Die neue Lust am Helfen

Erstveröffentlicht: 
29.11.2014

Gibt es sie doch, die viel zitierte Willkommenskultur? Die Flüchtlingskrise weckt in Familien, Studenten, Pensionären ungeahnte Solidarität - und Tatkraft

 

Von Dirk Schmaler und Hannes Lintschnig

 

Eigentlich wollte Navid Zaland berühmt werden. Als Musiker in Afghanistan. Nun sitzt er in der Küche einer Wohngemeinschaft in Lübeck und ist froh, dass er dem kurzen, trügerischen Ruhm in seiner Heimat entkommen ist. Mit dem Deutsch wird es besser, auch die studentischen Gepflogenheiten seiner Mitbewohner nimmt der 27-Jährige begierig auf. "Wir treffen uns fast jeden Abend in der Küche, kochen gemeinsam und spielen Karten", sagt der Pädagogikstudent Arno Gerß. Er und seine Mitbewohnerin Telse Fabricius sind ein kleines Wagnis eingegangen. Sie haben ihr freies WG-Zimmer nicht an einen Mitstudenten vermietet, sondern an einen Flüchtling. An Navid.


Die WG-Bewohner hatten gehört von den überfüllten Asylunterkünften, von den fehlenden Integrationskursen und der schlechten Betreuung, der mangelnden Perspektive für so viele Menschen, die in diesen Tagen nach Deutschland fliehen. Sie wollten handeln, die Not etwas lindern und auch etwas erfahren über die Menschen, die nun in Deutschland leben. "Wie sollen sich Flüchtlinge denn sonst integrieren und die Sprache lernen, wenn sie nicht mitten in der Gesellschaft leben?", fragt Telse Fabricius.


Es ist eine bewegende Geschichte, die Navid aus dem bergigen Afghanistan in die norddeutsche Wohngemeinschaft gebracht hat: Vor etwa einem Jahr tritt Navid in der afghanischen Variante von "Deutschland sucht den Superstar" auf. Die Zuschauer mögen ihn. Er musiziert sich fast bis ins Finale. Irgendwann bekommt er eine SMS von seinem Vater: "Komm bloß nicht nach Hause." Die Taliban warteten dort auf ihn. Denen gefalle nicht, dass er die Mädchen zum Tanzen bringt. In Afghanistan, wo die Fundamentalisten wieder an Macht gewinnen, kann solch unbeschwertes Treiben schon wieder den Tod bringen.


Der Musiker aus dem Fernsehen wird über Nacht zum Flüchtling. Er schafft es bis nach Deutschland, hier hat er Verwandte. Es folgt die übliche Prozedur: Drei Monate in einer Erstaufnahmeeinrichtung, anschließend ein Bett in einem Asylbewerberheim. Es ist das Schicksal von Tausenden. Sie sind zwar in Sicherheit, aber gut ergeht es ihnen oft nicht.


Navid aber hat Glück. Weil sich Menschen wie Alexander Bigerl Gedanken gemacht haben. "Studenten ziehen gerne in WGs, damit sie viel vom Leben in der Stadt mitbekommen und nicht alleine sind", sagt Bigerl vom ASta der Uni Lübeck. Ein Prinzip, das anderen Neulingen in der Stadt eigentlich auch zusagen müsste. Bigerl knüpfte Kontakte zu Flüchtlingsinitiativen und entwickelte das Projekt "WG gesucht". Navid ist der erste Flüchtling, der vermittelt wurde.


Die Geschichte des Afghanen Navid ist aber auch eine Geschichte über die Deutschen im Jahr 2014. Über eine neue Hilfsbereitschaft, womöglich sogar eine veränderte Mentalität, die dieses Land der Bürokratie und des Jägerzauns plötzlich an den Tag legt. Zäune verschwinden im Angesicht der Not, nicht nur in der Lübecker WG.


Während die Politik und überforderte Verwaltungen über Finanzierungsfragen und Standorte für Flüchtlingsheime streiten, packen immer mehr Bürger selbst an. Überall in der Republik bilden sich Initiativen, erwachsen kreative Ideen, wie man konkret helfen kann. Bürgerinitiativen setzen durch, dass Flüchtlinge Bibliotheken kostenlos nutzen können, Münchener Medizinstudenten betreuen Flüchtlinge, denen per Gesetz nur eine Notversorgung gewährt wird. In Regensburg bringen pensionierte Lehrer Asylbewerbern die deutsche Sprache bei, helfen bei Behördengängen. Bis Ostern 2015 sollen in ganz Bayern 2000 ehemalige Lehrer ehrenamtlich helfen.


Es scheint, als gäbe es sie plötzlich wirklich, die Willkommenskultur, die lange Jahre nicht mehr als eine beliebte Vokabel für Sonntagsreden zu sein schien. Nicht auf den Ämtern vielleicht, und auch nicht in allen Flüchtlingsunterkünften. Aber in den Köpfen vieler Menschen. Sollten die Deutschen aus den neunziger Jahren gelernt haben, als nach der Flüchtlingswelle vom Balkan Flüchtlingsheime brannten und Asylgesetze verschärft wurden?


Die Antwort ist nicht ganz eindeutig, schon weil es "die Deutschen" so nicht gibt. Auch heute tönen die Stimmen, die Angst vor Flüchtlingen schüren. In Dresden waren am vergangenen Montag mehr als 5000 Menschen auf der Straße, um gegen "Überfremdung" zu demonstrieren. Bundesweit registrieren die Sicherheitsbehörden einen deutlichen Anstieg der Angriffe auf Flüchtlingsheime. Es gibt sie noch, die wütenden Bürger, die in Flüchtlingen vor allem eine Bedrohung des eigenen Wohlstandes oder des eigenen Stadtviertels sehen. Die sich von ihren Stadtverwaltungen übergangen fühlen, vielleicht sogar manchmal zu Recht. Und doch ist etwas anders: Ihnen stehen so viele praktisch helfende Bürger gegenüber wie vielleicht noch nie in diesem Land.


Es gibt dazu keine Statistik. Aber wenn man mit Menschen spricht, die mit Flüchtlingshilfe zu tun haben, hört man Überwältigung heraus. Bei Luise Amtsberg etwa. Sie ist flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag. "Die Anteilnahme der Bürger beeindruckt mich zutiefst", sagt die 30-Jährige. Früher sei sie bei Flüchtlingsthemen oft auf Desinteresse gestoßen. Heute kann sie sich vor Hilfsanfragen kaum retten, hat eine zusätzliche Arbeitskraft in ihrem Wahlkreisbüro in Kiel eingestellt, um die Hilfsangebote zu koordinieren: "Es gibt so viele Anfragen von Bürgern, die helfen wollen, diese Kraft muss man nutzen." Es ist überall ähnlich: Lehrer fragen, wo sie Flüchtlingen Deutsch beibringen können. Bürger wollen Möbel und Kleidung abgeben. Mütter wollen mit Flüchtlingskindern malen oder Musik machen. Rentner melden sich als Paten. Es seien vorwiegend keine politisch oder in der Flüchtlingsarbeit aktiven Menschen, sondern Bürger, die einfach helfen wollen, sagt Amtsberg.


Aber woran liegt das, dass so viele Deutsche sich den Fremden heute zuwenden? Martin Patzelt hat vielleicht eine Erklärung. Der CDU-Bundestagsabgeordnete aus Frankfurt (Oder) ist der Meinung, dass vor allem die schrecklichen Bilder und Berichte aus den Kriegen in Syrien und im Irak die Sichtweise verändert haben. "Das Leid ist so existenziell und so nah, dass viele das Gefühl haben, wir können uns da nicht raushalten", sagt der 68-Jährige. "Das macht etwas mit unserem Bewusstsein."


Der ehemalige Oberbürgermeister von Frankfurt hat vor Monaten einen Vorschlag gemacht, der so viel Zustimmung wie harsche Ablehnung erfuhr. In einem offenen Brief rief er Mitbürger auf, in ihren Häusern und Wohnungen Flüchtlinge aufzunehmen. Viele Politiker reagierten sehr reserviert. "Ich habe gemerkt, dass die Politik nicht an die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung glaubt", sagt er. Doch die Gesellschaft sei viel weiter. Weniger ängstlich, weniger zögerlich. "Ich habe viele Briefe bekommen von Bürgern, die ihre Zimmer für Flüchtlinge ausgeräumt haben. Ich hatte das Gefühl, diese Menschen sind glücklich, weil sie helfen können."


So wie Judith Aßländer. Die 37-jährige Würzburgerin wollte nicht länger zusehen, wie Flüchtlinge in beengten Unterkünften ohne soziale Kontakte nach außen lebten. Sie rief ihren Mann und die vier Söhne zusammen und schlug vor, jugendliche Flüchtlinge aufzunehmen. "Ich wollte Verantwortung übernehmen und was voranbringen", sagt sie. Seither haben 15 Minderjährige bei ihr gewohnt, zurzeit sind es zwei Afghanen und ein Somalier. Diakonie und Jugendamt unterstützen sie finanziell.


Mittlerweile saß Aßländer bei "Maischberger", um ihre Geschichte zu erzählen, auch der Vorschlag Patzelts ist nun in den Staatskanzleien ein Thema. Für Patzelt geht es längst nicht mehr nur um die Flüchtlingshilfe, sondern auch um einen mentalen Wandel der Deutschen. Sie könnten erfahren, dass es großes Glück bedeutet, weltoffen zu sein und das Fremde im eigenen Land als Bereicherung zu erfahren. "So zynisch es klingt", sagt der CDU-Politiker, "aber die Herausforderung, die Flüchtlinge gut aufzunehmen, ist für unsere Gesellschaft eine große Chance."