[B] Kein Fall für die Kiezmiliz

Erstveröffentlicht: 
09.01.2014

Nicht nur der Überfall auf den Schriftsteller Raul Zelik im Görlitzer Park in Berlin stellt Linke vor die Frage, wie mit Straßengewalt und No-Go-Areas umzugehen ist. von Peter Nowak.

 

»Friss und stirb trotzdem« lautet der Titel des 1997 erschienenen Debütromans des Berliner Schriftstellers Raul Zelik. Im Mittelpunkt der Handlung steht eine Gruppe Berliner Antifaschisten, die nach einer aus dem Ruder gelaufenen Aktion mit Mordanklagen, Verfolgung und politischer Emigration konfrontiert wird. Das reale Vorbild für die Geschichte war die Antifa Gençlik, eine von Migranten organisierte Gruppe, die zerschlagen wurde, nachdem Gerhard Kaindl, ein Kader der extrem rechten Deutschen Liga für Volk und Heimat, bei einem Angriff in Kreuzberg getötet worden war. Sein Tod war eine Zäsur für den aktivistischen Flügel der Antifa-Bewegung, dem es hauptsächlich darum gegangen war, Neonazis mit direkten Angriffen Grenzen aufzuzeigen. Mit der literarischen Verarbeitung des Stoffes hatte Zelik die Diskussion über die politischen Konsequenzen in der außerparlamentarischen Linken gefördert.

 

Mehr als 15 Jahre später hat Zelik mit einem Text abermals eine Debatte angeregt. Im Dezember veröffentlichte er einen Artikel mit dem Titel »Meine innere Sicherheit« im Tagesspiegel. Wieder geht es um einen Überfall in Kreuzberg, doch dieses Mal hat er keine politischen Hintergründe. Und vor allem: Zelik selbst ist das Opfer der Gewalt. Er beschreibt in dem Text, wie er Ende September im Görlitzer Park überfallen wurde: Nachts radelte er von Kreuzberg nach Neukölln und wählte dabei die Abkürzung durch den Park, wo er dann angegriffen und ausgeraubt wurde. Der materielle Verlust hielt sich in Grenzen. Ein altes Mobiltelefon und 30 Euro erbeuteten die Räuber, das Portemonnaie mit Ausweisen und Karten ließen sie auf einer Parkbank zurück.

 

Doch die körperlichen und psychischen Folgen wiegen für Zelik ohnehin schwerer. Er schildert den Überfall sehr eindringlich. »In diesem Moment trifft mich ohne jede Vorankündigung von links ein Schlag ins Gesicht. Ich spüre den Unterkiefer krachen, das Gefühl, als hätte man mir einen Zahn ausgeschlagen. Der Sturz verläuft einigermaßen kontrolliert, dann beginnen die Männer auf mich einzutreten. Es fühlt sich an, als wären sie zu siebt oder acht, vielleicht sind es aber auch nur fünf. Der Angriff kommt so unvermittelt, dass ich im ersten Moment denke, die Männer wollten mich umbringen. Ich erinnere mich an Fälle, bei denen Menschen einfach aus Lust an der Gewalt totgetreten wurden.«

 

Nachdem der Schriftsteller an die Öffentlichkeit gegangen war, outeten sich auch andere Linke als Opfer von Überfällen. Darunter ist auch ein Mitglied der Mieterbewegung, das anonym bleiben will. Auch ihm blieb die große Brutalität des Überfalls in Erinnerung. Als ihn im Görlitzer Park einige Unbekannte umringt hätten, habe er ihnen eine Zigarette angeboten, um die Lage zu entspannen. Doch sie hätten sofort mit großer Wucht zugeschlagen. Der Mann hat den Eindruck, den Tätern sei es eher um die Schläge als um die Beute gegangen. Wie Zelik musste auch er nach dem Überfall stationär im Krankenhaus behandelt werden.

 

Das hatte in beiden Fällen etwas zur Folge, das viele außerparlamentarische Linke in der Regel scheuen: Die Polizei wurde eingeschaltet, Anzeigen wurden erstattet. Nachdem Zeliks Artikel erschienen war, gab die Berliner Polizei an, im Zeitraum zwischen dem 20. September und dem 17. November seien zehn Überfälle im Görlitzer Park zur Anzeige gebracht worden. Zwei Tatverdächtige, die an dem Überfall auf Zelik beteiligt gewesen sein sollen, sitzen mittlerweile in Untersuchungshaft.

 

Doch damit ist für Zelik die persönliche »innere Sicherheit« nicht wiederhergestellt. Erst nach knapp vier Wochen habe er den Park das erste Mal wieder betreten können, schreibt er. Mit dem Versuch, eine Auseinandersetzung über die politischen Konsequenzen des Überfalls zu führen, spricht Zelik ein Thema an, das für die außerparlamentarische Linke äußerst heikel ist. Offizielle Stellungnahmen von linken Gruppen zu den Überfällen gibt es nicht. Wenn sich Linke dazu äußern, betonen sie überwiegend, dass sie nur für sich sprechen und anonym bleiben wollten. Schließlich wird der Begriff Sicherheit stets mit Law-and-Order-Politik in Verbindung gebracht, weshalb außerparlamentarische Linke eher dazu neigen, zur Störung der »inneren Sicherheit« aufzurufen. Ein Thema, das in der Regel in der linken Debatte ausgeblendet wird, wird nun wegen Zeliks Artikel diskutiert: die ganz persönliche »innere Sicherheit«.

 

Das von der Linken häufig und gern proklamierte »Recht auf Stadt« wird schließlich auch dann verletzt, wenn bestimmte Orte zu No-Go-Areas werden, weil sich Angriffe und Überfälle häufen. Vor allem Menschen mit wenig Geld, die sich kein Taxi leisten können, meiden dann spätestens nach Einbruch der Dunkelheit manche Gegenden. Im Fall des Görlitzer Parks haben auch Linke in den vergangenen Monaten individuelle Konsequenzen gezogen. Sie nehmen Umwege in Kauf, um den Park zu umgehen, zumindest wenn sie nicht in einer größeren Gruppe unterwegs sind.

 

Ein Kreuzberger Linker, der anonym bleiben will, hält es für einen großen Fehler, dass die linke Szene in einer Gegend, in der sie noch einen gewissen gesellschaftlichen Einfluss besitzt, nicht versucht, die Überfälle zu einem öffentlichen Thema im Stadtteil zu machen. So könne man schließlich Boulevardzeitungen und konserva­tiven Politikern mit ihren Law-and-Order-Parolen die Deutungshoheit nehmen. »Warum wurden nicht Stadtteilversammlungen initiiert, in denen man gemeinsam mit den Anwohnern bespricht, wie man auf die Überfallserie reagiert?« fragt er sich. »Beispielsweise mit einem Lichterfest, bei dem die angstbesetzten Zonen erleuchtet werden.« Solche Aktionen seien in Kreuzberg noch vor einigen Jahren von feministischen Gruppen in Gegenden organisiert worden, in denen Frauen von Männern belästigt wurden. Zugleich betont er: »Eine emanzipatorische Reaktion auf die Überfälle kann nicht in der Bildung einer autonomen Kiezmiliz bestehen, in der viele starke Männer und vielleicht auch einige Frauen Polizeiaufgaben übernehmen.«

 

Das Konzept der Kiezmiliz ist im Bereich der Antifa bereits mit dem gewaltsamen Tod des rechts­ex­tremen Funktionärs Kaindl an seine Grenzen gestoßen. Damals hat Zelik die Diskussion über die Folgen in der Linken mit seinem Buch angeregt. Mit seinem Artikel hat er nun gezeigt, dass eine linke Debatte über Überfälle und Straßenkriminalität ohne rassistische Zuschreibungen möglich ist. Allerdings bleibt noch zu beweisen, dass sich eine linke Umgangsweise mit der Straßenkriminalität finden lässt, die sich nicht darin erschöpft, von einer autonomen Kiezmiliz zu träumen, die die Polizei ersetzen kann.