Kanadier verhindert Abschiebung - „Wichtiger als der eigene Spaß“

Die Forderung der Flüchtlingsaktivisten - von Francois-Xavier Sarrazin praktisch umgesetzt.  Bild:  dpa
Erstveröffentlicht: 
23.06.2013

Eigentlich wollte François-Xavier Sarrazin ins Wochenende nach Budapest fliegen. Dann verhinderte er die Abschiebung eines Flüchtlings. Ein Interview.

 

taz: Herr Sarrazin, Sie haben am Donnerstag eine Abschiebung verhindert. Wie fühlen Sie sich?

François Sarrazin: Ein bisschen gestresst, um ehrlich zu sein. Ich warte auf die Mitteilung, was für Konsequenzen das für mich hat.

Was glauben Sie?

Die Polizei hat am Flughafen meine Personalien aufgenommen. Es hieß, ich könne gehen, stehe aber weiterhin unter Verdacht. Dank der Hilfe von Flüchtlingsaktivisten habe ich zumindest schon mal einen Anwalt.

Sie sind Kanadier. Was hat Sie nach Berlin verschlagen?

Mein Beruf. Ich bin Künstler und Fotograf. Seit eineinhalb Jahren lebe ich in Berlin. Ich liebe die Stadt und möchte auf alle Fälle länger bleiben.

Letzten Donnerstag wollten Sie von Tegel nach Budapest fliegen. Was hatten Sie dort vor?

Ich wollte meine Freundin besuchen. Es war ein Kurztrip von drei, vier Tagen geplant.

Als Sie eincheckten, fand gerade eine Protestaktion gegen die geplante Abschiebung des pakistanischen Asylbewerbers Usman Manir statt. Was haben Sie davon mitbekommen?

Jemand hat mir ein Flugblatt in die Hand gedrückt. Der Inhalt hat mich erbost. Nicht schon wieder diese Scheiße, habe ich gedacht. In Kanada passiert mit Flüchtlingen ja das Gleiche. Das war’s wohl mit dem Wochenende, schoss es mir durch den Kopf.

Wann genau haben Sie die Entscheidung getroffen, etwas zu unternehmen?

Nach dem Check-in. Ich saß in dem Bereich, wo man auf den Aufruf zum Boarding wartet. Als uns der Bus zum Flugzeug brachte, sah ich von dort einen Polizei-Mannschaftswagen kommen. Der Abschiebehäftling ist also im Flieger, war mein Gedanke. Das ist hier alles kein Witz, das ist Wirklichkeit.

Hatten Sie Angst?

Schon ein bisschen. Andererseits war ich mir sicher, dass ich nichts Ernsthaftes zu befürchten habe. Ich hatte ja nichts Gefährliches oder gar Gewalttätiges vor. Ich wollte auch kein großes Theater machen.

Als sich das Flugzeug in Bewegung setzte, sind Sie von Ihrem Sitzplatz aufgestanden. Wie kamen Sie auf die Idee?

Das stand so in dem Flugblatt, das die Protestierer verteilten: Wenn du dich nicht hinsetzt, darf das Flugzeug nicht starten. Das Einzige, was ich machen musste, war aufzustehen und mich zu weigern, mich zu setzen.

Wann haben Sie Manir zum ersten Mal gesehen?

Er saß ganz hinten im Flugzeug. Er war nicht gefesselt und hatte auch keine Polizeibegleitung. Ich habe ihm zugelächelt, als ich eingestiegen bin. Nachdem ich mein Handgepäck verstaut hatte, bin ich zu ihm hin und habe ihm das Flugblatt gezeigt. Ich wollte sicher sein, dass er auch wirklich Usman Manir ist. Er sagte „Yes“. Ich habe ihm bedeutet, dass ich mit der Aktion warte, bis die Türen geschlossen sind.

Wie ging’s dann weiter?

Ich habe eine Nachricht auf einen Zettel geschrieben, warum ich mich nicht hinsetzen werde. Die habe ich dem Steward übergeben. Der hat mich zweimal aufgefordert, mich hinzusetzen. Dann hat er den Kapitän informiert. Der hat das Flugzeug gestoppt. Manir ist aufgestanden und zu meinem Platz gekommen.

Wie haben die anderen Passagiere reagiert?

In dem Flieger saßen so an die 70 Menschen. Ich habe versucht, zu erklären, warum ich das tue. Ich wollte niemanden ängstigen, geschweige denn herausfordern. Die Leute waren ganz still. Einige schienen Angst vor mir zu haben. Ein Mann rief laut: Halt die Klappe und setz dich hin.

Gab es Solidarität?

Bei einigen meinte ich, an den Augen zu erkennen, dass sie sympathisierten. Aber sie gingen kein Risiko ein.

Was geschah, als der Flieger hielt?

Die Türen gingen auf und Polizisten kamen rein. Alles war friedlich. Die Polizei wusste, dass wir das Flugzeug verlassen wollten. Das hatte ich auf den Zettel geschrieben. Ich ging hinter Usman, um sicher zu sein, dass er den Flieger wirklich verlässt.

Wie reagierte Manir?

Wir wurden in denselben Polizeibus gebracht. Er konnte es nicht glauben, kauerte am Boden des Polizeiwagens und hatte seinen Kopf in den Händen. Ich bat ihn, sich zu setzen. Alles ist vorbei, habe ich gesagt. Aber er reagierte nicht. Er war verängstigt, glaubte, dass er in das Flugzeug zurückmuss. Er spricht nur ganz wenig Englisch. Im Flugzeug hatte er mir bedeutet, dass ein Ohr taub ist, seit er in Ungarn in einer Unterkunft für Asylbewerber misshandelt worden ist.

Den Piloten haben Sie demnach überhaupt nicht gesehen?

Doch, als wir im Polizeibus saßen, kam er aus dem Flugzeug und sprach mit den Polizisten. Ich konnte nichts verstehen. An der Bewegung der Hände meinte ich zu erkennen, dass ihn die Polzisten fragten, ob sie Usman ins Flugzeug zurückbringen könnten. Der Pilot wehrte ab. Ich glaube, er war einfach abgegessen. Er schien keine Lust auf weitere Probleme zu haben.

Wann hat Manir realisiert, dass er nicht abgeschoben wird?

Ich sagte immer wieder zu ihm, es ist vorbei. Da fing er an zu weinen. Auf dem Flughafen wurde er von Polizisten abgeholt, die ihn in die Abschiebehaft zurückbringen sollten. Er hat freiwillig seine Hände ausgestreckt, damit ihm Handfesseln angelegt werden können. Aber die Polizisten haben gesagt, Handfesseln seien nicht nötig.

Wie würden Sie seinen Zustand beschreiben?

Ich will nicht sagen, dass er gebrochen wirkte. Aber er wirkte ernsthaft krank. Dieser Mann sollte nicht im Gefängnis sein. Er tut mir extrem leid. Ich möchte den Kontakt zu ihm halten.

Was denken Sie im Nachhinein von Ihrer Aktion?

Ich wollte nach Budapest fliegen, um mit meiner Freundin ein schönes Wochenende zu verbringen. Sie lebt in Ungarn. Und dann sitze ich im Flugzeug zusammen mit einem Mann, der abgeschoben werden soll? What the fuck is this? Es gibt Dinge, die sind ein bisschen wichtiger als der eigene Spaß.

Und was hat Ihre Freundin gesagt, als sie hörte, dass Sie nicht kommen?

Zuerst hat sie es nicht geglaubt. Aber dann hat sie gesagt: Oh, du mein Held.


Polizei prüft Anzeige

Der Abbruch der Abschiebung kam "last minute". Usman Manier, 27-jähriger pakistanischer Flüchtling, saß am Donnerstag schon im Air-Berlin-Flieger von Tegel nach Budapest, als der Protest des kanadischen Mitreisenden François-Xavier Sarrazin (38) die Ausreise verhinderte.

Schon vor dem Check-in hatten 50 Flüchtlingsaktivisten gegen die Abschiebung protestiert. Laut ihnen floh Manir vor der Taliban aus Pakistan und landete in Ungarn. Dort wurde er nach eigener Auskunft in einem Flüchtlingsheim von Unbekannten angegriffen und erlitt einen Schädelbruch. Manir klagt seitdem über Taubheit auf einem Ohr und Panikattacken. Er floh erneut und wurde im Mai in Pirna, Sachsen aufgegriffen. Brandenburg nahm ihn "in Amtshilfe" in Eisenhüttenstadt in Abschiebehaft. Von dort sollte er, gemäß Asylverordnung Dublin II, zurück ins Ersteinreiseland Ungarn. Laut der am Flughafen tätigen Bundespolizei waren keine Polizisten an Bord, da von einer freiwilligen Ausreise Manirs ausgegangen wurde. Es kam anders.

Während der Flug nach dem Protest ohne Manir und Fluggast Sarrazin verspätet nach Budapest abhob, sitzt der Flüchtling wieder in Eisenhüttenstadt. Laut Unterstützern wurde seine Abschiebehaft um drei Wochen verlängert. Das zuständige sächsische Innenministerium wollte sich zu dem Einzelfall nicht äußern. Grundsätzlich, so ein Sprecher, fielen mit dem Scheitern einer Abschiebung "die dafür maßgeblichen Gründe nicht weg". Gebe es weitere Fakten, werde "unter Würdigung aller bekannten Umstände" neu über den Fall entschieden. Andernfalls "wäre regelmäßig mit einer Wiederholung der Abschiebung zu rechnen". Unterstützer fordern eine externe medizinische Untersuchung Manirs. Dieser sei durch den Angriff in Ungarn traumatisiert und dürfe nicht abgeschoben werden.

Indes prüft die Bundespolizei strafrechtliche Konsequenzen für Sarrazin. Infrage käme etwa Verstoß gegen das Luftsicherheitsgesetz, sagte eine Sprecherin. Widersetzt sich ein Passagier dem Flugkapitän oder Crewmitgliedern, können Geldbußen bis zu 25.000 Euro verhängt werden, bei Gewalt auch Freiheitsstrafen. Geprüft werde auch, ob ein "gefährlicher Eingriff in den Luftverkehr" vorliege. Hierfür drohe in minder schweren Fällen immer noch eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren. Auch Nötigung komme in Betracht - Strafmaß bis zu drei Jahre. Oder Ordnungswidrigkeit wegen "Gefährdung der öffentlichen Ordnung". Dafür droht eine Geldbuße.

Entscheidend dürfte sein, wie die Rolle des Piloten gewertet wird. Laut Sarrazin hatte dieser ja dem Abbruch der Abschiebung zugestimmt. Und, so bestätigt die Bundespolizei, an Bord hat der Flugkapitän stets die Hoheitsgewalt. Unterstützer Manirs erklärten, auch Sarrazin beistehen zu wollen. KONRAD LITSCHKO