Dresden. Gestern Abend vor der Altmarkt-Galerie in Dresden: eine große Menschenmenge, Deutschlandfahnen und Transparente, die "Mut zur Wahrheit" fordern. René Jahn greift zum Mikrofon: "Ich stelle fest, wir sind wieder mehr geworden."
Dann folgt eine Rechtfertigung. "Radikale Islamisten sind keine Rasse - also sind wir keine Rassisten." Und: "Wir lieben unsere Nation und sind gegen Sozialismus - also sind wir keine Nazis." Die Menge applaudiert. Der Applaus verstärkt sich, als Jahn sich gegen Asylmissbrauch, aber für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen ausspricht.
"Wir sind gegen IS, PKK, Al Kaida oder wie sie alle heißen." Man sei für ein friedliches und weltoffenes Europa - und für den Erhalt des jüdisch-christlichen Abendlandes. Schließlich brandet Jubel auf: "Es muss uns möglich sein, öffentlich die Liebe zu unserem Vaterland zum Ausdruck zu bringen."
Die Rede ist nur kurz, dann setzt sich der Demonstrationszug der Initiative Pegida schweigend in Bewegung. "Ruft keine Parolen", ruft René Jahn. "Und gebt keine Interviews. Euch wird definitiv das Wort im Mund herumgedreht." Pegida steht für "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes". Es ist Herbst, und in Sachsen grassiert wieder Fremdenangst.
Vor einem Jahr, als sich die ehemalige Jägerkaserne in Schneeberg mit Flüchtlingen füllte, initiierte dort die NPD "Lichtelläufe gegen Asylmissbrauch". Bis zu 1500 Menschen gingen an einem Samstag Ende Oktober auf die Straße. Der Protest in Dresden bedient ähnliche Reflexe. Auch hier suchen sich scheinbar rechtschaffene Bürger ein Podium, das ihnen - so der Vorwurf - anderswo nicht geboten wird. Eine Protestkultur der Verunsicherten und Misstrauischen macht sich breit - gegen den vorgeblichen Mainstream von Politik und Medien, die ihre Sorgen ignorierten und sie allzu schnell in die rechte Ecke stellten. Die NPD applaudiert.
Anfang Oktober hatte es in Dresden eine pro-kurdische Demonstration für die Verteidiger von Kobane gegeben. Wenige Tage später organisierte eine zwölfköpfige Gruppe um den Dresdner Lutz Bachmann eine erste Kundgebung "gegen Glaubenskriege auf deutschem Boden". Nun ist es bereits der fünfte Montag, an dem die Pegida-Anhänger in Dresden auf die Straße gehen - mit stetig wachsendem Zulauf.
Zum gestrigen "großen Spaziergang" für Familie und Vaterland sind es nach Polizeiangaben bereits 2500. Gegen das neue Wutbürgertum in Dresden formiert sich inzwischen Widerstand. Doch die Gegner sind in der Unterzahl. Zu einer Demonstration des Bündnisses "Dresden nazifrei" kamen gestern etwa 300 Menschen. Die Initiative verweist auf Facebook-Einträge der Pegida-Mitglieder mit unverhohlen fremden- und islamfeindlichen Äußerungen.
Rassismus-Vorwürfe gegen Pegida kommen auch von den christlichen Kirchen in Dresden. Auf deren Initiative und mit Unterstützung von Gewerkschaften, Jüdischer Gemeinde, Islamischem Zentrum und Sächsischem Flüchtlingsrat versammelten sich gestern etwa 200 Menschen vor der Frauenkirche. "Pegida fantasiert eine Untergangsstimmung und einen Kampf der Kulturen herbei", sagte ein Sprecher des Flüchtlingsrats. Die Initiative bekomme Zulauf von Hooligans und Rechtsextremisten. Pegida nutze die Angst vor islamistischem Terror, um Stimmung gegen Flüchtlinge und gegen Ausländer zu machen.
Der Dresdner Politikwissenschaftler Werner Patzelt warnt indes davor, dass sich in der Zuwanderungsfrage Protest und Gegenprotest gegenseitig aufschaukeln. "Was von Pegida thematisiert wird, gilt in Deutschland als rechtes Thema. Also fühlen sich rechte Kräfte davon angezogen", sagt Patzelt. Grundsätzlich gehe es hier um wichtige gesellschaftliche Anliegen. Es bleibe aber abzuwarten, wie lange die Pegida-Initiatoren ihre Anhänger disziplinieren können - und in wieweit sich womöglich auch die Gegenseite radikalisiere.
erschienen am 18.11.2014 (Von Oliver Hach