Zur aktuellen Situation in Syrien und der Umsetzung des Kofi Annan Plans

Zur aktuellen Situation in Syrien und der Umsetzung des Kofi Annan Plans lassen wir am liebsten die eigentlichen Protagonisten des Aufstandes zu Wort kommen. Die Lokalen Koordinierungskomitees (LCC) melden Angriffe auf Demonstrationen, Razzien, nach wie vor, und entgegen dem Friedensplan, Panzer in zahlreichen Wohnvierteln. Zwei Demonstranten wurden heute in Janodieh erschossen.

 

Trotzdem hat das Grauen und die Repression nicht den Umfang der vergangenen Tage, an denen täglich dutzende Menschen starben.

adopt a revoltion hat einen ticker auf seiner Webseite, der im wesentlichen auf die Meldungen der LCC zurück geht.

Die Meldungen seit Dienstag, frühmorgens (Weitere Aktualisierungen auf adopt a revolution) im Anschluss.

 

Der Kofi Annan Plan selber sieht folgendes vor:

1. Das syrische Regime verpflichtet sich zu einer Zusammenarbeit mit Annan, um auf die legitimen Anliegen des syrischen Volks einzugehen.

2. Die Regierung stimmt einem Ende der Kämpfe, einem sofortigen Stopp der Truppenbewegungen und des Einsatzes schwerer Waffen in bevölkerten Gebieten zu. Ebenso soll die Opposition dazu verpflichtet werden.

3. Täglich soll eine zweistündige „humanitäre Pause“ eingelegt werden, um Hilfsmittel in die betroffenen Gebiete zu bringen und Verletzte zu evakuieren.

4. „Willkürlich festgenommene Personen“ sollen schneller und in größerer Zahl freigelassen werden und eine Liste mit Orten soll veröffentlicht werden, an denen die Betroffenen festgehalten werden.

5. Journalisten sollen sich im ganzen Land frei bewegen können.

6. Die syrische Regierung soll die Vereinigungsfreiheit und das Demonstrationsrecht respektieren.

Ticker:

+++ Donnerstag 18:15 – Hauszerstörungen gehen weiter

Zwar wird der Waffenstillstand nicht vollständig eingehalten, aber dennoch ist es in Syrien derzeit verhältnismäßig ruhig. Trotzdem geht das Militär nach einer neuen Strategie weiter gegen AktivistInnen vor und zerstört deren Wohnhäuser. In Kafar Zeita durchsuchten sie zunächst die Häuser zweier Anwälte und zündeten diese anschließend an.

+++ Donnerstag 16:50 – StundentInnen demonstrieren

Auch wenn die StudentInnenkomitees sich erst vor einigen Wochen gegründet haben sind sie inzwischen Landesweit sehr aktiv. Allein heute gingen Studierende in Dair az-Zur, Damaskus, Raqqa, Aleppo, Zamalka (Vorort Damaskus) und Jdaidet Artouz (Vorort Damskus) auf die Straße. Eine friedliche Demonstration von Studierenden in Daryaa (Vorort Damaskus) wurde von Sicherheitskräften mit scharfer Munition beschossen.

+++ Donnerstag 15:25 – Meldungen von Verletzten und Toten mehren sich

Nicht nur die Anzahl der Demonstrationen wächst in Syrien weiter, sondern auch die Berichte über Tote und Verletzte. So haben etwa in Aleppo Sicherheitkräfte das Feuer auf eine Beerdigung eröffnet und in Homs wurde ein Wohnhaus mit Mörsergranaten beschossen.

+++ Donnerstag 15:00 – Die ersten Toten trotz Waffenruhe

Entgegen des Annan-Plans, werden viele Städte weiterhin vom Militär belagert. Trotzdem wird die Waffenruhe in vielen Orten aktuell weiter eingehalten. Dennoch meldet unser Partnernetzwerk der Lokalen Koordinierungskomitees (LCC) fünf Tote – zwei davon erschossen auf einer unbewaffneten Demonstration in Janodieh in der Idlib Region.

+++ Donnerstag 13:30 – Beschuss von Mittagsdemonstrationen

Trotz Scharfschützen und Panzern in den Städten haben an vielen Orten die Mittagsdemonstrationen begonnen u.a. in Deir Zur, Daraa, Saraque (Idlib Region), Vororten von Damaskus, Abu Kamal. In Bokmal und Aleppo wurde mit scharfer Munition geschossen um die DemonstrantInnen zu vertreiben. Berichte von Verletzen gib es noch nicht.

+++ Donnerstag 11:40 – Scharfschützen auf den Dächern

Scharfschützen des Militärs liegen in Homs und in Aleppo auf den Dächer. Die Menschen trauen sich nicht auf die Straße. An anderen Orten beginnen langsam die ersten Demonstrationen.

+++ Donnerstag 10:15 – Starke Militärpräsenz in syrischen Städten

Nach wie vor hat sich das Militär nicht aus den Städten zurück gezogen. In vielen Orten stehen Panzer und gepanzerte Fahrzeuge noch mitten in Wohngebieten – so z.B. in Kafr Souseh (Wohnviertel in Damaskus), Homs, Hama, Daraa und weiteren Vororten von Damaskus. Der Rückzug der Panzer aus den Städten hätte laut Annan’s Friedensplan bereits am Dienstag ab 5 Uhr (MESZ) erfolgen müssen.

+++ Donnerstag 08:00 – Ruhe in Damaskus und Hama – Einzelne Schüsse in Zabadany

Drei Stunden nach dem offiziellen Beginn der Waffenruhe ist es ruhig in der Hauptstadt Damaskus und vielen der Vorstädte. Auch in anderen Landesteilen scheint es aktuell ruhig zu sein. Allerdings sind in vielen Städten noch Panzer stationiert. Das lokale Komitee in Zabadany berichtet von Panzermanövern mit einzelnen Gewehrschüssen am Rande der Stadt.

+++ Donnerstag 05:00 – Die Waffenruhe beginnt offiziell

Den ersten Teil des Sechs-Punkte-Plans von Kofi Annan, den Abzug schwerer Artillerie aus den Städten, hat das Assad-Regime nicht eingehalten. Ab heute 5:00 Uhr soll nun eine Waffenruhe beginnen. Ob Assad diese einhalten wird, bezweifeln viele AktivistInnen.

+++ Donnerstag 04:30 – Über sechzig Tote am Mittwoch

Am Tag vor der Waffenruhe in Syrien gab es erneut über 60 Tote. Durch die Bombardements von Wohngebieten durch die syrische Armee starben alleine in Homs 38 Menschen, darunter 2 Kinder. Hunderte Menschen wurden bei Razzien wahllos festgenommen.

+++ Mittwoch 23:30 – Viele Nachtdemonstrationen

Auch am heutigen Mittwochabend kam es zu zahlreichen Nachtdemonstrationen, u.a. in: Midan (ein Viertel von Damaskus), Hawle (ein Vorort von Homs), Bokamal, Khirbet Ghazaleh, Bab Qibli (ein Viertel in Hama), Bebella (Vorort Damaskus), Daraa Mahatta, Jebaila (ein Viertel in Deir az-Zur), Maquailabieh (Vorort Damaskus), Kobani, Khattab, Aleppo, Damaskus und anderen Orten.

+++ Mittwoch 21:00 -Autobahn zwischen Damaskus und Amman blockiert

Das Komitee aus Quadam berichtet, dass die Autobahn zwischen Damaskus und Amman für längere Zeit mit brennenden Autoreifen blockiert wurde. Der Protest ist eine direkte Antwort auf den Beschuss von Wohnhäusern in Daraa durch das syrische Militär, bei dem heute dutzende Menschen ums Leben kamen.

+++ Mittwoch 19:15 – Vorort von Damaskus unter Beschuss

Laut Bericht des lokalen Komitees aus Kafir Al-Zeit, einem Vorort von Damaskus, wird der Ort nach wie vor vom Militär beschossen. Es gibt Tote. Der Beschuss hält an, weil sich die BewohnerInnen weigern, AktivistInnen an die Sicherheitskräfte auszuliefern. In der Stadt befinden sich derzeit keine Einheiten der Freien Syrischen Armee.

+++ Mittwoch 18:30 – Rückzug und Beschuss in der Region Hama

In der Region Hama agiert das Militär sehr unterschiedlich. Während Soldaten im Ort Kawkab die Checkpoints abbauen und die Panzer abziehen, finden gleichzeitig in anderen Teilen der Region in großem Maße Durchsuchungen statt, so z.B. im Stadtteil Faraya. Die Soldaten werden dabei von gepanzerten Fahrzeugen begleitet.

+++ Mittwoch 16:30 – Bereits mindestens 28 Tote heute

Auch am heutigen Mittwoch gab es zahlreiche Tote in Syrien – unser Partnernetzwerk Syrian Revolution General Commission (SRGC) hat 28 Fälle dokumentiert, die Lokalen Koordinationskomitees sogar bereits dreißig. Es ist zu befürchten das diese Zahl sich während der Abend- und Nachtdemonstrationen noch erhöht.

+++ Mittwoch 15:00 – “Fliegende Demonstrationen” in Damaskus

Auch heute Mittag gab es in vielen syrischen Städten Demonstrationen. In Damaskus, wo die Sicherheitslage ganz besonders angespannt ist, fanden zahlreiche sogenannte ”fliegende Demonstrationen” statt. Hier versammeln sich Menschen nur für eine kurze Zeit, ziehen gemeinsam eine Straße entlang, rufen Sprechchöre und gehen schnell wieder auseinander, bevor die Sicherheitskräfte eintreffen.

+++ Mittwoch 13:00 – Panzer gegen Dörfer in Idlib

In den Ortschaften Akko und Doweir Akrad in der Region Idlib zerstören laut Angaben der lokalen Komitees, Panzer der syrischen Armee Wohnhäuser. Auch Autos und Geschäfte wurden zerstört.

+++ Mittwoch 12:15 – Anwälte demonstrieren

Eine Gruppe von AnwältInnen demonstriert vor dem Gericht in Aleppo für Freiheit und Gerechtigkeit. Sie fordern die Amtsenthebung des Präsidenten Assad. Die gleiche Forderung wurde auch auf einer Demonstration in den Vororten und an der Universität in Aleppo am Morgen erhoben.

+++ Mittwoch 11:00 – Massenweise Hausdurchsuchungen und weitere Kämpfe

In der Nacht und in frühen den Morgenstunden kam es zu massiven Hausdurchsuchungen in den Vorstädten von Damaskus. In Zabadany gab es Gefechte zwischen Armee und desertierten Soldaten.

+++ Mittwoch 05:00 – 126 Tote am Dienstag in Syrien

Nach Angaben unseres Partnernetzwerkes Syrian Revolution General Commission (SRGC) starben am Dienstag 126 Menschen. Davon 91 in Homs und Umgebung und unter den Toten waren sechs Kinder.

+++ Dienstag 23:30 – Homs massiv unter Beschuss

Verschiedene Stadtteile von Homs lagen heute unter massivem Beschuss. Bei den Kämpfen zwischen Militär und der Freien Syrischen Armee setzte das Regime auch Panzer und Mörsergranaten gegen Wohnhäuser ein. Es kam zu massiven Zerstörungen in der Stadt.

+++ Dienstag 22:20 – Schüsse auf Demonstration in Aleppo

Wie uns das lokale Komitee mitteilt, ist auf eine Demonstration, die im Stadtteil Salah Al-Dein gestartet ist, geschossen worden. Auch in Hama wird eine Beerdigung von Sicherheitskräften angegriffen.

+++ Dienstag 20:00 – Demonstrationen landesweit, Mahnwache vor dem Parlament

Quer durchs Land haben auch heute wieder Demonstrationen stattgefunden. In Anadan, Manbaj (Aleppo), Idlib, Hasaka, Daraa und den Vorstädten von Damaskus gingen wie fast täglich tausende Menschen auf die Strasse. Vor dem Parlament in Damaskus gab es eine kurze Mahnwache mit der Forderung das Töten zu beenden. Als die Sicherheitskräfte eintrafen, entfernten sich dem Demonstranten sofort.

+++ Dienstag 18:00 – Aleppo Universität, Demonstrationen und Festnahmen

Nach Demonstrationen an den Fakultäten für Literatur, Ingenieurswissenschaften und Wirtschaftswissenschaften an der Universität in Aleppo kam es zu brutalen Übergriffen und Festnahmen durch die Geheimdienste. Laut Angaben von dem dortigen StudentInnenkomitee stürmten Sicherheitskräfte die Studentenwohnheime, feuerten Tränengas in die Gebäude und durchsuchten diese. Nun gibt es eine hohe Präsenz von Sicherheitskräften am Eingang der Universität.

+++Dienstag 15:00 – Syrischer Außenminister fordert schriftliche Vereinbarung

Der syrische Außenminister hat bei einem Besuch in Moskau, als Vorbedingung für die Waffenruhe eine schriftliche Garantie der Opposition und der freien syrischen Armee gefordert.

+++ Dienstag 13:30 – Freie syrische Armee will Waffenruhe akzeptieren

Laut Angaben eines unserer Partner in Syrien, dem Netzwerk der Lokalen Koordinationskomitees hat die freie Syrische Armee heute morgen explizit erklärt sich an den Friedensplan zu halten.

+++Dienstag 11:00 – Aleppo

Der Ort Mare in der Region von Aleppo ist laut Angaben des Komitees dort unter starken Beschuss. Ein Helikopter des Militärs hat zudem ein Haus in dem Dorf Nahleya (bei Areeha/Idlib) beschossen.

+++Dienstag 09:00 – Gefechte und schwere Geschütz in Tafas

Die lokalen Komitees in Daraa melden kämpfe zwischen der freien Syrischen Armee und dem Militär in Tafas (Daraa). Das Militär setzt Panzer und Granaten in der Stadt ein und stürmt Häuser. Es kommt zu vielen Festnahmen

+++Dienstag 04:30 – Kurz bevor Plan in Kraft tritt 160 Tote +++

Kurz bevor der Kofi-Annan Friedensplan am Dienstag morgen in Kraft treten soll, hat es am Montag in Syrien 160 Tote gegeben. Besonders stark betroffen waren die Regionen Homs und Aleppo. Unter den Toten befanden sich auch 8 Soldaten der freien syrischen Armee.

Beitrag gepostet von recherchegruppe aufstand

http://uprising.blogsport.de/

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Siehe diesen Kommentar und die weiteren

https://linksunten.indymedia.org/de/comment/view/44592

 

Warum ignorieren die LCC z.B. Verbrechen der bewaffneten Aufständischen, die teilweise gut dokumentiert sind?

 

Was ist davon zu halten, dass Saudi-Arabien und Katar die Aufständischen offiziell mit deutlich über 100 Millionen Dollar finanzieren?

 

Was ist davon zu halten, dass die Freie Syrische Armee ihr Hauptquatier in der Türkei hat, die für ihren anhaltenden Umgang mit oppositionellen Kurden bekannt ist? Was ist davon zu halten, dass nun die Türkei den NATO-Bündnisfall ausrufen will, um Syrien anzugreifen?

 

Und ihr als angebliche Recherchegruppe verbreitet weiterhin einseitige Propaganda, die den Krieg gegen Syrien rechtfertigen soll. Im direkten Bündnis mit Saudi-Arabien und der NATO.

Nein, das sagt ihr so offen nicht und auch die LCC nicht. Aber ihr handelt so!

 

Dass Ihr hier bei Indy Beiträge schreibt, aber sämtliche kritische  Kommentare einfach ignoriert, spricht auch nicht für euch.

Weiterhin ignoriert ihr nicht nur Kritik, sondern verschweigt auch das Brechen der Waffenruhe durch die FSA und auch einen Anschlag in Aleppo. Das ist in höchsten Masse tendenziös und auch einer linken Recherche nicht würdig.

 

Über die Interventionspläne der von "Grauen Wölfen" und "Gülen - Sekte" geprägten türkischen AKP - Regierung betreff Syrien  schweigt ihr euch aus.

 

Warum bringt ihr trotz massiver Kritik weiterhin die absolut unwürdige und verlogene Hetze des von Springer anschubfinanzierten marktliberalen "Standard" betreff Kurd*innen in der Türkei und Syrien?

 

Warum landern wir bei unserer Recherche zu den Macher*innen von "Adopt a revolution" immer auf Seiten der SPD und dem "Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit"?

 

Zum Anschlag in Aleppo:

 

Waffenruhe in Syrien
Von Karin Leukefeld / Junge Welt, 13.04.2012

Die erste Waffenruhe seit Beginn der gewaltsamen Niederschlagung des Aufstandes hat am Donnerstag in Syrien weitgehend gehalten. Mit einem Anschlag auf einen Posten des syrischen Militärs in Aleppo am Morgen sollte offenbar der von Syrien-Vermittler Kofi Annan ausgehandelte Waffenstillstand unterlaufen werden. Nach Angaben des staatlichen syrischen Fernsehens wurden ein Offizier getötet und 24 Soldaten verletzt. Der Sprengsatz sei am Straßenrand deponiert gewesen, meldete die die staatliche Nachrichtenagentur SANA. Hinter der Tat steckten Terroristen meldete das Staatsfernsehen. Ob es Reaktionen auf den Anschlag in Aleppo gab, war bei Redaktionsschluß nicht bekannt.

In New York äußerte sich Annan erfreut darüber, daß der Waffenstillstand zu halten scheine. Er forderte Regierung und Rebellen auf, seinen Friedensplan vollständig umzusetzen. Auch in den Grenzgebieten zu Jordanien, Libanon, Türkei und Irak blieb es ruhig. Das syrische Verteidigungsministerium hatte am Mittwoch bekräftigt, daß das Militär wie vereinbart am Donnerstag um fünf Uhr seine Kampfhandlungen einstellen werde. Allerdings behalte man sich das Recht vor, im Falle eines Angriffs bewaffneter Gruppen »gegen die Zivilbevölkerung, Sicherheitskräfte, Soldaten und privates und öffentlich Eigentum« zu reagieren.

In Peking begrüßte das chinesische Außenministerium die syrische Entscheidung zu einem Waffenstillstand. Außenamtssprecher Liu Weimin forderte auch die Opposition auf, sich daran zu halten. Der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte, Syrien habe ausreichend auf den »sehr realistischen« Plan von Kofi Annan reagiert. Gleichzeitig kritisierte er Stellungnahmen von westlichen und arabischen Staaten, »die den Annan-Plan schon als gescheitert bezeichneten, als dieser noch gar nicht bekannt war«. Alle Seiten müßten sich nun an den Waffenstillstand halten. Erneut rief Lawrow alle Gruppen der syrischen Opposition auf, sich an einem nationalen Dialog zu beteiligen. Ihm sei aber klar, daß einige Oppositionsgruppen von ihren Unterstützerstaaten gedrängt würden, keinen Dialog zu führen.

Rami Abdulrahman von der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (London) bestätigte am Donnerstag morgen gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, daß »im ganzen Land Ruhe herrscht«. Ein Mann mit dem Decknamen Abu Rami sagte Reuters, es werde zwar nicht geschossen, aber überall seien Panzer, Scharfschützen und Militärkontrollen.

Die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Susan Rice, bezeichnete das Versprechen der Regierung, die Gewalt einzustellen, als »wenig bis nicht glaubwürdig«. Bundeskanzlerin Angela Merkel und US-Präsident Barack Obama ließen nach einem Telefonat mitteilen, Präsident Baschar Assad gehe weiter gegen sein eigenes Volk vor und der UN-Sicherheitsrat müsse härtere Maßnahmen ergreifen. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europäischen Parlament, Elmar Brok, forderte mehr Engagement der Türkei. Eine »Bedrohung für Assad muß natürlich auch von türkischem Boden ausgehen«, sagte Brok. Eine enge Kooperation zwischen der Türkei und den Weltmächten sei wichtig. Zuvor hatte der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan nach einer Schießerei im Grenzgebiet die NATO an ihre Verantwortung »zum Schutz der türkischen Grenze« erinnert. Der »Bündnisfall« sichert jedem Mitgliedsland bei einem Angriff die Unterstützung der NATO-Partner zu.

Weil mir hier schon wieder viel zu viel mit Eigeninteresse Stellvertreter - Politik über die Köpfer der SyrerInnen hinweg gemacht wird, sollten vielleicht mal ein paar junge SyrerInnen zu Wort kommen. Ich weiss der Text ist lange, gibt aber vielleicht mal ein paar unterschiedliche Diskussionsstränge und -ansätze im Land preis. Aufgezeichnet hat es Karin Leukefeld in Damaskus.

 

Genauso, wie es berechtigt ist Basiskomitees zu Wort kommen zu lassen, ist es auch, sich diesen Text mal reinzutun:

 

»Weil das Land in Gefahr ist«


Reportage. Über die Ursachen des Konflikts in Syrien, die Interessen ausländischer Mächte und die Schwierigkeit, eine politische Lösung zu finden – Ein Gespräch in Damaskus


Es ist ein ruhiger Freitag nachmittag irgendwo in Damaskus. Einige Freunde treffen sich, um über die Lage in Syrien zu diskutieren. Nach und nach füllt sich das kleine Zimmer, bald sind Stühle, Sofa und Bett besetzt. Das Rauchen wird bis auf weiteres eingestellt, Kaffeetassen stehen auf dem niedrigen Tisch in der Mitte. Das Aufnahmegerät ist eingeschaltet, Fotos sind nicht erwünscht. Dann stellen die »Freunde Syriens« sich vor: Jihad, Student der Medien- und Informationstechnologie; Safwan, Soziologe, Historiker und Sozialberater; Julia, Umweltingenieurin; Somer, Mitarbeiter in einer Versicherung und Schauspieler; Selim, Architekt. Auch wenn sie in verschiedenen Teilen des Landes geboren wurden, leben heute alle in Damaskus. Sie sind zwischen 22 und 28 Jahre alt.

Die Diskussion dreht sich um die Ereignisse in Syrien, die Protestbewegung, ausländischen Einfluß und Interessen. Es geht um die neue Verfassung, die per Referendum Ende Februar angenommen wurde und auf deren Grundlage für Anfang Mai Parlamentswahlen vorgesehen sind. Neun neue Parteien haben sich gegründet, rund 15 Millionen Syrer werden zu den Wahlurnen gerufen. Gleichzeitig gehen die Kämpfe im Land weiter. Ein für den 12. April vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angeordneter Waffenstillstand scheint zu scheitern. Die syrische Führung und die bewaffneten Aufständischen machen einander gegenseitig verantwortlich. Größtes Hindernis ist, daß letztere, unterstützt von den Golfstaaten, den USA, der EU und der Türkei, zu Verhandlungen mit der syrischen Regierung nicht bereit sind, wie der von Kofi Annan vermittelte Plan es vorsieht. Nur bei einer Garantie der Aufständischen, die Gewalt einzustellen, will das Militär sich zurückziehen. Darunter leidet wie immer die Bevölkerung. Tausende haben das Land verlassen, Hunderttausende sind innerhalb Syriens vertrieben. Kämpfe und internationale Sanktionen haben die Wirtschaftslage in dem ohnehin armen Entwicklungsland verschärft. Die friedliche Protestbewegung und die innersyrische Opposition sind in den Hintergrund gedrängt.
Unter enormem Druck
Ja, es herrsche Krieg im Land, sagt Jihad, aber es gebe auch einen Medienkrieg. Jede Konfliktpartei beeinflusse die Medien in ihrem Interesse. Der Westen und besonders die USA hätten großes Interesse an der Region, ergänzt Somer. Nach ihrem Scheitern in Afghanistan und Irak wollten sie nun mehr Einfluß in Syrien gewinnen, um die anderen Niederlagen auszugleichen. Vieles sei falsch gemacht worden in Syrien, doch die USA hätten davon profitiert. Er bezweifle, daß die Vereinigten Staaten wirklich den Syrern zu mehr Menschen- und Bürgerrechten verhelfen wollten: »Washington geht es nur um die eigenen Interessen«.

Jeder verfolge seine eigenen Interessen, wirft Safwan ein. Und jeder habe seinen eigenen Blickwinkel, von dem er diese bestimme, auch die Opposition. Die Medien konzentrierten sich lediglich auf die »Brennpunkte« und die Orte, wo gekämpft werde, sie berichteten aber nicht über Lösungsvorschläge. Syrien liege an einem wichtigen geopolitischen Punkt, und damit meine er nicht das Land, das seit dem Sykes-Picot-Abkommen (16. Mai 1916, Frankreich und Großbritan­nien teilen die osmanischen Provinzen Syrien und Irak/Mesopotamien unter sich auf) bestehe. Er spreche von der historischen Nation Syrien. Diese sei ökonomisch, wirtschaftlich und kulturell eine Drehscheibe mit seiner Lage zwischen dem Mittelmeer und Asien, zwischen Nord und Süd. Doch Syrien sei nicht nur wirtschaftlich für viele interessant, es sei zudem das »Zentrum eines moderaten Islam«, der Ort, wo Extreme miteinander rängen. Die russischen Interessen in Syrien wiederum brauchten eine Führung wie das »Assad-System«. Rußland wolle verhindern, daß vom Golf Ölpipelines direkt nach Europa durch Syrien gebaut werden. In der Region werde also ein Interessenskonflikt der Supermächte ausgetragen. Israel spiele dabei ein doppeltes Spiel, ergänzt Jihad, der Safwan zustimmt. Einerseits unterstütze Israel Assad, andererseits koordiniere es die Aktivitäten der Opposition.

Julia wendet ein, daß sich das Ganze doch sehr nach einer Verschwörung anhöre. Für die Proteste in Syrien gebe es ganz klare Gründe. Doch, ein Teil des Konflikts sei tatsächlich eine Verschwörung gegen die syrische Führung, meint Safwan. Natürlich habe das syrische Volk ganz klare Interessen. Tel Aviv habe immer einen Weg gesucht, Syrien zu übernehmen, fährt Jihad fort. Über Teile der Opposition und über die Medien habe Israel nun einen Weg gefunden und verfolge natürlich seine Ziele.

Julia ist nicht zufrieden mit der Einschätzung und kritisiert, daß Israel immer angeführt werde, wenn es um innersyrische Schwierigkeiten gehe. Ihrer Ansicht nach seien die Syrer einem großen ökonomischen Druck ausgesetzt gewesen, »ihr Lebensstandard war sehr niedrig«, fährt sie fort. Darum hätten die Proteste begonnen. Selim stimmt nachdenklich zu. Die Syrer hätten die letzten zehn Jahre unter enormem Druck gestanden. In der Tat gebe es seit Jahren eine ausländische Verschwörung gegen Syrien, doch »kann das auf keinen Fall legitimieren, was hier bei uns geschieht«. Julia nickt heftig und meint, als alles in Deraa anfing, habe das mit einer Verschwörung nichts zu tun gehabt. Alle stimmen zu, das sei unstrittig. »Natürlich haben wir hier in der Geschichte immer wieder Verschwörungen gehabt«, sagt Selim in seiner ruhigen Art. »Aber was hier bei uns geschieht, egal ob wir es Protest oder Revolution oder wie auch immer nennen, es begann aus guten und richtigen Gründen«. Andere Leute hätten das ausgenutzt und den Protesten ihre eigenen Interessen übergestülpt und sie damit schließlich verdrängt.

Leider sei das Volk durch die Ereignisse nun völlig gespalten, ebenso wie die Medien, fährt Selim fort. Als Beispiel nennt er den syrischen Fernsehsender Dunia TV und Al Dschasira, die jeweils das Gegenteil verbreiteten. »Keiner ist ganz ehrlich, oder besser gesagt, keiner berichtet wirklich neutral.«

Die Leute, die für Dunia TV oder für Al Dschasira arbeiten, vertreten die Interessen der jeweiligen Sender, fügt Somer hinzu. Genauso sei es mit dem Internet und Facebook. Alles, was dort verbreitet werde, gebe immer nur die Sicht einer Seite, vielleicht auch nur einer Person wieder, es seien keine neutralen Informationen. Dunia TV habe sich zwei Monate lang fast ausschließlich darauf konzentriert, jeden Bericht, der von Al Dschasira verbreitet worden ist, zu widerlegen. Wenn Al Dschasira zum Beispiel eine bestimmte Zahl von Toten in Homs meldete, brachte Dunia TV sofort »neueste Nachrichten« und wies die Behauptungen zurück. Das habe vor allem innenpolitische Gründe gehabt, sagt Jihad. Sehr viele Menschen sähen Al Dschasira und glaubten alles, was dort gezeigt wird.
Verfassungsbruch Marktöffnung
Julia wechselt das Thema und spricht über die Gründe, die ihrer Ansicht nach zu der »Revolution« geführt hätten, mit der sie offenkundig sympathisiert. Es seien vor allem innenpolitische Ursachen gewesen, die das Faß zum Überlaufen gebracht hätten. Die Beziehungen zwischen Syrien und der Türkei zum Beispiel, mit all den privilegierten politischen und wirtschaftlichen Abkommen. Einige der Vorstädte von Damaskus, wo es heute besonders scharfe Auseinandersetzungen gebe wie Sakba und Hamuriya, seien bekannt gewesen für ihre Möbelproduktion. Mit den neuen ökonomischen Beziehungen zur Türkei aber seien die syrischen Erzeugnisse durch türkische Möbelfirmen vom Markt verdrängt worden. Fabriken mußten schließen, Leute verloren ihre Arbeit. Das gleiche sei in der Textil- und in der Lebensmittelindustrie passiert. Außerdem habe Ankara die Unternehmen gefördert, die in Syrien produzierten, fügt Julia hinzu. Es habe eine staatlich subventionierte türkische Markteroberung in Syrien stattgefunden.

»Dank Abdullah Dardari«, meinen einige und nicken einander zu. Der frühere Wirtschaftsminister im Rang eines stellvertretenden Ministerpräsidenten genießt offensichtlich keine große Sympathie in dem Freundeskreis. »Dardari – das ›trojanische Pferd‹«, sagt Jihad. Leider werde der gleiche Fehler, den dieser damals mit der Marktöffnung begangen habe, in der neuen Verfassung wiederholt. Darin werde nicht festgelegt, welche Wirtschaftsform Syrien in Zukunft haben solle. In der alten Verfassung sei die Wirtschaftsform als »sozialistische Planwirtschaft« festgelegt gewesen, meint Selim. Dennoch seien Wirtschaft und Handel seit 2005 liberalisiert worden, »das nennt man doch Verfassungsbruch«.

Der Historiker Safwan möchte die Debatte um die syrische Wirtschaft vertiefen, die er für das Grundproblem hält. Dardari stamme aus Damaskus und gelte als moderater Muslim. Als Wirtschaftsexperte bei den Vereinten Nationen habe er auch gute Beziehungen zur Türkei gehabt. Er sei im Jahr 2000 nach Damaskus zurückgekehrt, ein Vertrauter des Präsidenten habe ihn eingeführt. Dardari habe Themen wie Zivilgesellschaft, Menschenrechte und Frauenrechte in die politische Debatte eingeführt, was umgehend zu einem Konflikt mit den Sicherheitskräften geführt habe. Die neuen Themen wurden während des Damaszener Frühlings (2000/2001) diskutiert, was von den Geheimdiensten schließlich unterbunden wurde. Dardari habe auch die Idee der »Sozialen Marktwirtschaft« eingebracht, ähnlich wie Gorbatschow sie 1985 für Rußland formulierte. Die »soziale Marktwirtschaft« sei erstmals in (West-)Deutschland nach dem Ende des zweiten Weltkrieges eingeführt worden, erinnert Safwan. Deutschland sei ein kapitalistischer Staat, und das Modell habe innerhalb von nur drei Jahren zu einer wirtschaftlichen Wiederauferstehung geführt. Doch »Syrien ist ein sozialistischer Staat, und wenn man die soziale Marktwirtschaft in einem sozialistischen Land einführen will, führt das zu innenpolitischen Problemen«, argumentiert Safwan. Die nationale Führung der Baath-Partei habe das Wirtschaftsprojekt von Dardari übernommen, »weil sie ihm nichts entgegensetzen konnte. Die Folge war, daß die Kluft zwischen reich und arm größer wurde«. Als die Unruhen in Syrien begannen, sei Dardari mit der alten Regierung entlassen worden und habe sofort das Land verlassen, um seinen alten Posten bei den Vereinten Nationen wieder zu übernehmen. »Unter dem Strich fasse ich zusammen: Dieser Mann kam nach Syrien, zerstörte unsere Wirtschaft und verschwand dann wieder. Darum nennen wir ihn ›Das trojanische Pferd‹.«

Jihad wirft Dardari vor allem vor, daß er mit seinem Kurs den Staat dazu drängte, seine sozialen Verpflichtungen gegenüber dem Volk aufzukündigen. Der Staat, besser das »Assad-System« sei zu einem Unternehmen geworden, habe seine Profite vergrößert und seine Verluste verringert. »Alles zu Lasten der Menschen«, ereifert sich Jihad. »Wichtige Subventionen wurden gestrichen, alles wurde teurer. Und ein sogenannter ›Sozialer Wohlfahrtsfonds‹ blieb völlig wirkungslos, nicht zuletzt, weil er schlecht geführt wurde.«
»Eine Lüge«
Dardari könne nicht allein für die Entwicklung verantwortlich gemacht werden, wirft Selim ein. Viele Faktoren hätten zur Zerstörung der syrischen Wirtschaft geführt. Schließlich seien die entsprechenden Entscheidungen von hochrangigen Politikern getroffen worden, die damit die Interessen einer bestimmten Schicht bedient hätten. Julia und andere stimmen zu. Einige Namen der früheren Regierung schwirren durch den Raum; verschiedene Gouverneure, auch der frühere Ministerpräsident trügen Verantwortung.

Fadil von nebenan steckt den Kopf durch die Tür und fragt vorsichtig, wer hungrig auf ein spätes traditionelles syrisches Frühstück sei, das wolle er jetzt besorgen. »Bohnen, Humus, frisches Brot, Oliven, Käse, Eier, Joghurt, Tomaten, Gurken und Süßigkeiten«, zählt er unter Gelächter wie ein Restaurantbesitzer auf, alle Arme fliegen in die Höhe. Schnell zählt er durch und verschwindet wieder. Die Diskussion geht weiter.

Jihad erinnert noch einmal daran, daß Syrien in den letzten 40 Jahren ein sozialistisches System gewesen sei. Viele Leute hätten finanziell und politisch davon profitiert, doch die Gesetzeslage habe verhindert, daß sie ihr Geld im Land investieren. Mit dem neuen Wirtschaftssystem konnten sie genau das auf einmal tun. »Das Geld, das sie dem Land gestohlen haben, wollten sie investieren«, fragt Ahmed ungläubig, der neu dazu gekommen ist. Ja, meint Jihad. Das habe diese Machtelite getan und die Wirtschaft damit noch mehr unter ihre Kontrolle gebracht.

Er sei kein Wirtschaftsexperte, wirft Somer vorsichtig ein. Er wolle aber »als Syrer« dennoch seine Meinung sagen. Richtig sei, daß die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander gegangen sei, dennoch habe sich auch eine Mittelschicht entwickelt. Der soziale Wohlfahrtsfonds, der eingeführt worden sei, um den Subventionsabbau abzufedern, sei so »entwürdigend« für die Menschen gewesen, die ihn beanspruchen mußten, daß Ali Ferzat, der bekannte syrische Karikaturist, ihn verspottet habe. Er sei gerade 22, sagt Somer und kenne zwar die Redewendung »Ein Mensch ist, was er aus eigener Kraft geschaffen hat«. Doch gebe es solche Menschen heute nicht mehr. Grundstückspreise seien aus politischen und wirtschaftlichen Gründen in den Himmel geschossen. In Aleppo, der wirtschaftlichen Hauptstadt Syriens, hätten die meisten Textilunternehmen schließen müssen. Und warum? Darüber habe kürzlich der UN-Botschafter Syriens, Baschar Al-Ja’afari, vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gesprochen. Syrien habe einige Wirtschaftszweige in der Umgebung von Damaskus und in Aleppo geopfert, um die Beziehungen zur Türkei zu verbessern, das habe Ja’afari gesagt. »Es sieht also so aus, daß wir Kapitalisten und Großunternehmer in unserem sozialistischen System geduldet haben, und diese Leute tragen die Verantwortung für die Armut in Syrien.« Alle hätten es gesehen, doch die Leute hätten nicht die Freiheit gehabt, ihre Kritik zu äußern. Die ökonomische Schieflage sei Ursache für den Protest, ist Somer überzeugt. Er wisse nicht mehr, wer es gesagt habe, aber der syrische Sozialismus sei »eine Lüge« gewesen.

Julia bemängelt erneut, man solle sich mehr darauf konzentrieren, wie die Sicherheitsdienste das Land unter ihre Kontrolle gebracht hätten. »Die Korruption, Schmiergeldzahlungen und die Rechtsprechung sind der eigentliche Kern unseres Problems.« Irgendwie seien die Ereignisse auch Folge einer Art Infektion gewesen. »Alle haben im Fernsehen gesehen, was in Tunesien geschah und in Ägypten, und so dachten auch hier die Menschen, sie müßten etwas tun.«
Konsumenten und Schuldner
Später dreht sich die Diskussion um das Verhältnis zwischen Europa und Syrien. Europäische Länder hatten seit 2005 viel Geld und Personal in die Zusammenarbeit mit Damaskus gesteckt. Deutsche Experten waren aktiv im Finanzsektor, im Umweltbereich, bei der Stadtentwicklung und im Wassersektor. Waren diese Projekte sinnvoll oder unterstützten sie nur eine bestimmte Machtelite im Land?

Safwan, der Soziologe und Historiker, meint, Syrien hätte eine stärkere Wirtschaft gebraucht, bevor es sich dem Einfluß von Globalisierung und ausländischen Investitionen öffnete. Die europäischen Projekte hätten vor allem den Dienstleistungssektor und die Institutionalisierung gefördert, also den staatlichen Sektor, sagt Selim. Für die Bevölkerung sei nicht viel Gutes dabei herausgekommen. Es habe sich nicht um Entwicklungsprojekte gehandelt, die die Europäer gebracht hätten, kritisiert Julia. Natürlich seien einige Arbeitsplätze entstanden, zum Beispiel im Tourismussektor, aber diese seien nicht von Dauer gewesen. Jihad weist darauf hin, daß durch die Öffnung des Landes und die wirtschaftlichen Veränderungen in den letzten Jahren sich auch Mentalität und Denken der Bevölkerung verändert hätten. Früher hätten die Syrer das Geld, das sie nicht zum Leben brauchten, gespart. Nun seien sie zu Konsumenten geworden. Mit der Einführung privater Banken, die Kredite vergeben, hätten sich viele Leute für den Kauf eines Hauses, einer Wohnung, eines Autos oder anderer Dinge auf viele Jahre verschuldet. »Was geschieht mit ihnen, wenn sie nun ihre Arbeit verlieren und ihre Schulden nicht mehr abzahlen können?«

Um eine Lösung für die Krise zu finden, müsse man verstehen, was in Syrien geschieht, meint Safwan auf die Frage, wie eine Lösung gefunden werden könne. Jede Region im Land habe ihre eigene Besonderheit, dies spiegle sich auch in der Protestbewegung wider. In Deraa, wo alles begann, hätten die Leute einen bestimmten Grund gehabt, sich zu erheben. Das sei aber anders als das, was in Homs geschehe, in Lattakia oder in anderen Teilen des Landes. Nein, widerspricht Somer. Die Politik ist überall die gleiche und darum geht es, dagegen wird protestiert. Safwan meint, die Proteste seien dadurch vereint worden, daß der Staat überall die gleiche Reaktion gezeigt habe. Man habe von einer »ausländischen Verschwörung« gesprochen und überall die sogenannte Sicherheitslösung und Repres­sion angewandt, das habe die Leute miteinander verbunden. Deraa sei eine Gegend, wo Stämme, Sippen, Großfamilien lebten. Die Kurden im Norden protestierten aus anderen Gründen als die Leute von Deraa.
Politischer Dialog
Für sie alle habe sich das Leben in den letzten Monaten verändert, sagen die Freunde. Zwar hätten sie selber wie die meisten jungen Leute schon vor den Unruhen eine »Kultur des politischen Dialogs« gehabt, sagt Selim. Doch seit Beginn der Protestbewegung würden sich selbst diejenigen in politische Diskussionen einschalten, die sich früher herausgehalten hätten. Niemand könne sich dem heute mehr entziehen. Früher habe man sehr allgemein über die politischen Angelegenheiten des Landes reden können, meint Jihad. Doch alles, was den Präsidenten betraf, sei tabu gewesen oder habe nur unter sehr guten Freunden offen besprochen werden können. Für Julia ist wichtig, daß die Menschen die Mauer der Angst durchbrochen hätten. Sie habe es nie für möglich gehalten, eine Diskussion wie die heutige so offen führen zu können. Ja, fügt Jihad hinzu. »Seit einem Jahr reden die Menschen so offen wie nie, doch leider haben sich die Dinge nicht so entwickelt, wie ich gehofft hatte.« Die Kämpfe, die vielen Toten, die unnachgiebige Einmischung aus dem Ausland mache es den Syrern fast unmöglich, einen Dialog zu beginnen und eine politische Lösung zu finden.

Er habe sich früher nie getraut, über Politik zu diskutieren, gibt Somer zu. Wie alle Syrer habe auch er in »einer Kultur der Angst« gelebt. 2009 habe er sich aber einer Partei angeschlossen, und alle Leute in seinem Umfeld seien sehr überrascht darüber gewesen. Selim meint, er habe lange vor den Unruhen schon einer Partei beitreten wollen, habe aber erst jetzt eine gefunden, die seiner Meinung entspreche.

 Er sei früher immer gegen die Armee gewesen, sagt Fadil, der endlich mit den Zutaten zu dem traditionellen syrischen Frühstück zurückgekommen ist und sie im Hof auf einem großen Tisch ausgebreitet hat. Offiziere seien korrupt gewesen, der Umgang mit den Soldaten nicht in Ordnung. Doch seit die Unruhen begonnen hätten, unterstütze er »voll und ganz die Armee«, und wenn er aufgefordert würde, sich einzureihen, würde er es sofort tun, »weil das Land in Gefahr ist«. Doch wenn die Gefahr für das Land beseitigt und die bewaffneten Gruppen vertrieben seien, würde er sich sofort wieder den Oppositionellen anschließen, um die vielen Probleme in Syrien Schritt für Schritt zu lösen. (Junge Welt)

Hier noch ein Leserbrief zum Deutschlandbesuch von Mais Elkrydee, Repräsentantin des Koordinierungskomitess für den demokratischen Wandel in Syrien. Die Kritik an "kriegstreibenden und Sanktionsgruppen" wird lauter. Deshalb sollten solche Stimmen aus Syrien jetzt langsam mal zur Geltung kommen. Hörte man den Menschen vom Tahrir - Platz noch zu, reden jetzt wieder mehr deutsche Partei- und Vereinsmeier und NGOs, die wohl mehr WGOs (Western Government Organisation) sind. Medico sollte man bei aller Kritik, da aber noch rausnehmen. Die Lektion vom Tahrir scheinen einige in schlechtester Manier für sich "gelernt" zu haben.Für Waffenembargo

Liebe Freunde der jungen Welt, vielen Dank für die Berichterstattung über meinen Deutschland-Besuch. Als Gegnerin des syrischen Regimes und Repräsentantin des Koordinierungskomitees für den demokratischen Wandel in Syrien weiß ich die Bemühungen der Linken und Ihrer Zeitung zu schätzen, der authentischen Demokratiebewegung in Syrien in Ihrem Land eine Stimme zu verleihen.

Ungeachtet dessen glaube ich, daß meine Position zu einem wichtigen Punkt falsch dargestellt wurde. Anders als in dem Artikel behauptet, unterstütze ich nicht die Verhängung wirtschaftlicher Sanktionen gegen Syrien. Folgende Sachverhalt wollte ich in meinen Reden in Frankfurt und Berlin hervorheben: Die Streitkräfte haben im Zuge der Bekämpfung von Stadtteilen in Städten wie Homs, Idlib oder Dera’a, die das Regime als Rebellenhochburgen bezeichnet, die Wasser- und Stromversorgung vollständig unterbrochen. In manchen Fällen haben sie selbst die Versorgung der Zivilbevölkerung mit Milch verhindert, um Familien mit kleinen Kindern auszuhungern und sie so zur Aufgabe zu bewegen. Aus der Verzweiflung heraus ist es einigen Familien egal, ob gegen Syrien wirtschaftliche Sanktionen verhängt werden. Oder sie unterstützen diese sogar, da sie selbst bereits unter Sanktionen leiden – verhängt vom Regime. Ich betrachte diese Reaktion als verständlich. Das heißt aber nicht, daß ich diese Haltung unterstütze.

Ich bin gegen weitere Wirtschaftssanktionen, da sie ausschließlich die Bevölkerung treffen werden. So weit es mich angeht, so betrachte ich nur solche Sanktionen für sinnvoll, die das Regime treffen. Dazu zählt das Einfrieren der Guthaben des Assad-Clans auf Bankkonten im Westen oder Rußland. Überdies unterstütze ich ein umfassendes Waffenembargo.

Mais Elkrydee, 12.04.2012

"Die gefährdete Revolution"Antworten auf häufigste Fragen unserer UnterstützerInnen

Seitdem medico sich in Syrien engagiert, schreiben uns zahlreiche UnterstützerInnen. Viele sprechen uns Mut und Solidarität zu, andere aber warnten uns vor einer “naiven” oder unbeabsichtigten Parteinahme für einen möglichen “zweiten Irak” oder ein drohendes “erneutes Libyen”, sprich: für eine militärische Intervention und eine Eskalation im innersyrischen Bürgerkrieg. Wir haben bislang auf alle Zuschriften versucht individuell zu antworten, glauben aber, dass die Frage des syrischen Konfliktes spätestens seit der möglichen Umsetzung des Annan-Plans eine breitere öffentliche Debatte verlangt.

I. Warum unterstützt medico die syrische Demokratiebewegung?

medico arbeitet seit Jahrzehnten im Nahen Osten und steht seit langem Partnern in Palästina, in Israel, in Ägypten, in Kurdistan (Irak) und im Libanon zur Seite. Wir leisten in unserer Projektpraxis Solidarität und Hilfe für Kriegsopfer, Flüchtlinge und Ausgeschlossene und setzen uns zugleich mit den Verhältnissen auseinander, die Krieg, Ausgrenzung und Vorenthaltung demokratischer Rechte hervorbringen.

Syrien spielt nicht nur im israelisch-palästinensischen Konflikt, sondern in den politischen Auseinandersetzungen des Nahen Ostens eine zentrale Rolle – entsprechend wird sich in Syrien die Zukunft dieser Region mitentscheiden. Auch in der syrischen Diktatur gelten die gleichen falschen Wahrheiten, wie sie in allen anderen arabischen Staaten so lange exekutiert wurden: Besser Autokratie und Gewalt als Demokratie; lieber Sicherheit und Kontrolle statt Freiheit; und besser formal weltlich-säkular als konfessionell – auch wenn das Land selbst von einer religiösen alewitischen Minderheit kontrolliert wird. Seit mehr als vierzig Jahren waltet in Syrien eine Einparteienherrschaft, die zwar verhältnismäßig weniger blutig agierte als das überkommene Baath-Regime im Irak, die aber die Gesellschaft erschöpfte und durch mafiotische Machtstrukturen systematisch ausbeutet sowie mit einer Kultur der Angst und des gegenseitigen Misstrauens durchsetzte. Wie der libanesische Journalist Samir Kassir einmal anmerkte, lebte die syrische Gesellschaft jahrzehntelang in einem permanenten Ausnahmezustand, dessen repressiver Charakter in der arabischen Welt nahezu beispiellos dasteht und der die Korruption der ehemaligen Sowjetrepubliken mit einer polizeilich überwachten Abschottung nach chinesischem Muster verbunden hat. Syrien ist die einzige arabische Republik, in der im Jahr 2000 eine dynastische Machtübergabe vom verstorbenen Präsidenten Hafez al-Assad an seinen Sohn Bashar al-Assad vollzogen werden konnte. Dieser Generationswechsel als familiäre Machtübertragung scheiterte bekanntlich in Ägypten, im Jemen und Libyen durch den Ausbruch des “arabischen Frühlings”.

Präsident Bashar al-Assad deregulierte mit seinem Amtsantritt den alten Wohlfahrtstaat und führte neoliberale Wirtschaftsformen durch. Diese Strukturanpassungen hatten nicht nur zur Folge, dass der öffentliche Sektor und damit traditionelle Versorgungsstrukturen des syrischen Staates abgebaut wurden, sondern die neu entstandenen Privatwirtschaft wurde zunehmend von einer räuberischen Elite der New Economy kontrolliert. Seit den 1960er Jahren ist der Wohlstand in Syrien nie so ungleich verteilt gewesen: Heute konzentrieren sich 50 Prozent des Reichtums auf nur fünf Prozent der Bevölkerung; dazu sind 30 Prozent der Bevölkerung arbeitslos und ca. 20 Prozent lebten bereits vor dem Ausbruch des Aufstands unterhalb der Armutsgrenze. Hier haben die Proteste ihre soziale Wurzel und sind daher auch eine Bewegung der Armen gegen die Privilegierten.

Unter der Herrschaft der Assad-Familie gibt es keine Staatsbürger, sondern nur syrische Untertanen. In ihren Gefängnissen herrschen Willkür und Folter; die „Schuld” der Gefangenen besteht oftmals nicht etwa darin, einer fremden Macht gedient zu haben, sondern schlicht und einfach das Regime abzulehnen. Nach Angaben von verschiedenen Menschenrechtsgruppen sind seit dem März 2011 mindestens 10.000 Menschen in Syrien im Zuge von Auseinandersetzungen getötet worden – mehrheitlich Zivilisten und Aktivisten der Opposition, aber auch mindestens 2.000 Polizisten, Angehörige von Sicherheitsdiensten oder der Armee. Zigtausende in Syrien haben ihre Häuser und ihre Habe verloren, sind auf der Flucht vor bürgerkriegsähnlichen Kämpfen oder vor der beginnenden konfessionellen Gewalt.

Die Hauptlast der Brutalität geht eindeutig auf Kosten der paramilitärischen Geheimdienstverbände des Regimes, doch zuletzt wurde auch vermehrt von Menschenrechtsverletzungen seitens oppositioneller radikal-religiöser Milizen berichtet, die etwa in der Stadt Homs Femegerichte einrichteten oder gezielt Mitglieder der alawitischen Glaubensgemeinschaft massakrierten.

In Syrien könnte sich die nächste Zukunft der arabischen Freiheitsbewegung entscheiden. Auch deshalb ist medico mit seinen begrenzten Möglichkeiten der Hilfe und Solidarität in Syrien engagiert. Zwar ist die arabische Welt innerhalb des letzten Jahres unwiderruflich “in das 21. Jahrundert eingetreten und söhnt sich mit ihrer Geschichte aus” (Elias Khoury), dennoch stehen die Zeichen auf Restauration, und besonders die Feudalmonarchen der Golfstaaten versuchen, durch die syrische Opposition endlich das von ihnen als weltlich verteufelte Regime in Damaskus zu Fall zu bringen. Die Revolution ist gefährdet und der demokratische Aufbruch einer ganzen jungen Generation von Aktivisten, unter ihnen besonders viele Frauen, droht in einer längst begonnenen Militarisierung zu ersticken.

II. Wie hilft medico konkret?Ärztliche Nothilfe in Syrien:

medico ist seit Beginn des syrischen Aufstandes im Kontakt mit oppositionellen Basiskomitees, die die allwöchentlichen Demonstrationen organisieren. Es sind diejenigen in Syrien, die mit Mitteln des zivilen Widerstands gegen das Regime kämpfen und ihr Leben riskieren. Seit Ende des Jahres 2011 unterstützen wir mit freien Spenden Not-Kliniken der Basiskomitees, die unter immer schwierigeren Bedingungen alles tun, um Menschenleben zu retten. In den staatlichen Krankenhäusern werden Verletzte von Demonstrationen erwiesenermaßen gefoltert und verhört. Die von der Opposition notwendigerweise eingerichteten Not-Kliniken sind illegal und verboten und die dort arbeitenden Ärzte bringen sich mit ihrer Entscheidung in höchste Lebensgefahr, denn die medizinische Hilfe wird staatlicherseits so behandelt wie Terrorismus, Waffenhandel oder Desertion. Auf diese Form der ärztlichen Hilfe steht mindestens eine lange Inhaftierung und Folter, nicht selten die sofortige Todesstrafe in Form einer extralegalen Hinrichtung.

Flüchtlingsversorgung im Libanon:

Die Zahl der syrischen Flüchtlinge im Libanon hat besonders nach der Bombardierung ganzer Stadtteile in Homs dramatisch zugenommen. Im Norden haben sich in der Umgebung von Tripolis ca. 8.000 Flüchtlinge beim UNHCR registrieren lassen, in der südlicheren Bekaa-Ebene wird die Zahl der Flüchtlinge auf 5.000 geschätzt, wobei sich hier aus Furcht vor Repressalien nur eine geringe Zahl der Flüchtlinge registrieren lässt. Während im Nordlibanon sunnitische Hilfsorganisationen stärker in die Flüchtlingsversorgung eingebunden sind, ist die Situation in der Bekaa-Ebene problematischer, da hier die Flüchtlinge außer von direkten Bekannten oder Verwandten wenig öffentliche Unterstützung bekommen. Zudem leben in der Bekaa mehrheitlich schiitische Libanesen, die eher mit der Regierungsseite in Syrien sympathisieren. Zur Unterstützung der syrischen Flüchtlinge arbeiten wir mit der Amel Association zusammen, einem langjährigen medico-Projektpartner, mit dem wir seit der Zeit des libanesischen Bürgerkrieges kooperieren – zuletzt in der Hilfe für irakische Flüchtlinge im Libanon. Amel hat ein konsequent säkulares und überkonfessionelles Profil und hat sich von einer medizinischen Nothilfeorganisation zu einer langfristig mit strukturell benachteiligten Gemeinden und Gruppen arbeitenden Gemeindeentwicklungsorganisation entwickelt. In den Zentren von Amel werden unterschiedslos alle Bedürftigen behandelt und unterstützt. Durch die langjährige engagierte Arbeit wird ihre, weder konfessionell, noch ethnisch gebundene Haltung bei der Bevölkerung akzeptiert. Folglich wird auch die Unterstützung der Flüchtlinge nicht als politische Parteinahme im syrischen Konflikt verstanden, was einer möglichen Eskalation zwischen Flüchtlingen und lokalen Gemeinden entgegenwirkt.

Advocay in Deutschland:

medico geht es aber auch um die politische Solidarität und Unterstützung der zivilen und unbewaffneten Oppositionsbewegung in Syrien. Zu Beginn des Jahres 2012 bildete sich aus deutschen und syrischen Aktivisten die Solidaritätsinitiative „Adopt A Revolution – den Syrischen Frühling unterstützen!”, die mit einer Spenden- und Öffentlichkeitskampagne die lokalen Basiskomitees unterstützen, mit deren wöchentlichen Demonstrationen der syrische Aufstand im März 2011 begann. Die lokalen Koordinationsausschüsse organisieren nicht nur Treffen und Demonstrationen in Syrien, sondern tragen via Internet die aktuellsten Informationen zusammen. Die Komitees sind dabei heterogen besetzt - von jungen Internetaktivisten über Menschenrechtler bis hin zu Oppositionellen, die schon seit Jahren im Widerstand gegen das Assad-Regime stehen. Zusammen mit dem Grundrechtekomitee, der Bewegungsstiftung und dem Netzwerk Friedenskooperative berät medico die Solidaritätsinitiative.

III. Befürwortet medico eine “humanitäre Intervention” in Syrien?

medico lehnt eine militärische Intervention in Syrien ab. Es gibt die tragischen Beispiele der jüngsten Zeit: Genannt sei hier nicht nur Libyen mit über 50.000 Toten, sondern auch der US-amerikanisch geführte Krieg gegen den Irak und die nachfolgende Besatzung; erwähnt werden muss aber auch, besonders aus deutscher Sicht, der Krieg in Afghanistan. Das Scheitern in Afghanistan beweist, dass die Idee der „internationalen Schutzverantwortung” (responsibility to protect) mittels militärischer Intervention und Präsenz bislang nur ein Alibi für die Sicherung von westlicher Vormacht ist. Ohne demokratisch legitimierte internationale Institutionen, die über militärisches Handeln zum Schutz universeller Menschenrechte jenseits von hegemonialen Interessen entscheiden könnten, und ohne Aufwertung des UN-Wirtschafts- und Sozialrates (ECOSOC), der 1948 mit dem Ziel gegründet wurde, durch Förderung von sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung Konflikten vorzubeugen, mit anderen Worten: ohne andere globale Verhältnisse, spielt die Idee der „internationalen Schutzverantwortung” in die Hände derer, die für das Elend der Welt die hauptsächliche Verantwortung tragen.

In Syrien selbst droht jede militärische Intervention eine Katastrophe auszulösen. Für Syrer genügt es, über die Grenze in den Irak zu blicken, um zu wissen, welche immensen Gefahren und Opfer mit einer ausländischen Militärpräsenz im Land verbunden wären. In Syrien leben nicht nur 500.000 palästinensische Flüchtlinge, sondern seit der im Jahr 2003 von den USA geführten Irakinvasion auch geschätzte 1 Million Bürgerkriegsflüchtlinge. Im Gegensatz zu Libyen, das bereits vor dem Beginn der Aufstände politisch in der arabischen Welt isoliert war, ist Syrien aufgrund seiner geographischen Lage ein Schlüsselland im arabischen Raum, in dem sich türkische, iranische und saudi-arabische Interessen kreuzen und in dem bislang noch niemand nur ansatzweise vorhersagen kann, welche Folgen ein Sturz Assads für das Land und die politische Architektur der gesamten Nahostregion haben wird. Jeder ausländische Angriff in Syrien würde nicht nur die Zahl syrischer Opfer etxrem in die Höhe treiben, sondern eine offene externe Einmischung würde die Spannungen auf lokaler und letztlich auch konfessioneller Ebene zuspitzen. Die Alawiten machen etwa zehn Prozent der 22 Millionen Syrer aus, während sich 77 Prozent von ihnen zum sunnitischen Islam bekennen. Etwa zehn Prozent gehören christlichen Konfessionen an. Das Ergebnis wäre nicht das Ende einer Gewaltherrschaft und die demokratische Transformation Syriens, sondern die vermutliche Zerstörung des Landes und die regionale Ausweitung des Kriegs. Denn eine westliche Militärintervention würde nicht allein auf Syrien begrenzt bleiben: „Weil der Westen die Rebellen von Benghasi rettete und ihnen zur Macht verhalf, können Islamisten nun mit Gaddafis alten Waffen Maliern die Scharia aufzwingen. Das muss potenzieren, wer die Konsequenzen eines großen Syrienkriegs im Nahen Osten ermessen will”. (FAZ, 10.4.2012)

IV. Was heißt es, wenn auf Demonstrationen in Syrien internationale Hilfe gefordert wird?

In Syrien wurden nach mehr als einem Jahr des Aufstandes der Ruf nach den Waffen und von außen initiierten “humanitären Korridoren” und “Flugverbotszonen” immer lauter. Aus einem zunächst unbewaffneten Widerstand ist an einigen Orten bereits ein brutaler Häuserkrieg zwischen den desertierten Milizionären der Free Syrian Army und den militärischen Sondereinheiten des Regimes geworden. Es ist eine Sache, sich als Menschenrechts- und Hilfsorganisation aus den oben bereits genannten guten Gründen prinzipiell auf den Gewaltverzicht zu berufen und militärische Interventionspläne abzulehnen; ein anderes Problem ist allerdings die auch bei manchen europäischen Linken vorhandene Unterstellung, dass all jene innerhalb Syriens, die unter den gegenwärtigen Bedingungen eine internationale Unterstützung einfordern, nur Teil einer prowestlichen-reaktionären Verschwörung seien.

Es ist sicher richtig, dass einzelne Akteure der Opposition besonders im Ausland von Beginn an eine saudisch-westliche Militärintervention gegen das Assad-Regime favorisierten und einige der heutigen “demokratischen Opposition” auf der Gehaltsliste arabischer oder US-amerikanischer Geheimdienste stehen. In Syrien selbst allerdings waren es vor allem die Heckenschützen des Regimes, die mit ihrer Brutalität viele Demonstranten erst dazu trieben, aus purer Verzweiflung die internationalen Gemeinschaft um materiellen Schutz und zuletzt auch militärische Hilfe zu bitten.

Den Protestierenden in Syrien sollte daher politisch und moralisch zugebilligt werden, dass sie weniger aus einem geostrategischen Machtkalkül heraus handeln, als vielmehr einem Impuls der Selbsterhaltung und des Überlebenswillens folgen. Natürlich geht dieser Wunsch mit einer klaren Zurückweisung der herrschenden Diktatur einher. Das Assad-Regime bietet jenseits aller rituellen Rhetorik vom „schlagenden Herzen Arabiens“, wie Syrien von Anhängern der Baath-Partei bezeichnet wird, seiner innenpolitischen Demokratiebewegung nicht viel mehr an als die blanke Demut gegenüber der herrschenden Ordnung.

Der Nahostkorrespondent Robert Fisk fragte unlängst im britischen Independent: „Die syrische Bevölkerung kämpft wie in Ägypten, Libyen und Jemen für die Würde, sich selbst zu regieren. Bashar al-Assad glaubt derweil immer noch, dass er dank seiner versprochenen Reformen das Schlimmste abwenden könne. Niemand außerhalb Syriens scheint zu glauben, dass er es schafft. Aber eine Frage wurde bisher nicht gestellt: Nur angenommen, das Regime würde überleben – über was für ein Syrien würde es herrschen?”

Schlussendlich: Es ist völlig richtig, dass die Situation in Syrien mehr umfasst als nur die Situation in Syrien – dass heißt, der innersyrische Konflikt wird seitens des Regimes und der Saudis gezielt und bewusst externalisiert und damit instrumentalisiert. Dieser Umstand darf aber nicht auf Kosten der Syrer selbst gehen. Jede entschiedene Kritik und politische Zurückweisung westlicher und saudischer Umsturzpläne muss daher notwendigerweise die Ablehnung der syrischen Gewaltherrschaft einschließen. Jede Kritik imperialer Herrschaft von Seiten einer sich progressiv verstehenden Linken muss mit der Ablehnung autoritärer Herrschaft einhergehen. Die Propagierung eines “Widerstand gegen den Imperialismus” zulasten einer ganzen Bevölkerung bzw. Bevölkerungsgruppe ist moralisch indiskutabel und wird zudem politisch scheitern. Eine solche Haltung kann mittelfristig nur ihr unbeabsichtigtes Gegenteil auslösen: So kann keine Perspektive der Freiheit verteidigt werden, sondern die bereits vorhandenen antiemanzipatorischen Tendenzen innerhalb der syrischen Opposition und der gesamten Region werden gestärkt.

V. Vorläufiges Fazit

medico bleibt weiterhin an der Seite derer, die sich für ein freies und sozial gerechtes Syrien einsetzen. Entsprechend wird medico diejenigen unterstützen, die auch zukünftig unbewaffnet und überkonfessionell für eine demokratische Gesellschaft in Syrien streiten; und damit weiter für eine dritte Handlungsoption stehen, jenseits der bloßen Unterwerfung unter die Macht und der inneren wie äußeren Militarisierung. Denn eine mögliche nächste Eskalation liegt offen auf dem Tisch: Die aufstrebende Hegemonialmacht Türkei erwägt entlang der gemeinsamen Grenze durch eine Pufferzone den Konflikt endgültig in einen zwischenstaatlichen Krieg zu transformieren. Und längst schon unterstützen die Feudalmonarchien des Golfkooperationsrates, die mächtigen Gegner jeder Demokratie und zugleich reaktionärsten Regime der arabischen Welt, die aufkommenden radikal-religiösen sunnitischen Freischärler in Syrien.

Bei aller Skepsis ist nur zu hoffen, dass im Zuge des Annan-Plans die Möglichkeit des demokratischen Protestes und massenhafter unbewaffneter Verweigerung gegen das Regime wieder ein neues Momentum bekommt. Die wöchentlichen und später täglichen Demonstrationen sind in den letzten Wochen auch deshalb zurückgegangen, weil viele der Aktivisten sich verstecken mussten, flohen oder humanitäre Nachbarschaftshilfe leisten. Diese junge Generation hat ihren Willen zur Freiheit erklärt, ob es ihr aber gelingen kann in mittelbarer Zukunft ein besseres Syrien aufzubauen, ist zur Zeit noch völlig offen.

Der französische Philosoph Gilles Deleuze schrieb einmal: „Heute ist es Mode, die Schrecken der Revolution anzuprangern. Das ist nicht einmal neu, die ganze englische Romantik ist voll von einem Nachdenken über Cromwell, das ganz analog zu dem über Stalin heute ist. Angeblich haben Revolutionen eine schlechte Zukunft. Aber dabei bringt man zwei Dinge durcheinander: die Zukunft der Revolutionen in der Geschichte und das Revolutionär-Werden der Menschen. Es sind einmal dieselben Leute in beiden Fällen. Die einzige Chance der Menschen liegt in einem Revolutionär-Werden, nur dadurch kann die Schande abgewendet oder auf das Unerträgliche geantwortet werden”. (Deleuze, Unterhandlungen 1972-1990)