Spanien erneut vor dem Menschenrechtsgerichtshof verurteilt

Amnestie und Freiheit

Trotz des vernichtenden Urteils der Straßburger Richter sollen illegal inhaftierte ETA-Gefangene nicht freigelassen werden

Erneut hat der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg am Dienstag Spanien verurteilt. In diesem Fall ging es nicht um einen Folterfall, sondern das Urteil ist ein harter Schlag für die spanische Gefängnispolitik. Besonders betrifft sie die Sonderbehandlung von Gefangenen der baskischen Untergrundorganisation ETA. Die Richter des EGMR haben eine Praxis in Spanien für illegal erklärt, mit der Freilassungen von ETA-Gefangenen nach der Verbüßung ihrer Haftstrafen oft verhindert wurden.

 

Die dafür angewandte Neuauslegung bestehender Gesetze hat der Menschenrechtsgerichtshof einstimmig gestoppt. Die Richter haben deshalb angeordnet, die Baskin Inés del Río "so schnell wie möglich" frei zu lassen und sie mit 31500 Euro zu entschädigen. Del Río hatte wie viele andere baskische Gefangene vor dem Gerichtshof geklagt und ihr Fall ist am schnellsten zu den Straßburger Richtern durchgedrungen. Eigentlich hätte man sie schon vor gut vier Jahren nach 21 Jahren im Knast entlassen müssen.

 

Die Doktrin wurde erstmals 2006 auf das ETA-Mitglied Henri Parot angewendet, weshalb sie seinen Namen trägt. Seither wurden in einigen Fällen die Haftstrafen neu berechnet. Strafverkürzungen, die durch Studium oder Arbeit erreicht wurden, wurden plötzlich auf die Gesamtstrafe angewandt zu der der Beschuldigte verurteilt wurde und nicht mehr auf die zulässige Höchststrafe in Spanien. Del Río war zum Beispiel wegen mehrfachen Mordes zu mehr als 3000 Jahren verurteilt worden. Nach Anwendung der Doktrin sollte sie nun die Höchststrafe von 30 Jahre bis 2017 absitzen, denn eigentlich hätte sie im Juni 2008 freikommen sollen.

 

Dass die postfaschistische Volkspartei (PP) von derlei Urteilen nicht viel hält, hat der spanische Justizminister sofort klargestellt. Die Regierung will das Urteil anfechten und derweil werde man die Baskin nicht entlassen, kündigte Jorge Fernández Díaz an und die Aussetzung des Urteils beantragen. Begründen will er den Antrag damit, dass die Baskin "ohne Zweifel fliehen wird".  Warum sie das angesichts dieses Urteils tun sollte, bleibt ein Geheimnis des Justizministers. Falls Spanien auch das Verfahren vor der Großen Kammer in Straßburg verliere, wolle man aber auch die Entschädigung nicht bezahlen, kündigte er an. Er nahm damit aber vorweg, dass auch er seinem Einspruch kaum Erfolgsaussichten beimisst. Ohnehin lässt das einstimmige Urteil kaum Spielraum für Interpretationen zu und letztlich bergen Verfahren vor der großen Kammer in Straßburg die Gefahr großer Öffentlichkeit, weil anders als in den übrigen Verfahren öffentlich verhandelt wird.

 

Die Straßburger Richter sehen gleich mehrere Artikel der Menschenrechtskonvention verletzt. "Rechtliche Veränderungen nach der Begehung der Tat können nicht rückwirkend zum Nachteil des Verurteilten angewendet werden", unterstreichen sie in ihrem Urteil einen demokratischen Grundsatz. Ausdrücklich wird angeführt, dass "politische Gründe" spanische Gerichte dazu gebracht haben, die Freilassung von Gefangenen, die wegen Terrorismus-Delikten inhaftiert sind, zu verzögern. Dass in Spanien die Gerichte in solchen Fällen eben nicht unabhängig sind, wurde damit eindeutig festgestellt. Somit ist das Urteil auch eine schwere Rüge an das spanische Verfassungsgericht, weil es nicht längst gegen eine offensichtlich illegale Praxis eingeschritten ist.

 

In mehr als 30 Fällen haben die höchsten Richter, anders als der Menschenrechtsgerichtshof, die Doktrin nicht in Frage gestellt, die schon bis zum höchsten Gericht durchgedrungen waren. Nur in drei Fällen wurde die Anwendung wegen Formfehlern durch das Verfassungsgericht abgelehnt. Und die Regierung hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie alles daran setzt, eine längere Strafverbüßung für ETA-Gefangene durchzusetzen. Bei der Doktrin sollte es deshalb auch nicht bleiben. So kündigte der sozialdemokratische Justizminister Juan Fernando López Aguilar 2007 sogar öffentlich an, man werde "neue Anklagen konstruieren", um Freilassungen "zu verhindern". In der Zwischenzeit wurde auch die Höchststrafe auf 40 Jahre erhöht, die aber, anders als die Doktrin Parot, nicht rückwirkend angewendet wurde. Dass diese Vorgänge ausgerechnet in die Zeit eines Friedensprozesses fielen, in der die "Sozialisten" (PSOE) 2006/2007 mit der ETA verhandelten, wirft ebenfalls ein Licht auf diese Bemühungen.

 

Beobachter in Spanien gehen davon aus, dass mit dem möglichen Einspruch gegen das Urteil vor allem verhindert werden soll, dass Spanien sofort etwa 60 baskische Gefangene freilassen muss, auf welche die Doktrin Parot bisher angewandt wurde. Interessant wird sein, wie sich angesichts der Urteils die britische Justiz verhalten wird. Denn in London wurde kürzlich der baskische Ex-Gefangene Antón Troitiño auf Basis eines spanischen Haftbefehls verhaftet. Er war im April 2011 freigelassen worden und sollte auf Basis der Doktrin Parot erneut inhaftiert werden. Er hatte sich durch Flucht der erneuten Inhaftierung entzogen.

 

Das Urteil fällt fast mit einer Erklärung der ETA zusammen vom Montag zusammen. Darin bekräftigt die Separatistenorganisation den eingeschlagenen Friedensweg. Vor neun Monaten hatte sie angekündigt, den bewaffneten Kampf nach einem halben Jahrhundert definitiv einzustellen.  Sie hat in dem Kommuniqué Spanien und Frankreich beschuldigt, eine Friedenslösung "zu behindern und zu paralysieren".  Die will die Anstrengungen verstärken, um mit beiden Staaten zu verhandeln, wozu die auf einer internationalen Friedenskonferenz im vergangenen Oktober aufgefordert wurden. Die ETA griff an, dass versucht werde, ihre Anstrengungen zu nutzen, um die Waffenarsenale zur Überprüfung durch eine internationale Überprüfungskommission  zusammenzuziehen, um bei Kontrollen zu Verhaftungen zu kommen. 

© Ralf Streck, den 11.07.2012

 

 

Interessant ist auch, dass inzwischen auch spanische Gerichte langsam umschwenken, schließlich wurde kürzlich das Verbot einer baskischen Linkspartei wieder aufgehoben.

 

Verfassungsgericht kippt Verbot baskischer Linkspartei


Gut 14 Monate nach dem Verbot der neuen baskischen Linkspartei "Sortu" (Aufbauen) hat das spanische Verfassungsgericht Ende Juni das Urteil aufgehoben. Darüber ist die rechte spanische Regierung empört. Justizminister Alberto Ruiz-Gallardón erklärte seine "Diskrepanz" zum Urteil. Innenminister Jorge Fernández Díaz schloss ein neues Verbotsverfahren nicht aus, wofür er zunächst die Begründung studieren wolle.


Mit dem Verbot habe der Oberste Gerichtshof in Madrid gegen das "Recht auf Vereinigung" und die "Freiheit zur Gründung von Parteien" verstoßen, urteilten die Verfassungsrichter. Die zuständige Sonderkammer an dem Gerichtshof hatte den Verbotsantrag der Regierung vor den Kommunal- und Regionalwahlen im März 2011 wie in allen Fällen zuvor schnell abgenickt. Wie zuvor wurde auch diesmal begründet, es handele sich um einen Nachfolger der 2003 verbotenen Partei Batasuna (Einheit), die angeblich im Dienst der Untergrundorganisation ETA stehe.


Batasuna war nach einer Änderung des Parteiengesetzes verboten worden. Die Partei distanzierte sich nicht ausdrücklich von der ETA, wie es dieses Gesetz verlangt. Doch Sortu verurteilte "Gewalt" zur Erreichung politischer Ziele verurteilt, "eingeschlossen die der Organisation ETA", wie das ehemalige Batasuna-Führungsmitglied Rufi Etxeberria bei der Vorstellung der Partei erklärte. Darauf folgte, dass der Druck der baskischen Linken die ETA nach einer Waffenruhe im vergangenen Oktober dazu gebracht hat, ihren Kampf endgültig einzustellen.

 

Diesen Prozess in der linken Unabhängigkeitsbewegung hatte eine Gruppe um den ehemaligen Batasuna-Sprecher Arnaldo Otegi angestoßen. Er wurde mit vier weiteren Führern der baskischen Linken dafür zu acht Jahren Haft verurteilt, weil sie damit im Auftrag der ETA die Aktivitäten von Batasuna fortgeführt hätten. Auch sie haben nun das Verfassungsgericht angerufen. Schließlich führte ihr Bestreben zur Gründung von Sortu und zum Ende der ETA.


Nicht nur im Baskenland wird Das Sortu-Urteil begrüßt. Auch Andrej Hunko, Bundestagsabgeordneter der Linken, hält es für einen bedeutenden Schritt und fordert von der Bundesregierung, den baskischen Friedensprozess zu fördern. Er hatte mit anderen Abgeordneten der Linken eine Anfrage an die Regierung formuliert. Die Antwort zeige, dass die "an einer friedlichen und demokratischen Lösung des Konfliktes" nicht wirklich interessiert sei. Statt sich für eine Verhandlungslösung einzusetzen, stütze sie die starre Haltung der spanischen Regierung, die eine bedingungslose Kapitulation der ETA fordere, sagte Hunko.


Das Mitglied des Unterausschusses für Konfliktprävention im Europarat hält diese Position für einen Widerspruch zu Erfahrungen aus Versöhnungsprozessen wie in Nordirland und Südafrika. "Es ist eine zentrale Lehre aus vergangenen bewaffneten Konflikten, dass man deren politischen Hintergrund nicht ausklammern darf." Damit würden Konflikte nur unnötig verlängert. Nach dem entscheidenden Schritt der ETA müssten nun Schritte zu einer friedlichen Lösung aus Spanien folgen, fordert er.

 

Dieses Urteil lag auch auf der Linie der Entscheidung des Nationalen Gerichtshofs am Montag. Das Madrider Sondergericht hatte elf Führungsmitglieder von zwei verbotenen baskischen Parteien freigesprochen. Die Mitglieder von Askatasuna (Freiheit) und D3M (Demokratie für 3 Millionen) - in Anspielung auf die gesamte baskische Bevölkerung - wurden beschuldigt, die ETA zu unterstützen. Kandidaturen zu betreiben, die ideologisch mit der linken baskischer Unabhängigkeitsbewegung übereinstimmen, bedeute nicht, Mitglieder der ETA zu sein, wie die Anklage behauptet hatte. Das ist neu am Sondergericht, das damit die Verbote dieser Parteien in Frage gestellt. Im Fall von Askatasuna war es absurd, schließlich bestand die Partei seit vielen Jahren und hatte sogar gegen Batasuna kandidiert. 

© Ralf Streck, den 21.06.2012