Russlands antifaschistischer Punk-Underground vor Gericht

Sokrates, Antifa-Aktivist Russland
Erstveröffentlicht: 
16.12.2014

Mit seinen tätowierten Armen und seinem rasierten Kopf  ähnelt „Sokrates“ (als Alexej Sutuga geboren), wohl kaum einem griechischen Philosophen. Doch genau wie seinen Namensvetter „Sokrates“, brachte die Politik ihn in Kollision mit den Behörden. In wenigen vergangenen Jahren stieg Sokrates zu einem lautstarken Anführer in der antifaschistischen (antifa) Punk-Community Russlands auf, einer Antwort auf die wachsenden Reihen der ultranationalistischen und neonazistischen Gruppen.

 

Nun verbüßt er, als Folge eines anscheinend inszenierten Prozesses, eine dreijährige Gefängnisstrafe.

Während sie von einigen als marginale Bewegungen eingeschätzt werden, haben faschistische und Antifa-Punk-Gruppen in gewisser Weise Einfluss in Russland ausgeübt und vielleicht sogar die höchste Ebene der russischen Medien und der Regierung erreicht.

 

Im Gefängnis nach einem verdächtigem Prozess

Die Verurteilung von Sokrates stellte eine nächtliche Schlägerei im vergangenen Januar in den Mittelpunkt. Die Behörden behaupten, dass Sokrates und drei Komplizen eine Gruppe junger Männer im Café Sbarro attackiert hätten, indem sie einen selbstgebastelten Hammer schwangen. Sokrates gab jedoch an, mit der Gruppe der Beschuldigten, die ihn in ihm den Anführer von Antifa-Kreisen erkannten, nur gesprochen zu haben. Anschließend sei die Gruppe im angrenzenden Raum in eine Prügelei verwickelt worden, wo Sokrates interveniert und die Kämpfer getrennt habe.

 

Ein Bericht von Mediazona, einer Watchdog-Seite für Gefängnisrechte, fand zahlreiche verdächtige Details in dem Fall. Höchst bemerkenswert ist, dass die drei Männer, die angaben, von Sokrates attackiert worden zu sein, an Neonazi-Zusammenkünften teilgenommen und in zahllosen früheren Prozessen gegen Antifaschisten ausgesagt haben. Dokumente des Gerichtes trugen falsch zugeordnete Daten, einige davon vor dem angeblichen Angriff, was Rechtsexperten dazu veranlasste anzunehmen, dass der Prozess extra für Sokrates zurecht gezimmert worden sei. Vor kurzer Zeit wurde seine Berufung abgelehnt, weil sie zu spät eingebracht worden sei, obwohl der Anwalt von Sokrates behauptet, dass die Regierung das Datum auf dem Dokument wiederum geändert habe, um eine Wiederaufnahme des Prozesses zu verhindern.

Die verstärkte Profilierung von Sokrates könnte die negative Aufmerksamkeit der Regierung auf sich gezogen haben. Seine Rolle als Führungsfigur innerhalb der Antifa-Community, einer äußerst Kreml-kritischen Gruppierung, hat im letzten Jahr merklich an Bedeutung gewonnen. Die Behörden sprachen ihn von einzelnen Anklagepunkten unter demselben Amnestie-Gesetz frei, das auch Mitglieder von Pussy Riot befreite. Die daraus resultierende breite Medienaufmerksamkeit brachte Sokrates ein Interview mit dem einzigen unabhängigen TV-Kanal Russlands, TV Doschd, ein, wo er sich für die Rechte von Gefangenen einsetzte.

 

Russlands antifaschistische Internetpräsenz im Untergrund

 

Das RuNet hat sich schon früher hinter Sokrates gestellt, indem es einen Spendenfonds im Internet einrichtete, um ihn während einer früheren Gefängnisstrafe zu unterstützen. Als Antwort darauf schrieb er eine Reihe von Briefen an die Antifa-Community aus dem Gefängnis, welche von den Websites der Bewegung in Umlauf gebracht wurden. Die Antifa-Community hat eine breite und vielfältige Internetpräsenz, wobei die Mitglieder alle Medienformen nutzen, um eine ganze Bandbreite von Ideologien zu verbreiten, geeint durch die gemeinsame Opposition gegenüber Rassismus, Homophobie und Totalitarismus. Viele dieser Gruppen sind Ableger von ähnlichen westlichen Gruppen wie  SHARP und  RASH. Ähnlich wie westliche Antifa-Gruppierungen produzieren und teilen die russischen Aktivistinnen und Aktivisten  Punkrock, Zeitschriften, Kunst and Film , die mit der Antifa-Bewegung-in Zusammenhang stehen.

 

Es gibt Gründe für den Verdacht, dass derzeit Ultra-Nationalisten und Neonazis innerhalb der russischen Medien arbeiten könnten. Die Verurteilung von Sokrates gründete sich weitgehend auf fotografisches Beweismaterial, das am Tatort gefunden und von der Online-Nachrichtenagentur Ridus veröffentlicht worden war. Seltsamerweise wurde das Foto erst nach Prozessbeginn gepostet, mehrere Monate nach dem Vorfall, was nahelegt, dass es zwischen den russischen Behörden und Ridus geheime Absprachen gegeben haben könnte.

Nazi-Watchdog-Sites und Mediazona haben festgestellt, dass der stellvertretende Herausgeber von Ridus, Andrei Gulutin, Verbindungen zu neonazistischen und ultra-nationalen Gruppen hat. Früher war Gulutin Schlagzeuger bei zwei prominenten ultranationalistischen Punkgruppen, Gangs of Moscow und Right Hook. Er unterhielt auch enge Beziehungen zu Russian Way, einer ultra-nationalistischen Gruppe, deren Leiter später die Neonazi-Gruppe BORN gründete.

 

Russlands Antifa-Vergangenheit

 

Die Verfolgung antifaschistischer Musiker_innen und Aktivist_innen ist in Russland nichts Neues. Die ersten westlichen Heavy Metal Gruppen, die in der Sowjetunion populär wurden, sahen sich nach Anschuldigungen wegen Neonazismus seitens der Regierung mit Zensur konfrontiert. (Einige verbanden komischerweise das Doppel-s im KISS-Logo mit dem Abzeichen der SS der Nazis.) Stümperhafte Übersetzungen von Polizeidokumenten ließen sogar darauf schließen, dass einige Offiziere Männer mit Pferdeschweif als „Skinheads“ identifizierten. In jüngster Vergangenheit zog die Verhaftung und Gefängnisstrafe von Pussy Riot weltweite Aufmerksamkeit auf seriöse Antifa-Gruppierungen und ihren Einsatz gegen Putins Herrschaft auf sich. Die Polizei nahm andere Antifa-Aktivist_innen fest, besonders den Krim-Demonstranten Aleksandr Kolchenko und den Studenten Aleksei Olesinov. Antifa-Punkkonzerte sind ständig von der Absage durch die „Abteilung für Extremismusabwehr“ der russischen Polizeibehörde bedroht.

 

Russlands offizieller Standpunkt gegen Neonazis und Ultra-Nationalisten ist eindeutig. Putin sagt, dass diejenigen, die „Russland den Russen“ skandieren, „Narren und Provokateure“ sind. Aber Moskaus Engagement bei der Verteidigung des Janukowitsch-Regimes, der Annexion der Krim und der Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine hat die nationalistischen Gefühle in Russland aufgeschaukelt, und ultra-nationalistische und Neonazi-Gruppen sind aktiver geworden.

 

Ultranationalistische und Antifa-Punkkultur spielt eine überraschende Rolle bei der Gestaltung der aktuellen russischen Politik- und Medienlandschaft. Zwei relativ Unbekannte in Moskau 1980, Eduard Limonow und Wladislaw Surkow, hatten beide Wurzeln in der frühen russischen Gegenkultur und im Punkrock und würden weiterhin beträchtlichen Einfluss in Russland ausüben. Limonow war unter anderem ein prominenter Romancier der Avantgarde und führte in den 2000-er Jahren die Nationalbolschewistische Partei, eine ultra-nationalistische Partei, die teilweise aus Skinheads zusammengesetzt war. (Die politische Partei wurde schließlich verboten.) Limonow hat immer noch Einfluss in Russland, indem er Beiträge für prominente Zeitschriften liefert und politische Treffen veranstaltet.

 

Surkow drang viel weiter in den Kreml vor und wurde erster Stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung des Präsidenten und später Vize-Ministerpräsident. Obwohl viele ihn als wichtigsten Architekten des modernen politischen System Russlands betrachten, hat Surkow seine Punkrock-Wurzeln nie hinter sich gelassen. Während er für den Kreml arbeitete, schrieb er angeblich als Ghostwriter die Texte für die prominente russische Band Agata Kristi.

 

Eine ungewisse Zukunft für die russische Antifa-Bewegung

 

Während ihr Einfluss nicht unerheblich ist, sind ultranationalistische und Antifa-Gruppierungen nur bei einer Minderheit in Russland noch beliebt. Viele kritisieren sowohl die ultranationalistischen als auch die antifaschistischen Gruppen wegen ihrer Gewaltbereitschaft. Für den Laien sind die Symbole und das äußere Erscheinungsbild beider Bewegungen überdies nahezu nicht zu unterscheiden.

Ausländische Punkgruppen beklagen, dass es nahezu unmöglich sei, in Russland ohne Security auf Tournee zu gehen, da Schlägereien zwischen Neonazis und Antifa-Gruppen häufig tödlich enden. Antifa-Musikgruppen konnten auch keine breite Hörerschaft etablieren. Sogar Pussy Riot, die vielleicht bekannteste russische Band der Welt (und sicherlich die populärste Antifa-Gruppe) hat auch nur sieben Songs für ein begrenztes Publikum herausgebracht.

Gehörte die Vergangenheit Leuten wie Limonow und Surkow, so ist nicht klar, was die Zukunft für Leute wie Sokrates bringen wird. Sein Prozess ist in den Augen vieler ein schwerer Rückschlag für die russische Antifa-Bewegung und für die persönliche Reputation von Sokrates. Wie die Gruppe weiter vorwärts kommt, wird davon abhängen, wie gut es ihm gelingt, seine Anhänger um sich zu scharen. Hinter Gittern wird er dabei vermutlich auf die Kommunikation über das Internet angewiesen sein.

 

Autor: Lewis May
Quelle: Global Voices Online, 7. November 2014
Übersetzung: Euromaidan Press auf Deutsch