Kurdistan: Gedenken an 17.000 "Verschwundene"

Diyarbakir, Kurdistan, 24.03.2012. Wöchentliches Gedenken der Angehörigen an die "Verschwundenen"
Samstag, 12 Uhr, Diyarbakir/Amed: Auf Einladung der IHD, einer türkeiweit tätigen Menschenrechtsorganisation, nehmen wir an einer Mahnwache für die sogenannten „Verschwundenen“ (Kayiplar) teil. Sie findet in einem Park vor einem Denkmal für die in den 90er Jahren verschleppten und ermordeten Menschen aus der kurdischen Bewegung statt.

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Rund 60 Menschen, meist Angehörige, versammeln sich in einem Halbkreis um ein Transparent und eine kleine Tonanlage. Auf dem Transparent sind die Bilder einiger dutzend „Verschwundener“ zu sehen, viele der Teilnehmenden halten Schilder mit den Bildern und Namen ihrer Angehörigen hoch. Auf einigen Schildern sind drei oder vier Mitglieder aus einer Familie zu sehen. Ein paar Fotografen und Kamerateams filmen die Szenerie.

 

Nach einleitenden Worten der IHD, in denen eine Aufklärung der Verbrechen und Konsequenzen für die Verantwortlichen gefordert werden, bekräftigen die Teilnehmenden ihren ungebrochenen Willen zum Widerstand und betonen die Kontinuität der türkischen Politik gegen die kurdische Bewegung mit all ihren systematischen Menschenrechtsverletzungen. Besonderen Wert legen die Angehörigen darauf, dass sie angebotene Schweigegelder der Regierung trotz wirtschaftlicher Not niemals akzeptieren werden.

Dann tritt ein Mann mittleren Alters an das Mikrofon und erzählt die Geschichte seiner Familie. Sein Bruder, Mirza Ates und ein weiterer Verwandter wurden am 18. März 1993 in einem kleinen Dorf nahe Kulp, unweit von Diyarbakir/Amed, von Polizisten in ihrer Wohnung verhaftet und vor den Augen der anderen Familienmitglieder und Kinder mit brennendem Plastik gefoltert. Anschließend verschleppten die Polizisten sie, verlegten sie über Wochen von einer Polizeistation in die nächste, und schließlich nach Diyarbakir/Amed. Dort wurden beide Männer zusammen mit anderen Gefangenen in einen Hubschrauber verfrachtet, in die Berge geflogen und ermordet. Die Reste der verbrannten Leichen der mit ihnen Ermordeten fanden Ziegenhirten mehr als 10 Jahre später in einer Höhle, von Mirza Ates und seinem Verwandten gibt es bis heute keine Spur. Die örtliche Polizei behauptete kurz nach der Entführung, die beiden hätten sich entweder den Guerillas der PKK angeschlossen oder seien nach Istanbul gegangen.

 

Schweigend gedenken wir und die anderen Versammelten etwa 5 Minuten den Opfern des staatlichen Terrors. Wir blicken in die Gesichter von alten Frauen und Männern, die ihre Söhne, Töchter und Partner_innen verloren haben, in die Gesichter von Menschen, deren Eltern eines Tages nicht von der Arbeit oder dem Einkauf zurück kamen, in die Gesichter von Menschen die meist nicht mal einen persönlichen Ort des würdigen Gedenkens haben.

Nach den Schweigeminuten löst sich die Versammlung auf, wir verharren noch etwas in Gedanken versunken vor dem Denkmal, als uns eine alte Frau anspricht und anfängt ihre Geschichte zu erzählen:

 

Sie lebte Anfang der 90er Jahre mit ihrem Mann und acht Kindern in einem kurdischen Dorf im Osten. Eines Tages fand in der Nähe des Dorfes eine dreitägige Militäroperation der türkischen Armee gegen Einheiten der Guerilla statt. Ihr Mann war auf dem Feld arbeiten, als die Operation begann. Als er am Abend nicht nach Hause kam, ging sie zur Polizei und fragte nach ihm. Sie erhielt keine Antwort, es wurde ihr verboten nach ihm zu suchen. Als sie dies trotzdem tat, fand sie nur sein Werkzeug. Die Soldaten behaupteten, dass hier tausende Soldaten gewesen seien und sie ihn nicht gesehen hätten.


Es war Frühling, und die Gräser waren hoch gewachsen, so dass sie die Spuren ihres Manns verfolgen konnte. Sie sah, dass er in verschiedene Richtungen gelaufen war, aber überall war Militär. Er versteckte sich, aber die Soldaten fanden ihn. Es ist unklar, ob sie ihn verschleppten oder auf der Stelle ermordeten. Im Anschluss zündeten Soldaten ihr Haus an, und sie war mit ihren acht Kindern ohne Mann und ohne Obdach auf sich allein gestellt.
Die Familie suchte ein halbes Jahr lang nach der Leiche des Mannes, und als sie ihn nicht fanden, wandten sie sich an die IHD in Diyarbakir/Amed. Die Frau versuchte dreimal Anzeige zu erstatten, sowohl bei der Polizei als auch beim Justizministerium. Erst die dritte Anzeige wurde angenommen, sie wurde zur Anhörung bei der örtlichen Polzei gerufen. Die Polizisten behaupteten, ihr Mann wäre von den Guerillas der PKK entführt worden, sie wurde beschimpft, geschlagen und rausgeschmissen. Sie sagte den Polizisten, dass sie niemals aufhören würde nach ihm zu suchen, egal welche Lügen sie ihr erzählen und egal wie oft sie sie schlagen würden.

 

Mit Tränen in den Augen erzählt sie, dass die Soldaten ihnen alles weggenommen haben: Ihr Dorf wurde in Brand gesteckt, einige ihrer Kinder wurden verhaftet, keines konnte die Schule abschließen. Die Regierung hat sie all ihrer Rechte beraubt. Sie sagt, dass sie keine Angst mehr hätte, denn ihr sei alles genommen worden, und dass sie diesen Menschen alles Schlechte wünscht, was es auf dieser Welt nur geben kann. Sie könnte noch viele Geschichten erzählen, und jede andere kurdische Mutter könne ähnliches berichten; in Kurdistan gibt es keine Einzelfälle.

Uns stehen die Tränen in den Augen, wir wissen nicht was wir sagen sollen.

 

Im Nachhinein sind wir uns einig, dass dieses Gespräch ein Schlüsselmoment unserer Reise war: Natürlich wussten wir auch davor, dass unzählige Menschen in diesem Konflikt bis ans Unerträgliche leiden mussten, dass eigentlich jede kurdische Familie persönliche Opfer im Kampf um Befreiung bringen musste. Jeder und jede hier kann Geschichten von Eltern, Geschwistern und Kindern erzählen, die bei der Guerilla in den Bergen gefallen sind, die von Polizei, Militär und staatlichen Konterguerillas verschleppt wurden und nie wieder aufgetaucht sind, die seit Jahren und Jahrzehnten im Gefängnis sitzen. Die Bevölkerung Kurdistans und die Bewegung sind nach so vielen Jahren des Krieges kaum mehr zu trennen.

 

Doch in solchen Momenten wird uns wirklich bewusst, wie stark, kontinuierlich und unmenschlich die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung durch den türkischen Staat ist, aber auch wie standhaft, gewissenhaft und mutig diese Menschen seit Jahrzehnten für ihre Befreiung kämpfen.


Wir gedenken der getöteten Guerillas und aller, die während unserer Reise hier misshandelt, verhaftet, gefoltert oder getötet wurden.

Newroz Delegation 2012, Hamburg

Diyarbakir, 25.03.2012