"Die 'stille SMS' ist nicht durch die Strafprozessordnung gedeckt"

Erstveröffentlicht: 
04.04.2012

Im Interview mit Telepolis erklärt der Experte für Strafrecht und Strafverfahrensrecht Tobias Singelnstein, warum die heimlichen Ortungsmaßnahmen quer zur bundesdeutschen Rechtsetzung liegen
Seit letztem Herbst wird offenkundig, wie extensiv Bundesbehörden[1] ebenso wie Landeskriminalämter[2] Mobiltelefone mit sogenannten "stillen SMS" als Ortungswanze nutzen.

 

Die Maßnahme wird von Datenschützern kritisiert: Der Versand der heimlichen Mitteilungen wird etwa in Niedersachsen durch einen privaten Anbieter vorgenommen (Firma spioniert mit "stillen SMS"[3]). Der Inhalt entsprechender Vereinbarungen bleibt ebenso geheim wie der Quellcode der genutzten Anwendung. Der Hamburger Senat bescheinigte[4] kürzlich, dass der Softwarenutzung ein Rahmenvertrag zugrunde liegt, den das Bundesministerium des Innern abgeschlossen hat. Auch das Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste (LZPD) in Nordrhein-Westfalen ist in die Abwicklung Spionagemaßnahme eingebunden. Eine Kleine Anfrage der Linksfraktion[5] sollte die Vermutung belegen, dass auch das Bundeskriminalamt und das Zollkriminalamt die Dienste des LZPD nutzen. Wegen der Neuwahlen in Nordrhein-Westfalen wurde die Antwort im letzten Moment von der Landesregierung suspendiert.

Auch unter Juristen sind die "stillen SMS" höchst umstritten. Die Telekommunikationsüberwachung darf demnach nur als "passive Tätigkeit" ausgeführt werden. Das Erzeugen eines Kommunikationsvorganges mittels "stiller SMS" ist aber eine aktive Maßnahme. Die derart erlangten Bewegungs- und Persönlichkeitsprofile stellen zudem einen erheblichen Grundrechtseingriff dar. In der juristischen Fachliteratur wird hierzu gern Tobias Singelnstein zitiert. Im Interview geht der Juniorprofessor an der Freien Universität auf die wesentlichen Kritikpunkte ein.

 

tp: Zum 1.1.2008 wurde das "Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG" erlassen. Welche Regelungen wurden damals für das Versenden von "Stillen SMS" getroffen?

 

Tobias Singelnstein: Das Gesetz trifft unmittelbar gar keine Regelung zur "stillen SMS". Die StPO enthält hierzu nach wie vor keine ausdrückliche Ermächtigung. Im Gegenteil geht die Gesetzesbegründung davon aus, dass die Maßnahme mit der Reform überflüssig geworden sei: Da das Erfordernis "im Falle einer Verbindung" in § 100g StPO gestrichen wurde, soll es nun möglich sein, Standortdaten auch ohne aktive Verbindung in Echtzeit auszuleiten. Daher bedürfe es der "stillen SMS" nicht mehr. Die Anwendungszahlen aus der Praxis zeigen demgegenüber, dass dies nicht der Fall ist. Offenbar gibt es ganz erhebliche Begehrlichkeiten für die Maßnahme.

 

tp: Tatsächlich zeigen die Zahlen von Bundes- und Länderpolizeien einen nach 2008 sogar deutlich wachsenden Trend heimlicher Ortungen. Wieso eigentlich?

Tobias Singelnstein: Dies hat meines Wissens verschiedene Gründe. Erstens fallen einfache Positionsmeldungen, die in Echtzeit übermittelt werden könnten, nur bei bestimmten Ereignissen an, etwa wenn das Gerät sich zwischen verschiedenen Funkzellen bewegt. Zweitens sind die Standortdaten, die bei aktiver Kommunikation gespeichert werden, genauer. Sie bezeichnen die konkrete Funkzelle, in der sich das Gerät zu dieser Zeit befindet, und nicht nur die jeweilige Location Area, d.h. den Zusammenschluss mehrerer Funkzellen, wie dies bei einfachen Positionsmeldungen der Fall ist. Drittens ist es offenbar praktikabler: Normale Verkehrsdaten, wie sie bei aktiver Kommunikation anfallen, werden im Fall einer Telekommunikationsüberwachung nach § 100a StPO von den Providern direkt an die Polizei ausgeleitet. Die Ermittler bekommen daher zusammen mit den sonstigen Informationen automatisch auf den Tisch, wo sich das Mobilfunkgerät gerade befindet. Durch das Versenden von "stillen SMS" in regelmäßigen Abständen kann so bequem vom Schreibtisch aus verfolgt werden, wo sich eine Zielperson bzw. ihr Handy aufhält und wie es sich bewegt.

tp: Das Gesetz zur Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung ("Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG") hat nach Interpretation der Bundesregierung den alten "Auskunftsanspruch" gegenüber den Providern in eine umfassende "Erhebungsbefugnis" umgewandelt. Was bedeutet das für das Versenden "Stiller SMS" und die Abfrage von Standortdaten bei den Providern?

Tobias Singelnstein: In der Tat wurde der Auskunftsanspruch nun umfassender ausgestaltet. Insbesondere ist keine aktive Telekommunikation erforderlich, um Daten erheben zu dürfen. Eine ganz andere Frage ist jedoch, ob damit auch das aktive Erzeugen von Daten, wie es durch die "stille SMS" erfolgt, gedeckt ist. Ich würde das, gerade auch im Hinblick auf die Richtung und Tiefe des Grundrechtseingriffs, verneinen.

§ 100g StPO ermächtigt dazu, angefallene und gespeicherte Verkehrsdaten der Telekommunikation abzufragen. Bei der "stillen SMS" bedienen sich die Ermittler demgegenüber in aktiver Weise der Mobiltelefone der Betroffenen, nicht selten um damit Bewegungsbilder zu erstellen und Observationen zu unterstützen. Die Eingriffsrichtung der Maßnahme ist also eine ganz andere als die einer Verkehrsdatenabfrage. Ähnliches gilt für § 100a StPO, so dass die "stille SMS" meiner Auffassung nach von den Rechtsgrundlagen der StPO nicht gedeckt ist.

 

tp: Es gibt nur wenige juristische Aufsätze zur rechtlichen Bewertung "stiller SMS". Wie wird die Maßnahme von Juristen beurteilt? Hat es in dieser Angelegenheit überhaupt jemals Gerichtsurteile gegeben, die eine Auslegung entsprechender Paragrafen präzisiert haben?

Tobias Singelnstein: Die Maßnahme ist rechtlich nach wie vor umstritten, auch wenn die Diskussion dazu bis vor kurzem quasi eingeschlafen war. In der Tat ist es so, dass viele heimliche Ermittlungsmaßnahmen leider vergleichsweise wenig im Fokus der juristischen Fachdiskussion stehen und Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen sind. Dies liegt auch daran, dass die Betroffenen – falls sie überhaupt benachrichtigt werden – selten gegen solche Maßnahmen vorgehen oder diese nur im Rahmen der jeweiligen Strafverfahren angreifen. Würden mehr Betroffene die Mühe auf sich nehmen, solche Maßnahmen auch unabhängig davon im Nachhinein gerichtlich überprüfen zu lassen, könnte dies zu einer Beschränkung der Eingriffsbefugnisse in der Praxis führen.

 

tp: Der Einsatz einer "Stillen SMS" wird juristisch als zwei unterschiedliche Maßnahmen betrachtet: das unverfängliche Senden der SMS sowie das daraufhin grundrechtssensible Abfragen der Daten. Teilen Sie diese Interpretation?

Tobias Singelnstein: Jein. Ich meine auch, dass die Maßnahme aus zwei Schritten besteht, für die es jeweils einer hinreichend konkreten rechtlichen Grundlage bedarf. Allerdings ist das Versenden der SMS meines Erachtens keineswegs unverfänglich oder grundrechtlich nicht relevant. Erstens führt ja gerade das Versenden der "stillen SMS" dazu, dass Standortdaten gespeichert werden. Zweitens erfolgt die Maßnahme gerade mit dem Ziel, diese gespeicherten Daten später abfragen zu können. Der Staat bedient sich also quasi eines Automatismus, um Daten zu speichern, so dass das Fernmeldegeheimnis bzw. die informationelle Selbstbestimmung betroffen sind.

 

tp: "Stille SMS" werden zum Erzeugen eines Bewegungs- und damit Persönlichkeitsprofils genutzt. Wie wird dieser erhebliche Grundrechtseingriff von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs oder des Bundesverfassungsgerichts bestimmt?

Tobias Singelnstein: Bewegungsbilder sind ein wesentlicher Bestandteil umfassender Persönlichkeitsprofile. Ihre Erhebung stellt daher einen besonders intensiven Grundrechtseingriff dar. Leider hat die Rechtsprechung bislang nur wenig klare Grenzen gezogen, wann eine Erhebung von Bewegungsbildern zulässig ist. Grundsätzlich gilt aber wie stets bei staatlichen Grundrechtseingriffen, dass die Maßnahme verhältnismäßig sein muss. Demnach müssen die vom Staat verfolgten Zwecke umso gewichtiger sein, je schwerwiegender der Grundrechtseingriff ist. Daher erfordert die Erstellung von Bewegungsbildern je nach deren Detailliertheit ein besonders gewichtiges staatliches Interesse.

 

tp: Betroffene einer TKÜ sollen nachträglich unterrichtet werden. "Stille SMS" werden aber – soweit bekannt – nicht erwähnt. Mag dies erklären, wieso die Überwachten nicht bereits vor zehn Jahren geklagt haben, als die Maßnahme erstmals bekannt wurde?

Tobias Singelnstein: Ja, auch. Da die "stille SMS" vom Gesetz nicht ausdrücklich geregelt ist, taucht sie auch bei der Benachrichtigungspflicht in § 101 StPO nicht auf, so dass die Betroffenen nichts von der Anwendung der Maßnahme erfahren, solange diese nicht in der Akte vermerkt wird. Allerdings erfolgt parallel zu der Maßnahme in der Regel ja auch eine Telekommunikationsüberwachung bzw. eine Verkehrsdatenabfrage, die die Benachrichtigungspflicht auslösen. Jedoch wird diese in der Praxis leider nicht ausreichend beachtet.

 

 


 

Tobias Singelnstein ist Juniorprofessor für Strafrecht und Strafverfahrensrecht an der Freien Universität Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören heimliche Ermittlungsmaßnahmen, informationelle Selbstbestimmung im Strafverfahren, Wandel sozialer Kontrolle, Polizei und Justiz. Zusammen mit Peer Stolle hat er das Buch "Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert" verfasst, das in diesem Jahr in der 3. Auflage erschienen ist. In dem Band stellen die beiden Autoren die grundlegenden Veränderungen von Sicherheits- und Kontrollstrategien in der jüngeren Vergangenheit dar und analysieren diese vor dem Hintergrund der ökonomischen, soziokulturellen und diskursiven Umbrüche seit den 1990er Jahren.

 

Links:

[1] http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/081/1708102.pdf
[2] http://www.andrej-hunko.de/component/docman/doc_download/173-antwort-kle...
[3] http://www.heise.de/tp/blogs/8/151498
[4] http://www.linksfraktion-hamburg.de/nc/buergerschaft/initiativen_und_ant...
[5] http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD15-410...

 

 

tp: Die Telekommunikationsprovider konservieren Verbindungsdaten mitunter mehrere Monate – offiziell aber nur zu Abrechnungszwecken. Die Standortdaten der Mobiltelefone in den jeweiligen Funkzellen gehören eigentlich nicht dazu. Werden diese nach Ihrer Einschätzung tatsächlich, wie im Telekommunikationsgesetz gefordert, "unverzüglich" gelöscht?

Tobias Singelnstein: Hier muss man differenzieren. Im Falle aktiver Kommunikation wird ein Datensatz erzeugt, der nach dem TKG zu Abrechnungszwecken gespeichert werden darf, solange dies erforderlich ist. Diese Daten sind es, auf die – mangels Vorratsdatenspeicherung – bei rückwirkenden Verkehrsdaten- oder auch Funkzellenabfragen zugegriffen wird. Bei Kommunikation in Mobilfunknetzen gehören zu diesen Datensätzen auch Standortdaten, so dass auch diese rückwirkend abgefragt werden können.

Etwas anderes gilt hingegen für die bloßen Positionsmeldungen, die Mobilfunkgeräte auch ohne Bestehen einer aktiven Verbindung hin und wieder an das Netz aussenden. Ob es technisch möglich und praktikabel ist, diese im Nachhinein zu ermitteln, kann ich nicht sagen. Mir sind solche Fälle jedenfalls nicht bekannt.