Gibt es sie doch, die viel zitierte Willkommenskultur? Die Flüchtlingskrise weckt in Familien, Studenten, Pensionären ungeahnte Solidarität - und Tatkraft
Von Dirk Schmaler und Hannes Lintschnig
Eigentlich wollte Navid Zaland berühmt werden. Als Musiker in Afghanistan. Nun sitzt er in der Küche einer Wohngemeinschaft in Lübeck und ist froh, dass er dem kurzen, trügerischen Ruhm in seiner Heimat entkommen ist. Mit dem Deutsch wird es besser, auch die studentischen Gepflogenheiten seiner Mitbewohner nimmt der 27-Jährige begierig auf. "Wir treffen uns fast jeden Abend in der Küche, kochen gemeinsam und spielen Karten", sagt der Pädagogikstudent Arno Gerß. Er und seine Mitbewohnerin Telse Fabricius sind ein kleines Wagnis eingegangen. Sie haben ihr freies WG-Zimmer nicht an einen Mitstudenten vermietet, sondern an einen Flüchtling. An Navid.
Die WG-Bewohner hatten gehört von den überfüllten Asylunterkünften, von
den fehlenden Integrationskursen und der schlechten Betreuung, der
mangelnden Perspektive für so viele Menschen, die in diesen Tagen nach
Deutschland fliehen. Sie wollten handeln, die Not etwas lindern und auch
etwas erfahren über die Menschen, die nun in Deutschland leben. "Wie
sollen sich Flüchtlinge denn sonst integrieren und die Sprache lernen,
wenn sie nicht mitten in der Gesellschaft leben?", fragt Telse
Fabricius.
Es ist eine bewegende Geschichte, die Navid aus dem bergigen Afghanistan
in die norddeutsche Wohngemeinschaft gebracht hat: Vor etwa einem Jahr
tritt Navid in der afghanischen Variante von "Deutschland sucht den
Superstar" auf. Die Zuschauer mögen ihn. Er musiziert sich fast bis ins
Finale. Irgendwann bekommt er eine SMS von seinem Vater: "Komm bloß
nicht nach Hause." Die Taliban warteten dort auf ihn. Denen gefalle
nicht, dass er die Mädchen zum Tanzen bringt. In Afghanistan, wo die
Fundamentalisten wieder an Macht gewinnen, kann solch unbeschwertes
Treiben schon wieder den Tod bringen.
Der Musiker aus dem Fernsehen wird über Nacht zum Flüchtling. Er schafft
es bis nach Deutschland, hier hat er Verwandte. Es folgt die übliche
Prozedur: Drei Monate in einer Erstaufnahmeeinrichtung, anschließend ein
Bett in einem Asylbewerberheim. Es ist das Schicksal von Tausenden. Sie
sind zwar in Sicherheit, aber gut ergeht es ihnen oft nicht.
Navid aber hat Glück. Weil sich Menschen wie Alexander Bigerl Gedanken
gemacht haben. "Studenten ziehen gerne in WGs, damit sie viel vom Leben
in der Stadt mitbekommen und nicht alleine sind", sagt Bigerl vom ASta
der Uni Lübeck. Ein Prinzip, das anderen Neulingen in der Stadt
eigentlich auch zusagen müsste. Bigerl knüpfte Kontakte zu
Flüchtlingsinitiativen und entwickelte das Projekt "WG gesucht". Navid
ist der erste Flüchtling, der vermittelt wurde.
Die Geschichte des Afghanen Navid ist aber auch eine Geschichte über die
Deutschen im Jahr 2014. Über eine neue Hilfsbereitschaft, womöglich
sogar eine veränderte Mentalität, die dieses Land der Bürokratie und des
Jägerzauns plötzlich an den Tag legt. Zäune verschwinden im Angesicht
der Not, nicht nur in der Lübecker WG.
Während die Politik und überforderte Verwaltungen über
Finanzierungsfragen und Standorte für Flüchtlingsheime streiten, packen
immer mehr Bürger selbst an. Überall in der Republik bilden sich
Initiativen, erwachsen kreative Ideen, wie man konkret helfen kann.
Bürgerinitiativen setzen durch, dass Flüchtlinge Bibliotheken kostenlos
nutzen können, Münchener Medizinstudenten betreuen Flüchtlinge, denen
per Gesetz nur eine Notversorgung gewährt wird. In Regensburg bringen
pensionierte Lehrer Asylbewerbern die deutsche Sprache bei, helfen bei
Behördengängen. Bis Ostern 2015 sollen in ganz Bayern 2000 ehemalige
Lehrer ehrenamtlich helfen.
Es scheint, als gäbe es sie plötzlich wirklich, die Willkommenskultur,
die lange Jahre nicht mehr als eine beliebte Vokabel für Sonntagsreden
zu sein schien. Nicht auf den Ämtern vielleicht, und auch nicht in allen
Flüchtlingsunterkünften. Aber in den Köpfen vieler Menschen. Sollten
die Deutschen aus den neunziger Jahren gelernt haben, als nach der
Flüchtlingswelle vom Balkan Flüchtlingsheime brannten und Asylgesetze
verschärft wurden?
Die Antwort ist nicht ganz eindeutig, schon weil es "die Deutschen" so
nicht gibt. Auch heute tönen die Stimmen, die Angst vor Flüchtlingen
schüren. In Dresden waren am vergangenen Montag mehr als 5000 Menschen
auf der Straße, um gegen "Überfremdung" zu demonstrieren. Bundesweit
registrieren die Sicherheitsbehörden einen deutlichen Anstieg der
Angriffe auf Flüchtlingsheime. Es gibt sie noch, die wütenden Bürger,
die in Flüchtlingen vor allem eine Bedrohung des eigenen Wohlstandes
oder des eigenen Stadtviertels sehen. Die sich von ihren
Stadtverwaltungen übergangen fühlen, vielleicht sogar manchmal zu Recht.
Und doch ist etwas anders: Ihnen stehen so viele praktisch helfende
Bürger gegenüber wie vielleicht noch nie in diesem Land.
Es gibt dazu keine Statistik. Aber wenn man mit Menschen spricht, die
mit Flüchtlingshilfe zu tun haben, hört man Überwältigung heraus. Bei
Luise Amtsberg etwa. Sie ist flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen
im Bundestag. "Die Anteilnahme der Bürger beeindruckt mich zutiefst",
sagt die 30-Jährige. Früher sei sie bei Flüchtlingsthemen oft auf
Desinteresse gestoßen. Heute kann sie sich vor Hilfsanfragen kaum
retten, hat eine zusätzliche Arbeitskraft in ihrem Wahlkreisbüro in Kiel
eingestellt, um die Hilfsangebote zu koordinieren: "Es gibt so viele
Anfragen von Bürgern, die helfen wollen, diese Kraft muss man nutzen."
Es ist überall ähnlich: Lehrer fragen, wo sie Flüchtlingen Deutsch
beibringen können. Bürger wollen Möbel und Kleidung abgeben. Mütter
wollen mit Flüchtlingskindern malen oder Musik machen. Rentner melden
sich als Paten. Es seien vorwiegend keine politisch oder in der
Flüchtlingsarbeit aktiven Menschen, sondern Bürger, die einfach helfen
wollen, sagt Amtsberg.
Aber woran liegt das, dass so viele Deutsche sich den Fremden heute
zuwenden? Martin Patzelt hat vielleicht eine Erklärung. Der
CDU-Bundestagsabgeordnete aus Frankfurt (Oder) ist der Meinung, dass vor
allem die schrecklichen Bilder und Berichte aus den Kriegen in Syrien
und im Irak die Sichtweise verändert haben. "Das Leid ist so
existenziell und so nah, dass viele das Gefühl haben, wir können uns da
nicht raushalten", sagt der 68-Jährige. "Das macht etwas mit unserem
Bewusstsein."
Der ehemalige Oberbürgermeister von Frankfurt hat vor Monaten einen
Vorschlag gemacht, der so viel Zustimmung wie harsche Ablehnung erfuhr.
In einem offenen Brief rief er Mitbürger auf, in ihren Häusern und
Wohnungen Flüchtlinge aufzunehmen. Viele Politiker reagierten sehr
reserviert. "Ich habe gemerkt, dass die Politik nicht an die
Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung glaubt", sagt er. Doch die
Gesellschaft sei viel weiter. Weniger ängstlich, weniger zögerlich. "Ich
habe viele Briefe bekommen von Bürgern, die ihre Zimmer für Flüchtlinge
ausgeräumt haben. Ich hatte das Gefühl, diese Menschen sind glücklich,
weil sie helfen können."
So wie Judith Aßländer. Die 37-jährige Würzburgerin wollte nicht länger
zusehen, wie Flüchtlinge in beengten Unterkünften ohne soziale Kontakte
nach außen lebten. Sie rief ihren Mann und die vier Söhne zusammen und
schlug vor, jugendliche Flüchtlinge aufzunehmen. "Ich wollte
Verantwortung übernehmen und was voranbringen", sagt sie. Seither haben
15 Minderjährige bei ihr gewohnt, zurzeit sind es zwei Afghanen und ein
Somalier. Diakonie und Jugendamt unterstützen sie finanziell.
Mittlerweile saß Aßländer bei "Maischberger", um ihre Geschichte zu
erzählen, auch der Vorschlag Patzelts ist nun in den Staatskanzleien ein
Thema. Für Patzelt geht es längst nicht mehr nur um die
Flüchtlingshilfe, sondern auch um einen mentalen Wandel der Deutschen.
Sie könnten erfahren, dass es großes Glück bedeutet, weltoffen zu sein
und das Fremde im eigenen Land als Bereicherung zu erfahren. "So zynisch
es klingt", sagt der CDU-Politiker, "aber die Herausforderung, die
Flüchtlinge gut aufzunehmen, ist für unsere Gesellschaft eine große
Chance."