Ein Christ und bürgerlicher Widerständler: So erinnert sich Heidenheim bislang an den Handwerkspräsidenten und Landtagsabgeordneten Friedrich Degeler. Doch das Bild bekommt Kratzer. Historiker Alfred Hoffmann beleuchtet die Rolle Degelers im Dritten Reich – und findet unbequeme Beweise.
Als Heidenheims Oberbürgermeister Elmar Doch 1967 dem langjährigen Stadtrat Friedrich Degeler zum 65. Geburtstag und zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes gratulierte, warf er, wie das bei solchen Gelegenheiten üblich ist, einen Blick zurück, in diesem Fall bis 1932, als Degeler zum ersten Mal in den Gemeinderat einzog. Aber nur kurz, denn „das ist für uns eine prähistorische Zeit, weil wir uns sträuben, von 1945 an rückwärts zu denken“. Ein Jahr später wurde Degeler CDU-Landtagsabgeordneter, und als er 1989, allseits hochgeachtet, starb, zählte ein Nachruf für die Zeit von 1950 bis 1979 nicht weniger als 38 Ämter und Ehrenämter. 1996 wurde der neu gestaltete Platz vor dem Heidenheimer Rathaus nach ihm benannt.
Mehrere Jahre beim SS-Polizeiregiment
Die „prähistorische Zeit“, in die man damals allgemein nicht so gern zurückblicken mochte, holt ihn jetzt ein. In einer Veröffentlichung zu den Deportationen aus Westeuropa kam kürzlich ans Licht, dass auch er in die Judenvernichtung involviert war, wenn nicht in Russland, wo er als Oberleutnant der Schutzpolizei im Einsatz gewesen war, so doch in den Niederlanden, wo er 1943/44 mit dem I. Bataillon des SS-Polizeiregiments 16 stationiert war. In mindestens zwei Fällen war er nachweislich der verantwortliche Führer des Begleitkommandos vom Durchgangslager Westerbork nach Auschwitz bzw. Bergen-Belsen. Der Transportleiter hatte dabei nämlich jeweils die Übernahme der mitgegebenen Lebensmittel zu quittieren, und zwei dieser Quittungen sind für Degeler erhalten.
Die Vorgeschichte: Hospitant der NSDAP-Fraktion
Degeler wurde Ende 1931 für die stramm rechte Deutschnationale Volkspartei in den Gemeinderat gewählt. Die Unterschrift, mit der er seinen in der ersten Sitzung abgelegten Diensteid bezeugte, begegnet uns, etwas schwungvoller geworden, aber gut erkennbar, im März 1944 wieder.
DNVP und NSDAP erhielten 1931 zusammen nur fünf der 24 Sitze. Dann kam die „Machtergreifung“ Hitlers und das Verbot der linken Parteien bzw. die erzwungene Selbstauflösung der restlichen. Anfang Juli 1933 – die beiden KPD-Stadträte saßen auf dem Heuberg, die SPD-Fraktion war noch vor dem Verbot geschlossen zurückgetreten – umfasste der mittlerweile per Gesetz umgebildete Gemeinderat außer neun NSDAP-Mitgliedern nur noch drei andere. Zwei davon warfen bis Ende des Jahres das Handtuch, einer, Degeler, ging den Weg seiner Parteigenossen beispielsweise im Reichstag und „suchte darum nach, als Hospitant der NSDAP-Fraktion angehören zu dürfen“. Dem Gesuch wurde stattgegeben. In der ersten Sitzung danach von Kreisleiter Mauer begrüßt, „mit dem Wunsche, er möge sich gut in die Ideen des Nationalsozialismus einleben“, versicherte Degeler, „er freue sich über die eingetretene Veränderung und darüber, daß die Zeit, in welcher der Individualismus und Internationalismus vorherrschend war, ihren Abschluß gefunden habe; er werde dem Nationalsozialismus gerne seine Dienste zur Verfügung stellen, wo sie verlangt werden. Sein Eintritt in die NSDAP sei längst vorbereitet und mit dem jetzt offiziell erfolgten Eintritt in die Partei habe er nicht notwendig gehabt seine Gesinnung zu ändern.“
Zumindest nicht sehr. Nach Ernst Staudenmaier, der offensichtlich auf persönliche Mitteilungen Degelers zugreifen konnte, hatte dieser 1932 an Hitlers Großkundgebung in Günzburg teilgenommen: „Er kehrte aus Günzburg mit der Überzeugung zurück, dass Adolf Hitler etwas zu den drängenden Problemen der damaligen Zeit zu sagen hatte. Aus seinem Interesse und seiner Aufgeschlossenheit gegenüber den neuen Ideen machte Degeler kein Hehl.“ Dass Degeler aber nie Parteigenosse war, stimmt nach der zitierten Äußerung höchstens formal. Seit dem 1. Mai 1933 bestand eine Mitgliedersperre, die erst zum 1. Mai 1937 wieder aufgehoben wurde (da kam sie für Degeler jedoch wirklich nicht mehr in Frage). Fundamentales demokratisches Bewusstsein tut sich in all dem jedenfalls nicht kund.
In engen Grenzen: Widerstand als bekennender Christ
In der Tat beschränkte sich der bekannte Widerstand Degelers gegen die Machthaber ausschließlich auf den kirchlichen Bereich. Die hier bewiesene Zivilcourage, als er ein Verhör durch die Gestapo und eine Nacht im Amtsgefängnis in Kauf nahm, soll nicht gering geschätzt werden, sie betrifft aber eben doch nur einen Teilaspekt der Nazidiktatur. Erst der offene Versuch, auch die Kirche gleichzuschalten, war für Degeler Auslöser für „Besinnung und Umkehr“.
Wenn Degeler allerdings sagte: „So war es auch für mich klar, daß, nachdem die Partei immer deutlicher ihre Maske fallen ließ und das wahre Gesicht zeigte, eine Mitarbeit auf dem Rathaus unmöglich wurde. Ich erklärte damit meinen Austritt aus dem Gemeinderat“ – so ist das zumindest irreführend, weil es an eine aktive Entscheidung denken lässt. In Wirklichkeit wurde Degeler, der NS-Hospitant, einfach nicht mehr berücksichtigt, als 1935 gemäß der neuen Reichsgemeindeordnung ein neuer, nun endgültig gleichgeschalteter Gemeinderat „berufen“ wurde. 1934 war von den Stadträten ein Diensteid zu leisten gewesen, der sie auf die Person Adolf Hitlers verpflichtete. Degeler hatte bei dieser Gelegenheit nicht seinen Austritt erklärt, sondern anstandslos unterschrieben.
Degeler war mit seiner Haltung in Religionsfragen im evangelisch-pietistisch geprägten Württemberg kein Einzelfall, wobei jedoch unklar bleibt, inwiefern 1934/35 eine „Maske“ gefallen wäre. Dass die nationalsozialistische Ideologie und die daraus zwangsläufig resultierende Politik mit wahrer Christenlehre vollkommen unvereinbar war, hätte eigentlich jedem von Anfang an einsichtig sein müssen. Die Verfolgung und Ermordung politischer Gegner, die Schikanen den Juden gegenüber waren ja kein Geheimnis. Erst als die Kirche als Institution angegriffen wurde, sah man eine Grenze überschritten.
Bei Kriegsbeginn wurde Degeler zur Polizei eingezogen. Laut Staudenmaier kam er in Russland in „Gefangenschaft, die sechs Jahre dauerte“. Da Degeler 1949 aus dem Krieg zurückkehrte, hätte sie also 1943 begonnen. Damit wäre zumindest das Jahr 1944 aus der Betrachtung herausgenommen. Im Nachhinein: aus gutem Grund.
Vielleicht ist es aufgrund seines Charakters nicht verwunderlich, dass er sich nicht mit einer niedrigen Charge zufrieden gab, sondern eine Offizierslaufbahn einschlug. Immerhin musste er sich darüber im Klaren sein, dass er damit den Hitlerstaat, dessen Kirchenpolitik er so überzeugt wie vergeblich zu bekämpfen versucht hatte, in seinem Eroberungs- und Rassenkrieg aktiv unterstützte.
Aus den Niederlanden gingen von 1942 bis 1944 insgesamt 102 Deportationszüge mit 107 000 Juden und 245 Sinti und Roma ab, fast ausnahmslos von Westerbork aus und in der Regel nach Auschwitz, jeder der berüchtigten Güterwaggons belegt mit 50 bis 60 Personen und ausgestattet lediglich mit zwei Eimern: einem mit Wasser, einem für die Notdurft. Nur etwa 4700 Juden überlebten.
Die Rolle als Transportleiter
Westerbork hatte seit November 1942 einen direkten Schienenanschluss ins Lager. Die Lagerleitung organisierte das Einsteigen der Gefangenen, die Begleitmannschaft musste den beladenen Zug dann nur noch übernehmen. Ihre Hauptaufgabe war, notfalls mit Waffengewalt Fluchten zu verhindern, zumal die Züge unterwegs oft gezwungen waren zu halten. Am Bestimmungsort wurde der Zug der SS übergeben und man trat die Heimreise an, gegebenenfalls nach Übernachtung in einem SS-Heim.
Beim 71. Transport vom 31. August 1943 wurden laut Quittung „für 1000 Personen“ mitgegeben: 1000 Brote, 42 kg Wurst, 20 kg Margarine, 2000 kg Rotkohl, 70 kg Graupen und 70 kg braune Bohnen, ferner ausdrücklich für das Begleitkommando 20 kg Jagdwurst: „übernommen w. g. [wie gesehen] Degeler“.
Die Rationen waren offensichtlich für drei Tage berechnet. Bei der Wurst darf man getrost von minderer Qualität ausgehen. Dass für das Begleitkommando ganze 20 kg einer Extrawurst (für 20 Polizisten immerhin halb so viel wie für 1000 Juden) bereitgestellt wurden, deutet auf die Maximalstärke von 20 Mann hin. (Die Zahl schwankte.)
Der Transport kam am 2. September 1943 in Auschwitz an. Er hatte 1004 Juden umfasst. Darunter befanden sich 268 Männer und 381 Frauen bis zu 50 Jahren, ferner 195 Ältere und 160 Kinder. Nach der Selektion an der Rampe wurden 259 Männer und 247 Frauen als Arbeitshäftlinge ins Lager eingewiesen, die übrigen 498 Menschen wurden sofort in den Gaskammern getötet.
Degelers zweiter Transport, der 86. von Westerbork aus, ging am 15. März 1944 nicht wie in der angesprochenen Veröffentlichung angegeben nach Auschwitz, sondern mit 210 Menschen ins „Aufenthaltslager“ Bergen-Belsen.
Auch „harmlosere“ Transporte?
Die Tatsache, dass es sich diesmal um einen Personenzug handelte, ließ die Betroffenen aufatmen. Renata Laqueur, eine Jüdin aus Amsterdam, die in Belsen Tagebuch führte: „Die Reise von Westerbork nach Bergen-Belsen dauerte von 8 Uhr in der Frühe bis zum Mittag des folgenden Tages 2 Uhr, und das für eine Strecke von ungefähr 350 km! Wir saßen zusammengepfercht zwischen Gepäck und Kleidungsstücken, und wer zum WC gehen wollte, tat gut daran, die Schuhe auszuziehen, um die Leute, die auf dem Gang saßen, nicht zu treten. Die Fahrt war ein endloses Rangieren, An- und Abkoppeln, und war der Zug gerade angefahren, hielt er bereits wieder. In Bentheim (deutsche Grenzstation) verteilte die Transportbegleitung, SS-Leute in grünen Uniformen, Brot am Zug. (...) Auf dem letzten kleinen Bahnhof hatte ich Karten und Briefe aus dem Fenster geworfen. Einige flatterten auf die Schienen, ein paar andere fing ein Bahnbeamter, der durch ein Handzeichen zu verstehen gab, 'daß die Sache in Ordnung gehen würde'. Es waren die letzten Nachrichten für meine Familie in Amsterdam.“ Am Bahnsteig, fümf Kilometer außerhalb des „Sternlagers“ von Belsen, wohin die 210 gebracht wurden, wartete die Lager-SS. Laqueur hatte auf Mitarbeiter des Roten Kreuzes gehofft, betont aber die korrekte Behandlung beim Empfang: „Sie helfen, die Gepäckstücke auf die bereitstehenden Lkw zu verladen.“ (!)
Denn Bergen-Belsen war kein „normales“ KZ und erst recht kein Vernichtungslager. Die 210 hatten als Personen mit unsicherem Status oder als „Austauschjuden“ (nämlich mit von den Alliierten internierten Deutschen) an sich eine reelle Überlebenschance. Erst die katastrophale Ernährungslage zum Kriegsende hin, als rücksichtslos Abertausende Evakuierungshäftlinge von anderen KZs zusätzlich hineingestopft wurden, ohne dass für ihre Versorgung hinreichend Vorkehrungen getroffen wurden, und zudem das Fleckfieber grassierte, führte zu den entsetzlichen Bildern, die sich nach der Befreiung des Lagers am 15. April 1945 der Weltöffentlichkeit darboten.
Von dieser Entwicklung konnte Degeler im Frühjahr 1944 nichts wissen. Was Auschwitz bedeutete, schon; denn wenn man sich vor Augen hält, welche Rolle die Polizeibataillone im Osten spielten, ist schlechterdings nicht vorstellbar, dass Degeler nicht mitbekommen haben sollte, was den Juden zugedacht war, auch wenn über das Polizeibataillon 56, dem er da angehörte, außer dass es beispielsweise im Februar 1942 der berüchtigten Kampfgruppe Jeckeln unterstellt war, nichts weiter bekannt ist.
Auflehnung? Nur beim Religionsunterricht
Degelers Widerstand im Streit um den Religionsunterricht, als es darum ging, das auserwählte Volk nicht aus der biblischen Geschichte zu eliminieren, wird dadurch im Nachhinein schal. Er konterkarierte ihn, als es darum ging, dieses reale Volk aus dem Leben zu eliminieren.
Wie Friedrich Degeler später damit zurechtkam? Ob er sogar darunter litt? Man muss ihm auf jeden Fall zu Gute halten, dass er später auch von den vier oder fünf Jahren in russischer Kriegsgefangenschaft weiter kein Aufhebens machte. Möglicherweise meinte er, er sei damit genug gestraft, und so unrecht hätte er nicht gehabt, wenn man die Strafen bedenkt, die andere für größere Verbrechen erhielten.