Bürger B. ist enttäuscht: Die Regierung unternimmt nichts gegen die NSA. Er will sich selbst helfen, notfalls mit Gewalt. Dürfte er das? Unter gewissen Umständen schon.
Man nehme an: Eine befreundete fremde Macht betreibt auf deutschem Boden Abhöreinrichtungen, um massenhaft und gesetzeswidrig privaten Datenverkehr zu speichern und auszuwerten. Hacker, Whistleblower und investigative Journalisten decken das Treiben auf. Wohlformulierte Besorgnis in Journalen, Aufschrei in Talkrunden, Gezeter im Internet. Die Politik übt sich in Verbalkritik.
Bürger B. weiß aus den Enthüllungen, dass das illegale Treiben von einem in seiner Nachbarschaft gelegenen Botschaftsgebäude aus geschieht und bittet seinen Staat, die umgehende Beendigung der Spitzeleien zu erwirken. Die Bundesrepublik weigert sich unter Verweis auf drohende sicherheits- und wirtschaftspolitische Schäden und beschwichtigt mit dem Hinweis auf laufende Verhandlungen über ein künftiges No-Spy-Abkommen. Die Massenbespitzelung läuft weiter.
Da der Abhörposten bewacht wird, weiß B. sich nun nicht mehr anders zu helfen, als von seinem Wohnungsfenster aus mit seinem Jagdgewehr den Starkstromverteiler der Botschaft unter Beschuss zu nehmen und zu zerstören. Der Anschlag gelingt. Hat B. etwas Unrechtes getan? Hat er sich gar strafbar gemacht? Die juristisch nüchterne Antwort lautet: nein. Zur Begründung dieses für viele überraschenden Ergebnisses muss Licht auf ein fundamentales Institut des Rechts geworfen werden: die Notwehr.
Notwehrrecht gestattet Tötung eines Diebes
Geregelt ist sie in Paragraf 32 des Strafgesetzbuchs und in Paragraf 227 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Diese Vorschriften erklären jede Verteidigungshandlung für rechtens, "die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden." Damit ist ausgesprochen, dass das Recht dem Unrecht nicht weichen muss und rechtswidrige Eingriffe in die eigene Freiheitssphäre oder die Freiheit anderer Personen notfalls gewaltsam zurückgewiesen werden dürfen.
Darüber hinaus gestattet die Regelung dem Notwehrübenden, bei der Wahl seiner Verteidigungsmittel nicht zimperlich zu sein. Sie verpflichtet lediglich dazu, das relativ mildeste Mittel anzuwenden, sofern der Verteidiger über mehrere geeignete Verteidigungsmittel verfügt. Verhältnismäßig aber braucht die Notwehrhandlung nicht zu sein, und so gestattet das Notwehrrecht beispielsweise sogar die Tötung eines Diebes, wenn sich dessen Angriff auf fremdes Eigentum nicht anders abwenden lässt und die Beute nicht völlig geringwertig ist - ein Ergebnis, das unter Jura-Erstsemestern immer wieder für Erstaunen sorgt.
Auf unseren Fall gewendet erscheint damit die Rechtslage klar: Das fortlaufende Abhorchen begründet einen gegenwärtigen vieltausendfachen Angriff auf das informationelle Selbstbestimmungsrecht einer Vielzahl von Geschädigten, und Bürger B. setzt, nachdem ihm die mildere Option obrigkeitlicher Hilfe versagt wurde, von den ihm noch verbliebenen Mitteln das mildestmögliche ein. Seine Tat wäre demnach gerechtfertigt.
Doch ist das kein Anlass zur Freude. Wer das Notwehrrecht als probate Waffe der Zivilcourage oder Breschenfüller bei staatlicher Unentschlossenheit heranziehen zu können glaubt, hat seine Dimension noch nicht begriffen. Es ist beileibe kein beruhigendes Szenario, wenn Eiferer der Freiheit zur Verteidigung von Rechtsgütern zu den Waffen greifen.
Zum einen nämlich geht es nicht nur um Stromverteiler. Vielmehr wäre die Tat des B. wohl auch dann noch gerechtfertigt gewesen, wenn seine Verteidigungshandlung die mehr oder weniger gravierende Verletzung von Mitgliedern des Abhörpersonals erfordert hätte. Zum anderen ist die Bundesrepublik aus guten Gründen völkerrechtlich verpflichtet, ausländische Botschaften gegen Angriffe aller Art zu schützen. Dies schließt selbst nach deutschem Recht gerechtfertigte Angriffe mit ein, und so zöge die ungehemmte Nutzung des Notwehrrechts wohl unweigerlich Kampfszenen im Botschaftsviertel nach sich. Zurück zum Naturzustand: "einsam, armselig, scheußlich".
Dies führt zu der naheliegenden Frage, ob die Bundesrepublik denn anstelle der Schließung des Spitzelpostens auch das Notwehrrecht ihrer Bürger einschränken könnte. Wiederum ist die Antwort überraschend: Sie könnte wohl, dürfte jedoch nicht, da sie hierfür die Grenzen legitimer Staatsgewalt überschreiten müsste.
Die in der historischen Epoche der Aufklärung geborene und bis heute mächtigste Theorie zur Rechtfertigung der Staatsgewalt ist die Idee vom Gesellschaftsvertrag. Der Primärzweck des Staates liegt danach in der Absicherung der Freiheit eines jeden durch Überwindung des "Natur-" oder "Kriegszustands", also jenes Zustands des Jeder-gegen-jeden, in welchem die Menschen in ständiger Furcht voreinander zu einem Leben verdammt sind, das laut Thomas Hobbes "einsam, armselig, scheußlich, tierisch und kurz" wäre.
Staat sehenden Auges handlungsunwillig.
Wo jedoch der Staat diesen Zweck nicht erfüllen kann oder will, endet auch die Legitimität seines Gewaltmonopols, und die Notwehr tritt auf den Plan. Sie ist die letzte Bastion, wenn der Staat abwesend oder handlungsunfähig ist. Wer nicht gerade zufällig einen Schupo zur Seite hat, darf sich daher gegen einen Straßenräuber selbst zur Wehr setzen. Im kleinen Maßstab ist eine solche private Selbstdurchsetzung des Rechts nicht nur unerlässlich, sondern geradezu ein Ehrenzeichen für den Staat, da eine allgegenwärtige Staatsgewalt wohl nur in einem totalitären Polizeistaat denkbar wäre.
Ein großes Problem ist hingegen, wenn sich der Staat angesichts eines massenhaften rechtswidrigen Angriffs auf Rechtsgüter seiner Bürger sehenden Auges handlungsunwillig zeigt. Hier manifestiert sich ein Staatsversagen, das nicht nur das Vertrauen in den Staat als Garanten der Rechtsordnung erschüttert, sondern die Staatsgewalt selbst infrage stellt und damit das Potenzial birgt, die Schleusen zum Hobbes'schen Kriegszustand zu öffnen.
Darum, liebe Bundesrepublik, erfülle deinen Zweck und hilf! Denn wenn du uns nicht hilfst, dann könnten Bürger vom Schlage des B. auf die Idee kommen, uns zu helfen - und dann helfe uns Gott.
Lars Berster ist Akademischer Rat am Institut für Strafrecht und Strafprozessrecht der Universität zu Köln. Sein Forschungsschwerpunkt ist das deutsche und internationale Strafrecht.