365 Tage react!OR - 365 Tage emanzipatorische Politik im Allgäu

Lust und Laune

Es ist so weit. Vor genau 365 Tagen haben wir das selbstverwaltete Jugendhaus react!OR in Kempten in Südbayern eröffnet. Seit dem fanden in der tiefschwarzen allgäuerischen Provinz über 50 öffentliche Veranstaltungen und Aktionen statt, die sich mit emanzipatorischer Theorie und Praxis beschäftigten und entsprechend in lokale Verhältnisse intervenierten. Damit das weitergehen kann, sind wir auf eure Unterstützung angewiesen.


Der aktionistische Schwerpunkt lag deutlich auf Antirassismus. Es gab zwei Flüchtlingsdemos, Begleitung zu den Ämtern, die Auszahlung einiger verweigerter Geldleistungen wurde erreicht, eine Abschiebung konnte zwar nicht verhindert, aber wenigstens behindert und mehrmals aufgeschoben werden. Zum tödlichen Naziangriff in Kaufbeuren wurden zwei Demonstrationen und zwei Infoveranstaltungen zur lokalen Naziszene organisiert. Aus all dem entstand das Antirassistische Jugendaktionsbüro, das im react!OR einen Anlaufpunkt für Betroffene des rassistischen Normalzustandes für Support, Beratung und die Organisierung von Widerstand bietet. Außerdem ist das Büro Recherche- und Dokumentationsstelle für lokale Neonaziaktivitäten, betreibt antirassistische Bildungsarbeit und mischt sich ein, wo dies notwendig und geboten erscheint.

 

Daneben haben wir uns über das Jahr intensiv mit den Mechanismen beschäftigt, die uns vom von einer Welt trennen, die auf freie Vereinbahrung, Kooperation und Solidarität baut: Sexismus, Antisemitismus, Kapitalismus, Repression und Herrschaft an sich gehörten dazu. Aber auch mit möglichen Praktiken im Umgang mit den bestehenden Verhältnissen und zu deren Überwindung haben wir uns eingehend beschäftigt.

 

Mit dieser theoretischen und praktischen Grundlage ausgestattet wollen wir natürlich weiter machen. Jetzt, da wir das, was die Meisten jahrelang für unmöglich gehalten haben geschafft haben, sowieso! Wir haben eine Plattform mit der nötigen Infrastruktur für emanzipatorische Einmischungen und die Vermittlung der entsprechenden Inhalte mitten im Allgäu aufgebaut und ein Jahr lang gehalten.

 

Der Raum

Der Umsonstladen stellt eine Umsetzung unserer Kritik an der kapitalistischen Verfasstheit der Gesellchaft dar, indem er »seine« Produkte ihrem Warendasein entreißt und diversen Menschen damit ein wenig ökonomische Last von den Schultern nimmt. Durch den Umsonstladen finden viele verschiedene Menschen, die dem Projekt ohne diesen keine Beachtung schenken würden, den Weg in den react!OR. Das Material in Infoladen und Bibliothek erleichtert - natürlich solidarisch zum Preis nach Selbsteinschätzung - die Recherche für Aktionen und fördert die Verbreitung emanzipatorischer Ideen auch unter diesen Menschen. Vorrätige Flyer und Broschüren senken die Schwelle, auch spontan politische Aktionen durchzuführen und reduzieren den Vorbereitungsaufwand. Alles Weitere findet sich in der »Direct-Action-Ecke«: Mit Farben, Bannerstoff, Werkzeugen, Notstromaggregat, mobilem Soundsystem und vielen weiteren Utensilien lassen sich alle möglichen Aktionen durchführen; was fehlt wird bei Bedarf hinzugefügt und steht wiederum für alle folgenden Aktionen zur Verfügung. Somit erhöhen sich die Aktionsmöglichkeiten aller, wenn sich einzelne neue Möglichkeiten eröffnen. Die allgemeine Verfügbarkeit der Aktionsutensilien als Direct-Action-Plattform im react!OR dient zugleich als Repressionsschutz: was allen zur Verfügung steht, kann auch von allen genutzt worden sein.

 

Vom offenen Büro aus können die Aktivitäten organisiert und vermittelt werden. Computer, Internet, Pressekontakte und Knowhow werden allgemein zugänglich gemacht. Ebenso wird der Raum genutzt, um in inhaltlichen Veranstaltungen mit Vorträgen, Filmvorführungen und Workshops für die weitere Vermittlung unserer Kritik und Praxis zu sorgen.

 

 

Der Offene Charakter

Die Räume und die Infrastruktur stehen dabei allen interessierten je nach deren Bedürfnissen zur Verfügung, Nutzer_innen sind dazu angehalten, nach ihren Möglichkeiten zu Erhalt und Erweiterung der Struktur beizutragen sowie auch Reproarbeiten wie Putzen und Aufräumen zu übernehmen. Ausdrücklich schlossen wir formale Hierarchien wie sie durch Plena oder Vorstände¹, die Entscheidungen treffen und Weisungen erteilen könnten von Anfang an aus. Entscheidungen treffen jeweils nur die, die sie angehen - und nur für die haben die dann »Gültigkeit«. So sollte eine strukturelle Notwendigkeit eingeführt werden, in eine direkte Auseinandersetzung mit anderen Nutzer_innen oder Besucher_innen treten zu müssen, wenn beispielsweise deren Verhalten als unangenehm empfunden wird oder Menschen die gleiche Sache zur gleichen Zeit nutzen wollen. Durch die Unmöglichkeit, sich auf Plenumsbeschlüsse oder andere übergeordnete Ebenen zu beziehen, so Konflikte nicht direkt zu klären, soll gewährleistet sein, dass die Verhältnisse immer neu ausgehandelt werden und den Bedürfnisse der konkret zu einem Zeitpunkt Nutzenden möglichst nahe kommen. Außerdem wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass etwa Menschen, die sich sexistisch verhalten, nicht einfach verbotsmäßig entfernt werden, sondern inhaltlich mit ihrer Handlungsweise konfrontiert und in einen Reflexionsprozess verwickelt werden. Denn ohne entsprechende Prozesse finden wir einen emanzipatorischen gesellschaftlichen Wandel schlicht nicht vorstellbar. Rausschmisse sind - um Missverständnissen vorzubeugen - dabei keineswegs ausgeschlossen.

 

Durch die Wegnahme formaler Hierarchien treten informelle Hierarchie- und Dominanzverhältnisse in den Vordergrund: sexistisch-heteronormative Rollenverteilung, Checker_innentum², Wissensgefälle, ökonomisch ungleiche Verhältnisse und so weiter und so fort. Die lassen sich zwar auch durch Beschlüsse und Moderation, unterschiedliche Redelisten und -zeiten oder andere Methoden »von oben« mildern. Real bilden aber häufig gerade diese informellen Hierarchie- und Dominanzverhältnisse die Linien, an denen sich formale Hierarchien konstituieren.

 

Demgegenüber bietet der bewusste Verzicht auf formalisierte Hierarchisierungen einen unverstellteren Blick auf jene Mechanismen, die verhindern, dass wir uns auf einer Ebene begegnen und damit die Möglichkeit der offensiven und kontinuierlichen Auseinandersetzung, um entsprechende Verhaltensweisen aufzudecken und via intensiver Reflexion zurück zu drängen. Dazu braucht es selbstverständlich die Bereitschaft, sich darauf einzulassen und ein gewisses Maß an Einfühlungsvermögen, um auch außerhalb der eigenen Betroffenheit intervenieren zu können. Beides wird explizit eingefordert.

Eine genauere Auseinandersetzung mit dem Konzept Offener Räume lohnt sich. Wir empfehlen den Reader »Offene Räume«. Unser Ansatz, wie wir ihn vor Beginn unseres Projektes ausgearbeitet und in Hinsicht auf die Ansprüche möglicher Fördertöpfe haben, ist in der Kurzversion unseres Konzepts nachzulesen.

 

 

Das Problem

Die ersten Monate unseres Projektes wurden auf Grund eines Antrags auf Fördergelder durch ein Programm der Europäischen Union finanziert. Diese Gelder sind längst verbraucht und wir müssen uns dringend um die weitere Finanzierung kümmern. Um die Zeit zu haben, das schaffen zu können, wird der react!OR momentan von geliehenen Geldern finanziert. In unserer derzeitigen Situation im Allgäu ist eine ausreichende Finanzierung durch die Nutzer_innen mangels entsprechender Szene nicht möglich. Einnahmen sind da nicht durch Partys, Konzerte und inhaltliche Veranstaltungen wie anderswo realisierbar. So sind wir weiterhin darauf angewiesen, Fördergelder bei Stiftungen sowie Staatsknete einzuwerben. Das finden wir nicht grundsätzlich problematisch. Erstens aber stellt die Einwerbung dieser Mittel einen enormen Aufwand dar. Entsprechend kann die dafür aufgewendete Zeit nicht für direkte politische Arbeit verwendet werden. Zweitens sind wir, solange der Erhalt unserer Strukturen von diesen abhängig ist, auch »von oben« abwickelbar. Wenn Gelder gestrichen werden - sei es weil wir uns nicht anbiedern wollen, befristete Förderungen auslaufen, oder wichtige Anträge zurück gewiesen werden - haben wir ein Problem. Auch wenn das für den Moment die einzige Möglichkeit darstellt, die Struktur überhaupt zu betreiben, ist es für uns nicht hinnehmbar, das Projekt auf Dauer dermaßen ausgeliefert zu sehen.

 

 

Die Lösung

Um diesem Dilemma zu entgehen, bitten wir Projekte in größeren Städten, ihre Strukturen zu nutzen, um emanzipatorische Politik in der südbayerischen Provinz zu unterstützen. Wenn wir die monatlichen Grundkosten (Miete, Strom, Heizung, Telefon) über diesen Weg sichern können, bleiben wir dauerhaft handlungsfähig und entgehen der Gefahr, »von oben« erledigt zu werden, müssen nicht einen Großteil unserer Zeit in die Finanzierung und können alle weiteren eingeworbenen Gelder direkt in politische Arbeit stecken.

 

Unser Vorschlag: Ihr nutzt eure Strukturen, um Soliparties und -konzerte zu veranstalten und tragt damit direkt dazu bei, dass der Kampf gegen Nazis und Rassismus und für ein ganz anderes Ganzes auch im miefig-spießigen Allgäu fortgesetzt werden kann. Kombinieren würden wir das gerne mit einer Vortragsreise, die wir Ende Dezember/Anfang Januar beginnen möchten. Wir würden gerne das Konzept offener Aktionsplattformen vorstellen, debattieren und für eine Errichtung solcher Strukturen überall - also bei euch - plädieren. Also: Ladet uns ein und macht die Weiterführung unseres Engagement möglich!

Außerdem können uns Einzelpersonen mit regelmäßigen Spenden von Kleinbeträgen von 3 bis 5 Euro auf das Konto unseres Trägervereins als Dauerauftrag oder Einzugsermächtigung unterstützen.

 

 

Die Verhältnisse zum Tanzen bringen - Offene Aktionsplattformen und offensive Auseinandersetzung nach innen und außen. Überall!

 


Bitte gebt diesen Aufruf an euch bekannte Gruppen weiter.

¹ Der Trägerverein hat zwar welche, aber der sorgt nur für die zur Verfügungstellung der Infrastruktur als Offenen Raum und mischt sich formal nicht ein.

² Dazu zählen wir auch Menschen mit privilegierten Zugängen zum Beispiel durch exklusive Verfügung über Schlüssel oder Passwörter. An dieser Stelle sind auch wir inkonsequent - die Tür zum react!OR hat ein Schloss und die Öffnung hängt von den Privilegierten, die im Besitz von Schlüsseln sind, ab. Dafür haben wir uns bewusst entschieden, da eine durchgehende Öffnung den Beteiligten zu riskant ist.