23. Mai - antinationale Parade in Berlin

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Ein breites linksradikales Bündnis aus zur Zeit etwa 30 Initiativen mobilisiert unter dem Motto "Etwas Besseres als die Nation - Gegen die Herrschaft der falschen Freiheit!" zu einer antinationalen Parade am 23. Mai in Berlin. An diesem Tag jährt sich die Gründung der BRD zum sechszigsten Mal. Während am Brandenburger Tor und im Reichstag die offiziellen Feierlichkeiten stattfinden werden, wird ab 18.00 Uhr die antinationale Parade mit mehreren Soundsystemen von Mitte nach Prenzlauer Berg ziehen: "Die Feier der Nation ist ein Angriff auf das schöne Leben und die befreite Gesellschaft. Geben wir diesem Angriff die passende Antwort!"

Neben dem bundesweiten "...ums Ganze"-Bündis rufen natürlich viele Gruppen aus Berlin, aber auch immer mehr andere Zusammenhänge zu der Parade auf - der Stand der Unterstützungsliste wird digital laufend aktualisiert:

ETWAS BESSERES ALS DIE NATION

Gegen die Herrschaft der falschen Freiheit


Antinationale Parade // Berlin // 23.5.09 // 18 Uhr // Rosa-Luxemburg-Platz

Partyparty!
Am 23. Mai feiert die Bundesrepublik ihren 60. Geburtstag. 60 Jahre Grundgesetz - eine Er­folgsgeschichte: 60 Jahre ir­gendwie Men­schenwürde; 60 Jahre kein deutscher Faschismus, sondern Rechtsstaat; 60 Jahre mitentscheiden, welche Farbe regiert; 60 Jahre mehr oder weniger „Wohlstand für alle“ durch „soziale Marktwirtschaft“; 60 Jahre Frieden in Europa; 60 Jahre Tralala. Es gibt schlimmeres als den deutschen Staat. Das war nicht immer so. Deshalb bekommt die BRD sogar von vielen Linken Re­spekt, die ihre Bratwurstbürger_innen und Polithansel widerlich finden, und die weghören wenn die Glotze mal wieder „Du bist Deutschland!“ sagt. Selbst die Systemkrise des Kapitalismus kann die Feierstimmung nicht verhageln. Im Gegenteil, sie erinnert alle daran, dass in der kapitalistischen Weltordnung nur Vater Staat ein kleines bisschen Sicherheit geben kann. Jedenfalls hierzulande. Mit seinen „Rettungspaketen“ und „Schutzschirmen“ erscheint er als Obersamariter der Nation, und seine freiheitlich-demokratische Herrschaft als historische Segnung. Die Identifikation mit der Nation braucht kein Säbelrasseln und kein Stramm­stehen, und auch keinen Brandstifterrassismus. Es genügt, wenn sich alle Aufenthaltsberechtigten fürs Gemeinwohl ins Zeug legen.

Gemeinwohl?
Ok, wir sind nicht naiv: Deutschland ist real nicht die tolle Multikulti-Mitmachnation, die uns aus den schwarz-rot-goldenen Werbespots angrinst. Auch hier werden ständig Menschen ausgegrenzt, wenn etwas an ihnen nicht ins Mitmachschema passt: falsche Hautfarbe, falsche Staatsbürgerschaft, falsches Geschlecht, falsche Bildung, falsche Einstellung zum Eigentum, vor allem aber: zu wenig Geld. Und von Gemeinwohl ist vor allem dann die Rede, wenn es um Einschnitte und Opfer für Deutschland geht: Um den Sozialstaat zu retten wird er abgebaut. Um das Gesundheitssystem zu erhalten wird es beschränkt und verteuert. Um die Rente zu garantieren zieht der Staat seine Garantien zurück. Und dem Standort zuliebe muss auf Lohn und Kündigungsschutz verzichtet werden. Eigentlich le­ben wir in einem der reichsten Länder der Erde. Eigentlich könnte es allen gutgehen. Aber in Wahrheit geht es allen schlecht, nur auf unter­schiedlich hohem Niveau. Und in der Krise sollen alle ihre Gürtel nochmal enger schnallen, damit Deutschland „gestärkt“ in die nächste Konjunktur starten kann.

Gute Staatsbürger_innen nehmen solche Probleme als nationale Herausforderungen an. Sie engagieren sich, damit aus Deutschland ein besseres Deutschland werde. Doch die Sache hat einen grundsätzlichen Haken. Das Gemeinwohl dient in dieser Gesellschaft nicht dem Wohl der Menschen. Schuld daran ist nicht falsche Politik, und auch nicht die angebliche Gier Einzelner. Schuld ist die Gesellschaftsordnung selbst, in deren Rahmen Politik gemacht wird, und für deren Fortbestand der Staat mit seinem Recht und seinem Gewaltmonopol einsteht. Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft verdammt ihre Individuen zur Konkurrenz gegen einander, und macht sie gleichzeitig zu Komplizen im weltweiten Hauen und Stechen der Standorte. Das ist der wesentliche Inhalt von „Freiheit“ und „Gleichheit“ im kapitalistischen Staat. Die falsche Freiheit des kapitalistischen Privateigentums zwingt die Menschen dazu, mit ungleichen Mitteln um den gesellschaftlichen Reichtum zu konkurrieren: um Ausbildungsplätze, um Lohn, um Kunden und Marktanteile, um Investitionen und Kredite, um Ansehen und Ver­trauen, also um Lebenschancen. Gleichzeitig bilden alle Bürger_innen eine reale, klassenübergreifende Schicksalsgemeinschaft in der Weltmarktkonkurrenz. Hier nämlich entscheidet sich, was die Leistung der heimischen Industrie tatsächlich „wert“ ist, und welche Zukunft der Standort hat oder nicht hat. Dieser doppelte Druck kapitalistischer Kon­kurrenz verdirbt alle Annehmlichkeiten, die die kapitalistische Indus­trie produzieren kann. Jeder private, also im Wortsinne ausschließende Gewinn ist ein umkämpftes Privileg auf Widerruf. Jedes Wirtschaftswachstum produziert Verlierer_innen und mehr Stress für die Ge­winner_innen. Daran ändert auch „Anpacken“ für Deutschland nichts. Im Gegenteil, es bestätigt die feindliche Grundordnung dieser Gesellschaft.

Normalo-Nationalismus
Die Konflikte der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sind nicht still zu stellen. Um so notwendiger und rosiger erscheint der Staat. Weil er die zwanghafte Konkurrenz beaufsichtigt, erscheint er als Hüter des Gemeinwohls. In der Krise wie in der Konjunktur soll er die „Exzesse“ des Kapitalismus einhegen. Doch die ordnende Macht des Staates steht nur über den einzelnen Konkurrent_innen, nicht über der kapitalistischen Konkurrenz als Prinzip. Der Staat ist überparteilich gegenüber einzel­nen Privateigentümern, aber parteilich für die Kon­kurrenzordnung des Privatei­gentums, die ihn nährt. Kapital als solches ist heimatlos. Auf der Suche nach profitabler Ver­wertung drängt es über jede Grenze. Anders der Staat und seine Bürger. Sie sind auf den Patriotismus kapitalistischer Gewinne angewiesen - darauf, dass etwas davon in die Bilanzen, Lohn­tüten und Steuersäckel fließt. Deshalb ihre ständige Not, den Kapitalismus auf ein Gemein­wohl zu verpflichten, von dem er sich immer wieder losreißt. Das ist die reale Basis des staatsbür­gerlichen Nationalismus. Alleine die Identifikation mit der souveränen Macht des Staates verspricht, die wiederkehrende Erfahrung individueller Ohnmacht zu überwinden, von der im Kapitalismus nicht mal Privile­gierte und Glückspilze verschont bleiben. Alleine die Zugehörigkeit zur Nation verspricht Schutz und solida­rische Handlungsfä­higkeit jenseits end- und auswegloser Verwertungszwänge. Der staatsbürger­liche Normalo-Nationa­lismus ist also bei­des: ideologische Überwindung wirklicher sozialer Spaltungen, und zugleich Ausdruck der tatsächlichen Frontstellung des national­ökonomischen Kollektivs nach außen. Die Identifikation mit der Nation, mit den Symbolen und Zielen des Staates reagiert auf die unausweichlichen Bedro­hungslagen des Kapitalismus. Sie ist so unberechenbar wie die kapitalistische Konjunktur, aber parteilich fürs ‘eigene’ Kol­lektiv. Dabei mutieren gerade diejenigen zu Staatsfans, die am wenigsten von seiner Ordnung profitieren und auf sei­ne Al­mosen angew­iesen sind, auf BAföG, Hartz IV oder eine Scheissrente. Doch auch allen anderen wird die Identifi­kation mit der Nation zur automatischen Gefühlslage. Es ist etwas wahres dran wenn der Bundespräsident behauptet, die „Weltwirtschaft“ sei „unser Schick­sal“ (Berliner Rede 2009). Die Insassen der nationalökonomischen Schicksalsge­meinschaft sind nicht nur zum na­tionalen Dau­mendrücken verdonnert, sondern zum praktischen Nationalismus, zum Einsatz für Firma und Vaterland. „Ich“ ist im Kapitalismus immer auch ein nationales „Wir“. Du bist wirklich Deutschland, ob Du willst oder nicht!

Jubiläumsnationalismus
Zum 60. Geburtstag der freiheitlich-demokratischen Herrschaft bilanzieren Staat und Bür­ger_innen ihr Dasein am höchs­ten Maßstab den es gibt: der Freiheit. Es erscheint als größtes Verdienst der Bundesrepublik, Freiheit durch Recht, Ordnung und sozialen Aus­gleich ver­wirklicht zu haben. Das nationale Patentrezept dafür heißt „soziale Marktwirtschaft“. Nach dem Willen der Kanzlerin soll sie sogar weltweit den Kapitalismus vor seinen eigenen Krisen retten. Damit ist schon alles Wesentliche zur so­zialen Marktwirt­schaft gesagt: Indem sie die ärgsten Ungleichge­wichte des Kapitalismus aus­bügelt, hält sie ihn im Gleis und erneuert seine Sachzwänge. Die demokratischen Freiheiten, die Deutschland nach Jahren der Reifeverzögerung nunmehr garan­tiert, garantieren allein das Drehen des Hamsterrads der Konkurrenz der Menschen, der Unter­nehmen und der Staaten gegen einander - samt der unberechenbaren Krisen und dauernden Frustrationen, die damit notwendig verbunden sind. Das Versprechen der sozia­len Marktwirtschaft war, ist und bleibt Ideologie. Die integrative Kraft des „Modells Deutsch­lands“ zehrt von der Erinnerung an die provinzielle Friedhofsruhe der alten BRD, mit ihrem armseligen Wohlstand. Doch soziale Marktwirtschaft und beinharte Konkurrenz sind kein Wi­derspruch. Soziale Marktwirtschaft meint nationalen Burg­frieden in der Weltmarktkonkurrenz, auf ewig ge­stellt.

Nicht, dass gegen auch nur geringfü­gige Ver­besserung der Le­bensverhältnisse etwas einzuwenden wäre. Zu begrüßen ist jede von Lohnar­beit freie Minute. Doch der Appell an den fürsorglichen Staat bewegt sich immer schon im Glauben, Staat und Recht seien Werkzeuge des individuellen und gesellschaftlichen Wohlergehens. Er schreibt ungewollt das allgemeine Elend fort. Jede Anrufung des Staates rückt ein Jenseits des Staa­tes in weitere Ferne. Jede betriebliche Forderung nach höheren Löhnen hat in der Sprache der Standortkonkur­renz zu sprechen. Jeder Appell an die Nation bestätigt deren Prinzipien: Privateigentum und Konkurrenz, Leistungsdruck und Ausschluss, Zwang zum Selbstzwang, Schicksalsgemeinschaft in der Weltmarktkonkurrenz.

An alle: Kritik der Nation!
Eine Linke, die ihre eigenen politischen Ziele ernst nimmt, muss also immer auch gegen die nationale Gesamtscheiße gehen. Antifaschismus heißt Kritik an Staat und Nation, denn die völkischen Freaks radikalisieren nur die Logik kapitalistischer Schicksalsgemeinschaft: Aufopferung fürs Privileg der eigenen Bande, gnadenlos gegen den Rest der Welt. Antirassismus heißt Kritik an Staat und Nation, denn die staatliche Diskriminierung von Menschen nach Herkunft und Nutzen folgt der Logik geordneter Standortkonkurrenz: nationale Vorteile sichern, Verantwortung abschieben. Und auch der Alltagsrassismus der deutschen Deppen ist vor allem ein Appell ans nationale Privileg: der Staat soll „Deutsche zuerst!“ bedienen. Schul- und Hochschulpolitik sind nur kritisch, wenn sie die staatlichen Mittel und Zwecke der Bildung attackieren: Entwicklung des nationalen Humankapitals, Wissenschaft als Standortfaktor, „Selbstbestimmung“ nur als Training für Konkurrenz und Auslese. Und jede Politik „im Interesse der Lohnabhängigen“ wird zur nationalen Komplizenschaft gegen Lohnabhängige anderswo, wenn sie sich nicht gleichzeitig gegen Staat und Standort richtet. Lohnarbeit, die herrschende Form kapitalistischer Ausbeutung, heisst Arbeit in endloser Konkurrenz, für andere und gegen andere, zusammengehalten durch staatliches Recht, staatliche Aufsicht und nationales Interesse.

Die Feier der Nation ist ein Angriff auf das schöne Leben und die befreite Gesellschaft. Geben wir diesem Angriff die pas­sende Antwort. Berufen können wir uns dabei auf nichts als den Willen, den Bann zu bre­chen, der uns in dieser erbärm­lichen Welt zu leben heißt.

Wir haben eine Welt zu gewinnen!

Die Antinationale Parade wird unterstützt von:
Antifa Erkner, Autonome Neuköllner Antifa (A.N.A.), Antifaschistische Aktion Bernau, Emanzipative Antifaschistische Gruppe (EAG), North East Antifascists (NEA), T.O.P. B3RLIN, Antifaschistische Jugendaktion Kreuzberg (AJAK), Antifaschistische Schüler_innen Vernetzung (ASV), Jugend Antifa Nord Ost (JANO), FTP-Progressive Culture Crew, Solid Friedrichshain, Leipziger Antifagruppe (LEA), Autonome Antifa F, Gruppe Gegenstrom, Redical [M], Kommunistische Gruppe Bochum, Antifa AK Köln, Fast Forward Hannover, AKZC (Fuchsjagd Coburg), Love techno - hate Germany, Antifa Hohenschönhausen, Antifaschistische Bündnis Südost - Berlin, Antifaschistische Offensive Neubrandenburg (AONB), Jugendantifa Wilmersdorf und Charlottenburg (JAWUC), Antifaschistischer Impuls Dortmund, Antifa-Westerwald. (Stand 9. Mai)


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Zum Aufruf: http://einheit-und-freiheit.de/texts/view/20
Jugendzeitung:  http://strassenauszucker.blogsport.de/
Busse aus Rhein-Main:  http://www.autonome-antifa.com/cms/?page_id=5
Busse aus NRW:  http://september.web-republic.de/aak/
Banner:  http://i260.photobucket.com/albums/ii22/top-berlin/banner-1.gif

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Vorabendveranstaltung:
Podiumsdiskussion zur Kritik der falschen Freiheit mit Nadja Rakowitz und Thomas Ebermann: Freitag 22.05., 19.30 Uhr, Audimax der Humboldt-Universität (Berlin)
organisiert von TOP-B3RLIN

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Antinationale Party:
Freitag 22.05., 23.00 Uhr, Tante Käthe (Mauersegler), Bernauerstr. 63-64,
2 Floors und Aussenbereich
mit: Hawkinson, Paul Perry, Oscar Hilde, u.a.