Der harte Kern der Neonazis schrumpft – doch Entwarnung gibt der Verfassungsschutz nicht. Rechtsextreme Bruderschaften in SH übernehmen die Hierarchien der Rockerclubs.
Kiel | Es gibt keine großen Aufmärsche mehr, keine regelmäßigen Kundgebungen: In Schleswig-Holstein ist die rechtsextreme Szene kaum noch zu sehen oder zu hören. Nach Ansicht von Experten ist der starke Druck antifaschistischer Gruppen dafür verantwortlich. „Die linke Szene weiß genau, wer was in der rechten Szene macht“, sagt Nils Raupach vom Kieler Beratungsnetzwerk gegen Rechtsextremismus. „Sie veröffentlicht Fotos und Adressen in ihren Netzwerken, informiert Nachbarn oder Arbeitgeber über die rechtsextreme Gesinnung von Personen.“ Letztere reagieren oft prompt. So hat ein Halstenbeker Speditionsunternehmer fünf Neonazis in seinem Betrieb gekündigt.
Der Verfassungsschutz bestätigt, dass es im vergangenen Jahr zahlreiche „Outings“ von linksextremer Seite im Internet gegeben hat. In der Folge kam es zu Brandanschlägen, körperlichen Angriffen und Farbattacken durch gewaltbereite Linke. Einen weiteren Grund für die Schwäche der rechten Szene sieht die Behörde in dem erhöhten Verfolgungsdruck nach den Verbrechen des NSU-Terror-Trios. Die Taten hätte zu einer gesamtgesellschaftlichen Ächtung des Rechtsextremismus geführt. Raupach bestätigt das: „Kundgebungen ohne massive Gegenproteste auch aus dem bürgerlichen Lager sind kaum noch möglich.“
In Schleswig-Holstein gibt es laut Verfassungsschutz 230 Mitglieder in Aktionsgruppen, doch nur einen harten Kern von 60 Neonazis, der sich tatsächlich engagiert. Sie seien jedoch weit davon entfernt, die Szene zu steuern oder politische Kampagnen zu initiieren. Deutlich sei das 2013 mit der Absage des „Trauermarsches“ in Lübeck geworden. Es gab nicht mehr genug Rechtsextremisten, die zum Jahrestag der Bombardierung der Hansestadt durch britische Luftstreitkräfte aufmarschieren wollten.
Zudem plagt das neonazistische Lager ein Generationenkonflikt. Der historische Nationalsozialismus verliert für junge Rechtsextremisten als „Leitkultur“ zunehmend an Bedeutung, sagen die Verfassungsschützer. Die Folge sei eine Loslösung von der NPD (190 Mitglieder), die in Schleswig-Holstein stets treibende Kraft der extremistischen Szene war und über schwindenden Zulauf klagt.
In Sachen Rechtsextremismus will aber niemand Entwarnung geben. „Es fehlt momentan die charismatische Leitfigur, die das vorhandene gewaltbereits Potential aufrütteln könnte“, sagt Nils Raupach. „Doch das kann sich schnell ändern. Und der Verfassungsschutz fürchtet, dass sich Kleinstgruppen radikalisieren, weil sie ihren Rechtsextremismus nicht mehr offen leben könnten.
Mit 600 Anhängern recht groß bleibt in Schleswig-Holstein die rechtsextremistische Subkulturszene. Sie ist zwar seit Jahren kaum noch für politische Aktivitäten zu mobilisieren, wandelt sich jedoch beständig: Die neueste Strömung sind rechtsextreme Bruderschaften. Raupach: „Sie orientieren sich am Habitus und der Hierachie von Rockerclubs, ihre Mitglieder tragen schwarze Lederkutten.“
Auch die Strukturen von Rockerclubs werden von militanten Neonazis kopiert. In Schleswig-Holstein gibt es laut Verfassungsschutz bereits zwei solcher Gruppen: die „Brigade acht“ und die „Wächter Midgards“.
„Sie nennen sich nicht mehr Kameradschaften, sondern Bruderschaften“, erklärt Nils Raupach vom Kieler Beratungsnetzwerk gegen Rechtsextremismus. Die Bruderschaften hätten ähnlich straffe Hierarchien wie Rockerclubs, ihre Mitglieder trügen Kutten mit Aufnähern und es gebe Anwärter, die noch kein Vollmitglied seien. Den Zusammenhalt liefere eine rechtsextreme Gesinnung, gepaart mit Männnerbündelei. „Bei Rechtsrock-Konzerten sind sie zu sehen, politisch treten diese Gruppen aber kaum in Erscheinung.“
Die „Brigade acht“ ist in Schleswig Holstein gegründet worden. Chef soll Christian K. aus Schleswig sein, zuvor in der Aktionsgruppe „Nationale Sozialisten Angeln“ aktiv. Laut Innenminister Andreas Breitner (SPD) hat das Chapter der Brigade in Schleswig-Holstein zehn Mitglieder. Bundesweit soll die Gruppierung etwa 50 Mitglieder haben. Weitere Chapter gibt es in Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Sachsen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Das Symbol der „Brigade acht“ ist ein Totenschädel vor zwei gekreuzten Messern, der Name selbst ist angelehnt an das im Jahr 2000 verbotene rechtsextreme Netzwerk „Blood & Honour“. Während Deutschlandchef Christian K. sich rockertypisch als „President“ bezeichnen lässt, werden die Chefs der lokalen Charter in Anlehnung an das Dritte Reich „Gauleiter“ genannt.
Die zweite Bruderschaft in Schleswig-Holstein heißt „Wächter Midgards“. Midgard ist die germanische Bezeichnung für die Welt. Laut Verfassungsschutz hat diese Gruppe ihren Ursprung in Berlin. Die Verbindung nach Schleswig-Holstein sei über die rechtsextremistische Musikszene entstanden. Ein Mitglied soll Holger I. aus Nordfriesland sein, der in der Rechtsrockband „Kraftschlag“ spielte. Seine neue Band soll „Division Holstein“ heißen und nach Erkenntnissen der linken Szene gehören ihr weitere Mitglieder der Bruderschaft an.
Warum spiegeln die Neonazis die Rocker-Strukturen? „Allein das äußere Erscheinungsbild, das Tragen einer Lederkutte mit martialischen Aufnähern symbolisiert eine gewisse Unantastbarkeit“, erklären die Verfassungsschützer. Die Rechtsextremisten wollen offenbar davon profitieren, dass von Rockern der Nimbus der Gefährlichkeit abstrahlt. Der rechten Szene, die nach den Anschlägen des NSU-Terrortrios gesellschaftlich weitgehend geächtet ist, und unter dem Bedeutungsverlust der traditionellen Kameradschaften leidet, könnte die neue Organisationsform helfen, wieder junge Menschen zu rekrutieren. Beim Verfassungsschutz heißt es: Die Kutte habe nahezu Uniformcharakter. Zur Selbstdarstellung und Machtdemonstation würden entsprechende Gruppenfotos über die sozialen Netzwerke verbreitet. Es scheint ein probates Mittel zur Werbung neuer Anwärter zu sein.
Eine Verflechtung mit der organisierten Kriminalität wie sie bei Rockerclubs üblich ist konnten die Ermittler bei der „Brigade acht“ und den „Wächtern Midgards“ bislang nicht feststellen. „Es bleibt abzuwarten, ob dieser Zustand von Dauer ist“, sagt ein Beamter. Noch distanzieren sich die Gruppierungen „ausdrücklich“ von den etablierten Motorradclubs. Allerdings gelten die Mitglieder der rechtsextremen Subkultur als sehr gewaltbereit und wären somit geradezu prädestiniert, in fremden Gefilden zu wildern. Ein Beobachter aus der linken Szene sagt aber: „Man hält sich aus gutem Grund von den Geschäftsfeldern der Rocker fern. Zu groß ist die Angst, wirkliche Rockerclubs auf den Plan zu rufen.“