Grabau - Furchtbare Erinnerungen an den Anschlag in Mölln 1992

Erstveröffentlicht: 
04.01.2015

Am 23. November 1992 starben drei Menschen bei einem Anschlag auf ein von Türken bewohntes Haus. Unser Autor Günther Kahl traf die Täter – und wagte die Auseinandersetzung.

 

Mölln | Am 23. November 1992 wurde das von türkischen Bürgern der Stadt Mölln bewohnte Haus in der Ratzeburger Straße 13 nachts in Brand gesteckt. Kurze Zeit später brannte auch das Haus in der Mühlenstraße 9. Anrufe bei der Polizei endeten mit dem Hitler-Gruß. Die in den Häusern lebenden Menschen erlitten bei ihrer Flucht aus dem Flammeninferno Verbrennungen und Knochenbrüche, die 51-jährige Bahide Arslan und die Kinder Yeliz und Ayse erstickten und verbrannten. Der siebenjährige Ibrahim überlebte, eingehüllt von Bahide Arslan, in einer nassen Decke.

 

Die Brandstifter, die zu Mördern wurden, waren schnell ermittelt. Zwei junge Männer, 19 und 26 Jahre alt, der Neo-Nazi- und Skinheadszene zugehörig, wurden zu Höchststrafen verurteilt. Ihre Motive konnten nicht schlüssig erforscht werden. Zu unterschiedlich waren beide, irrlichternde Gestalten am Rande einer Gesellschaft, zu der sie keinen Zugang fanden. So richteten sie ihre Ablehnung, ihren „Fremdenhass“, auf diejenigen, denen sie keinen Zugang gestatten wollt

 

Ein Rückblick – der Prozess

 

Als am 8. Dezember 1993 nach 47 quälenden Verhandlungstagen der Vorsitzende Richter des Staatsschutzsenats am Oberlandesgericht Schleswig, Hermann Ehrich, das Urteil verkündete, war kein Geräusch aus dem voll besetzten Zuhörerraum zu hören. Die Spannung hielt über zwei Stunden an – so lange dauerte die Urteilsbegründung, warum der Neunzehnjährige – als Jugendlicher – zu einer Jugendstrafe von zehn Jahren und der sieben Jahre Ältere – als Erwachsener – zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden waren. Überrascht waren die Prozessbeobachter, Journalisten und Zuschauer nicht. Die von den Ermittlern und der Bundesanwaltschaft beschriebene Niedertracht der Angeklagten, der grausame Tod dreier Menschen, die unendliche Angst des siebenjährigen Ibrahim, der in dem Flammeninferno überlebte, die lebenslangen Folgeschäden der Frauen, die aus den Fenstern des brennenden Hauses sprangen – dies alles nahm Zuhörern den Atem.

 

Treffen mit den Angeklagten


In meinen häufigen Zusammentreffen mit den beiden Angeklagten stellte ich nicht die Frage nach der Täterschaft. Ich sprach stundenlang mit ihnen, nie mit beiden gemeinsam, um zu erfahren, wie es zu ihrem Weg in die rechtsradikale Szene gekommen war. Ihre Isoliertheit in der Untersuchungshaft machte sie bei unseren Begegnungen gesprächig. Politische Themen blieben jedoch marginal, zu dünn und plakativ das Wissen des Älteren, von Aggressionen gegen den ihn „verfolgenden“ Staat geprägt, die Gedanken des Jüngeren. Biografisches füllte die Zeit.

 

Der Ältere schien sich mit der Anklage abgefunden zu haben; ungefragt bestritt er auch mir gegenüber jegliche Schuld, routiniert wiederholte er, dass man ihm nichts beweisen könne. Sein Interesse konzentrierte sich bereits vor dem Urteil, später dann auch im Strafvollzug, mehr und mehr auf eine pragmatische Handhabung des Haftalltages.

 

Der Jüngere machte täglich Aufzeichnungen, die er mir Jahre später kurz vor seiner Entlassung aus der Haft übergab. Darin wies er jegliche Schuld an dem Verbrechen von sich und erklärte mit der Beschreibung seiner Persönlichkeit, seines Denkens, seiner Gefühle, dass er der Täter gar nicht sein könne.

Diese paranoide Abspaltung des Verbrechens von seiner „eigentlichen“, bürgerlich-harmlosen Persönlichkeit, drang nicht in sein Bewusstsein und machte ein Schuldeingeständnis unmöglich. Vielmehr suchte er akribisch nach Ermittlungsfehlern. Fixiert auf einzelne Ermittler, auf einen Racheakt „der Türken“, befürchtete er seine heimliche Liquidierung. Verschwörungstheorien besetzten ihn, er meinte Hass zu spüren, der ihm von allen Seiten entgegenschlug, sah Schriften an der Wand und zweifelte mehr und mehr an seinem eigenen Verstand. Er entdeckte die Religion für sich, übertrug Bibelzitate in seine Notizen, beklagte seine Einsamkeit und grübelte nächtelang über einen erneuten Selbsttötungsversuch.

Seine Absicht, sich bereits nach seiner Festnahme am 2. Dezember 1992 zu töten, war misslungen. Die Schnittwunden an seinem Unterarm waren, so sagte er, kein Schuldeingeständnis, sondern der Versuch, sich den Vernehmungen zu entziehen, die er als unmenschlich empfand.

 

Pflegeleichter Gefangener


Kurze Zeit, nachdem das Urteil gesprochen worden war, sagte mir der Ältere, dass er eine Fortsetzung der Gespräche für entbehrlich hielte. Er wurde zu einem „pflegeleichten“ Gefangenen, der sich voll in den Haftalltag einfügte. Nach der Verbüßung seiner fünfzehnjährigen Haftstrafe nahm er einen anderen Namen an und lebt an einem unbekannten Ort.

 

Der Jüngere aber wollte die Gespräche mit mir fortsetzen. Erst nach seiner Strafverbüßung habe ich ihn nach anfänglichen Telefonkontakten aus den Augen verloren.

Die Anschläge von Neonazis vor mehr als 20 Jahren auf Asylbewerberunterkünfte in Rostock-Lichtenhagen, Pritzier, Gudow, Kollow; in Mölln und Solingen auf Häuser türkischer Bürger, später auf die Lübecker Synagoge, dann die Verbrechen des „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU), lassen unvermindert die Fragen stellen: Warum tun die so etwas? Was hat sie so menschenverachtend gemacht? Und: Wie können wir uns wehren?

 

Der Weg zum Erkennen der Motive führt über die Täter und zwingt zur Auseinandersetzung mit ihnen. Nur durch sie können wir begreifen, woher ihr Hass rührt, damit wir wissen, was zu tun ist. Die Aufmerksamkeit, die damit den Tätern zukommt, kann kein Verständnis bei den Opfern finden, verstört und verletzt sie auch. Es ist mit Respekt hinzunehmen, wenn sie sich heute Nachfragen verweigern.