In den frühen Morgenstunden vom Dienstag hat die politische Polizei (Digos) in mehreren italienischen Städten 25 Durchsuchungen durchgeführt und 17 Verhaftungen vollstreckt. Von den Verhafteten sind 11 in Gefängnishaft und sechs weitere im Hausarrest. Weitere 12 Personen wurden mit Auflagen belegt. In vier Fällen unterliegen sie einer Meldepflicht, in weiteren 4 Fällen sind sie der Pflicht unterworfen, an einem bestimmten Ort zu leben und anderen vier ist wiederum der Aufenthalt an einem bestimmten Ort verboten. Weitere 82 Personen werden im Rahmen des gleichen Verfahrens ebenfalls verfolgt.
Allen 111 Personen, die gestern vom Richter für die Voruntersuchungen der Strafverfolgung ausgesetzt wurden, werden Vergehen im Rahmen der aktiven Solidarisierung mit Menschen, die von Zwangsräumungen betroffen sind vorgeworfen. Die Tatvorwürfe sind hinsichtlich der tatsächlichen Vorgänge, auf die sie sich beziehen, unverhältnismäßig schwerwiegend. Es fällt auf, dass die Staatsanwaltschaft einmal mehr dazu übergeht, Sammelsurien von Ereignissen herzustellen in den Rahmen eines Großverfahrens einzubetten. Von der gewöhnlichen Verfolgung einzelner Episoden, die jeweils einzelnen angelastet werden, kann hinsichtlich des so angelegten Verhandlungsklimas gar keine Rede mehr sein. Die Sammelsurien sind darauf ausgelegt, Phänomene darzustellen und die Beschuldigten nicht allein wegen irgendeines per se meist geringfügigen Vergehens, sondern des Phänomens wegen zu verfolgen. Das Prinzip fördert die Herbeiführung einer inneren wie äußeren Stigmatisierung des Beschuldigten herbei. Jenseits von konkreten Anhaltspunkten wird Verfahrensintern auf besagtem Wege etwa die so genannte Sozialprognose belastet, die Schuldigsprechung wegen immaterieller Beihilfe erleichtert und die Unterstellung erschwerender umstände erleichtert. Über die Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch willfährige Medien erfolgen wiederum die Vorantreibung der wohl erhofften gesellschaftlichen Ächtung des Phänomens und die Stigmatisierung der einzelnen Beschuldigten. In Turin findet dies längst absolut konkret und offensiv, ja rabiat, statt, so viel ist sicher.
Insgesamt werden 27 Episoden aneinandergereiht, die sich in der Zeit zwischen Mitte September 2012 und Januar 2014 in Zusammenhang mit dem Kampf gegen Zwangsräumung ereigneten. Besonders die Haftbefehle betreffen soziale Aktivisten aus dem anarchistischen Spektrum, es werden aber auch einige soziale Aktivisten aus autonomen Zusammenhängen und ganz normale Menschen verfolgt, die sich in ihren eigenen Stadtvierteln an Initiativen gegen Zwangsräumungen beteiligten. Schon vor zwei Wochen wurden am Rande einer Pressekonferenz von sozialen Bewegungen in Rom zwei wichtige Gestalten der sozialen Kämpfe verhaftet, die so auch in Hinblick auf die Bevorstehenden Proteste anlässlich des europäischen Gipfeltreffens über die Jugendarbeitslosigkeit aus dem Verkehr gezogen worden, wobei klar ist, dass dies nicht das alleinige Ziel der repressiven Komponente im justiziellen vorgehen ist. Der repressive Akt gilt den sozialen Bewegungen an sich, deren wachsender Stärke und der Tatsache, dass sie Verschmelzungsfähig werden.
Die Initiative ging von Turiner Staatsanwälten aus, die sich sonst seit Jahren ausschließlich der Verfolgung der No Tat Bewegung aus dem Susatal widmet, die seit Jahrzehnten gegen den Bau einer Hochgeschwindigkeitsbahn kämpft. Unter den Personen, gegen die ein Haftbefehl erlassen worden war, befinden sich auch drei von vier No Tav, die seit Dezember wie Schwerverbrecher einem Hochsicherheitshaftregime unterworden wurden, was nur möglich war, weil ihnen eine terroristische Tat vorgeworfen wird. Die Formulierung der Gründe für die harten Haftbedingungen hielt vor wenigen Wochen vor dem Kassationshof in Rom nicht stand, was endlich eine Lockerung oder gar die Aufhebung der Präventivhaft erwarten ließ. Durch die gestrigen Haftbefehle zeichnet sich für die drei nun ab, dass sie nun doch weiter in Haft bleiben werden.
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Untenstehend die Übersetzung eines Kommentars zum Geschehen aus einer Turiner Onlinezeitung:
Boshaftigkeiten über die Verhaftungen der Aktivisten
Böswillige Leute könnten meinen, dass sich hinter der Razzia, die am heutigen Morgen das antagonistische und anarchistische Spektrum in Turin getroffen hat eine Art Rache der gerade in diesen Monaten wegen der miserablen Verwaltung der Stadt und im Besonderen wegen des miserablen Umgangs mit dem Wohnungsnotstand und wegen der Gegenkampagne, die sie vor den Wahlen erleben musste zur Lachnummer verkommenen Demokratischen Partei verbirgt.
Böswillige Leute könnten meinen, dass die Leichtigkeit, mit der Regionalsekretär Davide Gariglio in seiner Mitteilung die Beschuldigten bereits für Schuldig erklärt, ohne dass es ein Verfahren gegeben hätte, das x-te zuzwinkern an die Adresse des Staatsanwälteduos Rinaudo und Padalino sein könnte, die ihre Geschicke im Justizpalast auf der Haut der Bewegung ausbauen, statt gegen die 'Ndrangheta und zu manipulierten Ausschreibungen zu ermitteln.
Es ist klar, dass man in dieser Stadt unverdrossen weiter damit fortfährt, Gute und Böse an die Tafel zu schreiben. Es gibt einen Wohnungsnotstand, es gibt über viertausend Zwangsgeräumte, die einzige Antwort, die darauf gegeben wird ist jedoch eine Wand gegenüber jene, die mit diesem ernsten Problem leben müssen.
An der Seite der Menschen ohne Wohnung sind junge und nicht mehr junge Männer und Frauen aus den besetzten Häusern, den Sozialen Zentren, den Unterstützungsgruppen gegen Zwangsräumung, die sich mit Straßenposten der Ankunft des Gerichtsvollziehers und des Schlossers widersetzen, die nur unter Eskorte der Ordnungskräfte versuchen, die Zwangsräumung zu vollstrecken und nicht nur.
In Turin gibt es viele, ihrem Schicksal überlassene, leerstehende Gebäude, die befreit und in Wohnungen für die, die sie brauchen umgewandelt werden. Das ist aber, wie es scheint, illegal. Und es stimmt: es ist illegal. Die Frage aber, was heute denn wirklich illegal ist, wenn eine Familie gezwungen ist, im Auto zu schlafen, weil eine Stadtverwaltung nicht in der Lage ist, ihr eine Wohnung zu geben, während Geld für Events verschwendet wird und man sich Gedanken um die Rettung der Nachtschwärmermeilen im San salvario Viertel macht, statt die Immobilienspekulation zu zerschlagen, die dahinter steckt, die Frage wird schwer zu beantworten. Unter diesen Umständen könnten böswillige Leute denken, dass eine illegale Handlung ein sakrosanktes Ding ist.
Die üblichen Bösewichter könnten bei der Vorstellung schmunzeln, dass die Partei, die heute die Verhaftungen feiert schon vergessen hat, dass sie vor nur wenigen Wochen mit der dunklen Seite ihrer selbst konfrontiert gewesen ist: zum Beispiel wegen den Schmiergeldern für die EXPO 2015.
Die Bösewichter sagen, dass Leute, die kein Dach über dem Kopf haben gern gesehen sind, weil sie zu Tränen rühren, wie die aufgeblähten Bäuche der Kinder in Afrika. Sie werden von kirchlichen und auch nicht kirchlichen Organisationen gebraucht, um Geld, Kleider und viel Solidarität zusammen zu bekommen. Hauptsache, die Leute ohne ein Dach über dem Kopf sind ganz brav und bloße Statisten in ihren menschelnden Werbespots, die Köder für Schenkungen sind. Viele alte Leute hinterlassen diesen Verbänden Wohnungen. Für die Bösewichter bleiben die Leute, an die diese Wohnungen gehen ein Geheimnis. Sicher gehen sie aber nicht an die Familie, die sie braucht.
Brav sollen sie bleiben, und damit wie Gespenster sein. Wenn die Geister in dieser Stadt beschließen, es nicht länger zu sein, werden sie gefährlich. Ein schon bekannter Modus operandi. In Rom legte man zwei Mitglieder der Bewegung für das Recht auf Wohnen in Handschellen. Heute gibt es im Piemont weitere 111, die beschuldigt werden. Wir sind sicher, dass es vor dem 11. Juli, dem Tag, an dem das von den Banken, der EU und Matteo Renzi gewollte Gipfeltreffen über die Jugendarbeitslosigkeit seine Tore öffnet, weitere Anzeigen, Verhaftungen und Auflagen geben wird. Über vierhundert Personen haben sich im Universitätsfachbereich Palazzo Nuovo versammelt, um zusammen mit Studenten, Arbeitern, Metall- und Basisgewerkschaftern jene Tage und eine große Demonstration vorzubereiten, einen Streik, der deutlich werden lässt, dass die Leute müde sind, dass irgendwer auf der Haut Anderer entscheidet. Trotz der hohen Teilnehmerzahl, hat keine Zeitung eine einzige Zeile über diese Versammlung berichtet. Sie werden berichten, wenn die Zeit für die Ankündigung der Gefahr von Auseinandersetzungen und dass eine Stadt zu Schutt und Asche gemacht werden wird gekommen sein wird.
Einigen Bösewichtern zufolge hinterlässt die Razzia eine Nachgeschmack, der wirklich stark an Prävention mit Blick auf jene Demonstration erinnert, weil irgendwer noch vor den siebzigtausend Angst hat, die am vergangenen 19. Oktober für das recht auf Wohnen in Rom auf die Straße gegangen sind. Den Bösewichtern zufolge hat jene Menge immer noch Lust, auf die Straße zu gehen, obwohl jemand mit dem Fetisch des Terrors wedelt, mit dem er ohne Aussicht auf Erfolg versuchen will, die, die es vorziehen, mit Würde zu kämpfen, statt auf der Couch zu sitzen und die dinge wie sie sind zu akzeptieren. Aber auch das sagen bestimmt nur böse Zungen...
http://www.nuovasocieta.it/torino/malignita-sugli-arresti-degli-antagonisti/