Zelte, Schule oder Kälteschutzunterkunft? Die protestierenden Flüchtlinge stehen in Berlin nicht nur politisch vor großen Schwierigkeiten.
von Christian Jakob.
Für die Boulevardpresse ist es nur noch das »Horror-Haus«, das »Haus ohne Gesetz« oder das »Flüchtlingshaus des Grauens«. Die Rede ist von der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Das Gebäude ist seit Dezember 2012 besetzt. Die Besetzer haben einem Teil den Namen Irving-Zola-Haus (IZH) gegeben, nach dem US-amerikanischen Behindertenrechtler und Autor.
Als sie im vergangenen Winter vom Protestcamp der Flüchtlinge am Kreuzberger Oranienplatz in die damals leerstehende Schule zogen, wollten sie sie zu einem Ort machen, an dem sich »möglichst viele verschiedene Menschen wohlfühlen und ohne Angst bewegen können«. Das Haus sollte »so barrierefrei wie möglich« sein, »offen für Menschen mit geringem Einkommen«, ein Raum für Gruppen, die »gegen steigende Mieten und Verdrängung im Kiez, gegen internationale Ausbeutung und Kolonialismus, gegen den zerstörerischen Kapitalismus« kämpfen.
Zurzeit leben ungefähr 200 Menschen in der Schule, die meisten davon Flüchtlinge, die im Zuge der mehr als 13 Monate währenden Proteste am Oranienplatz nach Berlin kamen. Es sind mehr Personen, als in der Schule unter erträglichen Umständen Platz haben. Wie lange sie bleiben können, ist offen.
Im Frühsommer präsentierte Bild einen angeblichen Flüchtlingssprecher namens Claude, der behauptete: »Jede Frau, die hier nachts reingeht, muss damit rechnen, vergewaltigt zu werden.« Die protestierenden Flüchtlinge stellten klar, der Mann sei nicht ihr Sprecher. Er selbst betonte im Nachhinein, den Satz nicht gesagt zu haben. Doch der Vorwurf stand im Raum – und die Forderungen vor allem aus der CDU nach einer Räumung rissen nicht ab.
Seit am 14. November ein Afrikaner auf dem Gelände der Schule auf einen anderen einstach und ihn dabei schwer verletzte, ist die Zukunft des Projekts vollends ungewiss. Ein Sondereinsatzkommando rückte wegen der Messerstecherei an, Agenturen berichteten später, die Tat sei geschehen, weil das Opfer »seine Zigarette und seinen Whiskey nicht teilen wollte«. Der Stadtrat Hans Panhoff (Grüne) versuchte, die Lage zu beruhigen. Es sei falsch, den Schluss zu ziehen, »dass in der Schule eine besonders aggressive Stimmung herrscht«, sagte er. »Angesichts der Enge geht es eher erstaunlich friedlich zu.«
Denise Garcia Bergt hat in der Schule den »International Women Space« aufgebaut. Es handelt sich um einen separaten Trakt mit einem geschützten Raum für Frauen, der für Arbeitskreise, Sprachkurse und Rechtsberatung genutzt wird. Mehrmals in der Woche gibt es offene Treffen. Der Frauentrakt sei, so sagen viele, das am besten funktionierende Projekt in der Schule.
»Wir treffen uns dort seit einem Jahr dreimal die Woche. Sieben Frauen leben in unserem Trakt. Angegriffen wurde noch keine von uns«, sagt die aus Brasilien stammende Garcia Bergt. Gewalt gebe es, doch sie spiele sich zwischen den männlichen Bewohnern ab. Die meisten von ihnen seien Asylsuchende oder Geduldete, sie hätten keine Arbeit und keine Perspektive. Angesichts der Umstände in der Schule sei die Gewalt aber »minimal«.
Die Probleme erklärt Garcia Bergt auch mit der Entstehung des Projekts. »Die Schule ist Ergebnis des Oranienplatzes«, sagt sie. »Als wir im vergangenen Dezember hier angefangen haben, haben sich Leute vom Oranienplatz mit anderen gemischt. Es war nie eine homogene Gruppe, nicht alle haben gleich verstanden, worum es geht.« Die einen hätten »gegen das Asylsystem gekämpft«, die anderen hatten keine Bleibe. So teilten sich Leute wie Garcia Bergt, die ein politisches Projekt schaffen wollten, die Schule mit anderen, die ein Dach über dem Kopf brauchten.
Anfangs wurden alle Plena, die die Schule betrafen, nicht dort abgehalten, sondern am Oranienplatz. Die Flüchtlinge bestanden darauf, dass das Protestcamp der Ort ist, an dem ihr Kampf sichtbar sein sollte. Der Organisierung in der Schule tat das nicht unbedingt gut. Erst nach und nach wurden die Plena ins IZH verlegt. »Nach einer langen Reise, einer Flucht, sind Plena aber nicht unbedingt deine erste Priorität«, sagt Garcia Bergt. Seitdem arbeiteten sie an ihrer Entwicklung. »Aber das braucht Zeit.«
Zum Leben sei die Schule bestimmt nicht der beste Ort, räumt die Frau ein. Unter anderem fehle es an Duschen. Dennoch ist ihrer Ansicht nach das IZH für viele Bewohner das kleinere Übel. »Die Alternative für sie ist bestenfalls ein Lager irgendwo auf dem Land, abgeschnitten von allem. Warum sollten sie dahin zurück? In der Schule sind sie zusammen, sie können eine Community aufbauen. Das ist besser als die Isolation. Die macht die Menschen fertig. Wer lange isoliert leben muss, funktioniert irgendwann nicht mehr. In der Schule können sie das durchbrechen«, sagt Garcia Bergt, die die vergangenen Jahre damit verbracht hat, eine Dokumentation über die Residenzpflicht zu drehen.
Sie rechnet es dem Bezirk positiv an, dass er die ganze Zeit über den Dialog mit den Schulbesetzern aufrecht erhalten hat, obwohl das IZH von allen Seiten heftig kritisiert wird. »Der Bezirk steht unter Druck: von den konservativen Medien, vom Senat und von der Bundesebene der Parteien. Unsere Forderungen sind nicht populär, die neue Regierung hat kein Interesse daran, sie zu erfüllen. Und natürlich kann Kreuzberg die Residenzpflicht nicht abschaffen.« Zudem habe sich der Bezirk auch um neue Fenster und Elektrizität gekümmert.
Am 24. November zog eine Gruppe von Bewohnern des Protestcamps auf dem Oranienplatz in eine Kälteschutzunterkunft im Stadtteil Wedding um. Doch längst nicht alle Bewohner des Camps fanden dort Platz oder durften dort einziehen. Und viele Flüchtlinge wollen auch im Winter an dem Camp als Ort des politischen Protests festhalten, denn ihre Forderungen etwa nach Abschaffung der Residenzpflicht sind weiter unerfüllt.
Wie sich der Bezirk in Zukunft verhalten wird, ist unklar. Die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) erklärte ebenfalls am 24. November die Duldung des Camps für beendet. Auch mit der Schule verliere sie die Geduld, sagte sie bei dieser Gelegenheit. Am Oranienplatz marschierten Polizisten auf, die Auflösung des Camps schien bevorzustehen. Doch in letzter Minute lenkte der Bezirk ein, die Auflösung wurde bis auf weiteres verschoben. Die Flüchtlinge verbreiteten eine Erklärung, in der sie sich gegen die von manchen Medien aufgestellte Behauptung verwahrten, sie seien von »linksradikalen Gruppen« vereinnahmt worden. »Wir finden es zynisch, dass ein Teil von uns Geflüchteten entmündigt wird, indem wir als hilflose Opfer dargestellt werden und uns die Fähigkeit, politische Forderungen zu äußern und für sie einzustehen, abgesprochen wird. Wir werden nicht als politische Akteure anerkannt, in den Medien nicht adäquat zitiert und unsere politischen Inhalte werden verdreht oder ignoriert.«
Der Berliner Innensenator Frank Henkel (CDU) stellte Herrmann ein Ultimatum, bis zum 16. Dezember das Flüchtlingscamp räumen zu lassen. Unbekannte bewarfen daraufhin seinen Dienstsitz mit Farbbeuteln. Für das IZH gilt das Ultimatum nicht. Die Bewohner hoffen, zumindest den Winter dort verbringen zu können.