[Kobane] Ansonsten gibt es ein Massaker

Erstveröffentlicht: 
27.09.2014

Im Norden Syriens belagert der IS bislang unbehelligt die Stadt Kobanê. Die Präsidentin der Region warnt vor dramatischen Folgen, sollte militärische Hilfe ausbleiben. Interview: Muriel Reichl

 

Asia Abdullah ist Co-Präsidentin der kurdischen Autonomieregion in Nordsyrien und Co-Vorsitzende der Partei der Demokratischen Union (Partîya Yekitîya Demokrat, kurz: PYD) der kurdischen Autonomieregion Rojava. Allen Verwaltungseinrichtungen der autonomen Gebiete stehen jeweils ein Mann und eine Frau vor.

 

ZEIT ONLINE: Frau Abdullah, Sie sind gerade in Kobanê (kurdische Bezeichnung für Ain al-Arab), die IS-Terroristen rücken immer weiter vor. Gibt es noch genug Essen und Strom?

 

Asia Abdullah: Wir haben gerade andere Probleme als unsere Mägen. Alle Gedanken kreisen um die Verteidigung von Kobanê.

 

ZEIT ONLINE: Die IS-Terroristen sollen bereits so nah sein, dass man von der Stadt aus die Einschläge der Mörsergranaten hören kann. Stimmt das?

 

Abdullah: Ja. Die IS-Männer kommen von allen Seiten und haben mittlerweile auch das Stadtzentrum angegriffen.

 

ZEIT ONLINE: Und die Stadt wurde nicht evakuiert?

 

Abdullah: Nein. Kobanê wird evakuiert, sobald die Stadt mit schwersten Waffen angegriffen wird. Auch in den Dörfern zwischen uns und der türkischen Grenze wohnen noch Menschen. Noch sind die Angreifer aber nicht da. Sollte es so weit kommen, müssen die Frauen und Kinder über die türkische Grenze fliehen, die Männer werden bleiben und die Stadt verteidigen.

 

ZEIT ONLINE: Aber bei den kurdischen Volksverteidigungseinheiten kämpfen auch Frauen mit, oder?

 

Abdullah: Ja, ein paar Hundert sind im Einsatz. Es sind auch schon einige ums Leben gekommen.

 

ZEIT ONLINE: Spüren Sie eine Wirkung der Luftangriffe von den USA und den arabischen Verbündeten?



 

Abdullah: Kein bisschen. Die Allianz bombardiert den IS, aber nicht bei uns. Die sind viel zu weit weg, um die IS-Angriffe auf Kobanê auch nur zu verlangsamen. Außerdem bekommen die Terroristen ständig Nachschub an modernen Waffen und Rekruten aus den IS-Zentren Rakka und Mossul. Ohne ernsthafte Unterstützung von den USA, der EU und anderen Verbündeten haben wir keine Chance.

 

ZEIT ONLINE: Kobanê befindet sich im Belagerungszustand. Wie leben Sie dort, während die Terroristen vor der Stadt stehen?



 

Abdullah: Die Menschen haben wahnsinnige Angst vor einem neuen Massaker, ähnlich wie im August an den Jesiden in Sindschar im Nordirak. Trotzdem geht das Leben irgendwie weiter, die Menschen sind auf der Straße, gehen ihren täglichen Geschäften nach.

 

ZEIT ONLINE: Gibt es medizinische Versorgung für die Verletzten?

 

Abdullah: Wir haben Gesundheits- und Versorgungszentren eingerichtet. Dort versuchen wir, die Verletzten so gut es geht zu behandeln. Wir haben Ärzte und Helfer, aber kaum Medikamente und technische Ausstattung. Und die brauchen wir dringend, denn nicht nur die Verletzten, sondern auch Kinderkrankheiten sind ein großes Problem.

 

ZEIT ONLINE: Sie haben gesagt, dass viele Menschen aus den umliegenden Dörfern auf der Flucht sind. Bekommen die auch Unterstützung?



 

Abdullah: Für die hat die Verwaltung mobile Ärzteteams organisiert. Wir verteilen auch Hilfsgüter, die aus der Türkei oder den anderen Kantonen kommen, so gut es geht an diese Menschen.

 

ZEIT ONLINE: Spüren Sie Hoffnung oder nur Verzweiflung?

 

Abdullah: Die Situation ist schwer zu ertragen. Aber mir bleibt weder Zeit für Hoffnung noch für Verzweiflung. Wir denken alle nur an Verteidigung.

 

ZEIT ONLINE: Und wie? Die kurdische Volksverteidigungseinheit YPG hat doch keine Chance gegen die Ausstattung der Terroristen.

 

Abdullah: Wenn die internationale Allianz die IS-Terroristen schlagen möchte, würde die YPG kooperieren. Das ist der einzige Weg, die Kämpfer zu stoppen und unsere Leute zu retten.

 

ZEIT ONLINE: In den sozialen Netzwerken kursieren gelegentlich Bilder von IS-Männern, die von der YPG gefangengenommen wurden. Was passiert mit diesen Gefangenen?

 

Abdullah: Das ist eine militärische Angelegenheit. Es gibt hin und wieder Gefangene, ja. Ich kann hierzu keine Angaben machen.

 

ZEIT ONLINE: Deutschland schickt Waffen an die irakischen Kurden. Nach dem Gespräch mit der deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen erklärte der Präsident der kurdischen Autonomieregion im Irak, Massoud Barzani: "Gerne würde ich meine Peschmergas nach Kobanê schicken, aber die geographischen Gegebenheiten lassen es nicht zu." Was sagen Sie zu diesem Statement?

 

Abdullah: Wir sind dankbar über jede Hilfe, egal ob sie aus der kurdischen Autonomieregion im Irak oder von einem der anderen 40 Verbündeten gegen den IS-Terror kommt.

 

ZEIT ONLINE: Was passiert, wenn Kobanê an die IS-Terroristen fällt?

 

Abdullah: Wir wollen und können Kobanê nicht diesen Mördern überlassen. Unsere Kämpfer bleiben hier. Wenn sie endlich internationale Hilfe bekommen, können sie die Terroristen abwehren. Ansonsten gibt es ein Massaker.