Hetzjagd in Insel (Sachsen-Anhalt) - Über eine Parlamentsdebatte

thomas meyer falk

In Folge eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2009 kamen in Deutschland einige wenige Sicherungsverwahrte (wie z.B. ein Einbrecher, der in Bruchsal saß) auf freien Fuß, darunter auch Sexualtäter (exemplarisch vgl. linksunten.indymedia.org/node/25901). Insbesondere deren Freilassung stieß auf meist überragendes Interesse der Boulevardpresse und führte in manchen Fällen zu einer regelrechten Menschenjagd.

 

Am Beispiel von zwei in Stendal (Sachsen-Anhalt) – Ortsteil Insel - lebenden ehemaligen Sicherungsverwahrten möchte ich dies näher beleuchten.

 

Zur Vorgeschichte

 

Im Oktober 2010 wurden zwei wegen mehrfacher Vergewaltigung vorbestrafte und hiernach über 10 Jahre in Sicherungsverwahrung gehaltene Verurteilte aus der JVA Freiburg (Baden-Württemberg) entlassen. Wegen der noch angenommenen hohen Gefährlichkeit der Beiden, wurden sie permanent von der Polizei, zeitweise zusammen mit bis zu 11 Beamten und Begleitfahrzeugen (vgl. „Die Rheinpfalz“, 29.09.2011, „Gefangen in der Freiheit“) überwacht. Da ihnen niemand eine Wohnung vermieten wollte, lebten sie in einer Zelle des „Offenen Vollzugs“, also einer gelockerten Abteilung der JVA Freiburg. Ein ihnen bekannter Tierarzt, Edgar von Cramm, der einen Wellensittich der EX-Verwahrten behandelt hatte, als dieser noch in Sicherungsverwahrung saß, hatte in Insel, einem Ortsteil von Stendal, ein Haus geerbt.Wie er der „Rheinpfalz“ (a.a.o.) berichtete, sei er „Christ (und) wollte etwas Gutes tun“. Er gab den beiden Männern die Chance dort einen Neuanfang zu starten, nachdem sich nämlich durch neu eingeholte Gutachten herausstellte, dass von Beiden keine konkrete Gefahr für andere ausging. Demgemäß wurde auch die Polizeiüberwachung beendet.

 

Umzug nach Insel (Sachsen-Anhalt)

 

Etwa Mitte Juli 2011 zogen die beiden Männer um, in das renovierungsbedürftige Haus von Cramms nach Insel. Mutmaßlich durch eine Indiskretion der örtlichen Agentur für Arbeit, wo einer der beiden vorstellig wurde, um Hartz 4 und entsprechende Zuschüsse zu beantragen, wurde der Bevölkerung bekannt, dass dort nun zwei wegen mehrfacher Vergewaltigung Vorbestrafte mitten unter ihnen lebten.

 

Erste Demonstrationen

 

Der Ortsbürgermeister von Bismarck (CDU) führte seitdem Demonstrationen vor dem Wohnhaus der Beiden an; wie die Fraktionsvorsitzende der GRÜNEN im magdeburger Landtag (vgl. Drucksache 6/457 vom 04.10.2011), Professorin Dr. Dalbert, berichtet, kooperiere der Ortsbürgermeister dabei „mit organisierten Neonazis“. Jeweils Montags, Mittwochs und Freitags um halb Sieben, so „Die Rheinpfalz“, demonstrierten nun EinwohnerInnen, sowie auswärtige DemonstrantInnen lautstark vor dem Haus der beiden Männer. Den Lärm, den die Protestler dabei veranstalten beschreibt einer der Betroffenen als „unerträglich“; weshalb der Rechtsanwalt der Ex-Verwahrten, Ekkehard Kiesewetter, Strafanzeige gegen die Demonstranten erstattet hat.

 

Parlamentsdebatte im Magdeburger Landtag

 

Es ist noch nicht oft vorgekommen, dass sich ein Parlament in Deutschland mit der aktuellen Lebenssituation zweier ehemaliger Sicherungsverwahrter in einer Debatte beschäftigt hat.

Auf Antrag der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen (Drucksache 6/457), „Verantwortung des Staates für ehemalige Sicherungsverwahrte gewährleisten – Friedliche Lösung in Insel erreichen“, fand am Donnerstag, dem 06.10.2011 eine aktuelle Debatte zu dem Thema statt.

 

In einer stellenweise hitzig und emotional geführten Diskussion waren sich die Rednerinnen und Redner von Grüne, Linke, CDU und SPD zumindest darüber einig, dass es auch für ehemalige Sicherungsverwahrte das Recht geben müsse, wieder in die Gesellschaft aufgenommen zu werden. Während die VertreterInnen von Grüne, SPD und Linke teils sehr vehement das Verhalten der Menschen in Insel sowie das des dortigen Ortsbürgermeisters von Bismarck, der die Neonazis ausdrücklich als Gäste seiner Demonstrationen willkommen geheißen hatte, kritisierten, standen bei den Vertretern der CDU die Sicherungsinteressen der Bevölkerung im Mittelpunkt.

Der Abgeordnete Borgwart (CDU) wollte zwar den Menschengerichtshof nicht kritisieren, wie er sagt, jedoch müsse „man an dieser Stelle auch erwähnen dürfen“, dass dessen Entscheidung „nur sehr schwer vermittelbar“ sei, wenn dann plötzlich „nach wie vor gefährliche Straftäter sehendes Auges auf die Menschheit (…) losgelassen“ würden.

Den aus meiner Sicht differenziertesten Redebeitrag trug die Abgeordnete von Angern (LINKE) bei, die nämlich ausführlich die gesamtgesellschaftliche Dimension in Blick nahm und verdeutlichte, dass es einerseits Pflicht des Staates sei, „Menschen vor Straftaten zu schützen“, jedoch gleichrangig daneben auch das Recht „ehemaliger Straftäter“ stehe, auf „Schutz ihrer Grundrechte sowie auf Resozialisierung“. Sie betonte, sowohl die beiden Männer in Insel, „als auch alle anderen in Haft befindlichen Straftäter (seien) Teil unserer Gesellschaft“.

Wenn auch nicht gleichermaßen engagiert, aber so doch in die selbe Richtung zielend äußerten sich die VertreterInnen der SPD. So war es Dr. Brachmann (SPD), der den Innenminister Stahlknecht dafür kritisierte, dass dieser noch am Vorabend der Debatte im Rahmen eines Treffens mit den beiden ehemaligen Sicherungsverwahrten, sowie Vertretern der Kirche, den Ex - Gefangenen eine Erklärung abgerungen habe, wonach die beiden Männer nun „schriftlich ihre Bereitschaft erklärt (hätten) wegzuziehen“, sprich Insel zu verlassen. Diesen „Sieg der Straße“ habe der Innenminister mitzuverantworten. Hier habe man „dem Gemeinwesen (…) einen Bärendienst erwiesen“.

 

Der Abgeordnete Herbst (Grüne) wies darauf hin, dass in Insel Neonazis mit Spruchbändern wie „Problemlösung statt Problemverlagerung“ demonstriert hätten und ganz offenkundig sei, „was das bedeutet“ und forderte, dass „wir gemeinsam die richtigen Lehren aus den Geschehnissen in Insel ziehen“. Nach Abschluss der Debatte nahm der Landtag einstimmig eine Erklärung an.

 

Entschließung des Landtags

 

Die eben erwähnte Erklärung, respektive Entschließung (Drucksache 6/462) betont einerseits, dass die Fraktionen des Landtages „die Ängste der Nachbarn ernst“ nehmen würden, appelliert jedoch „Haftentlassene die Chance zur Resozialisierung zu geben und sie in die Gesellschaft aufzunehmen“.

Deutlich wird verurteilt, dass „rechtsextreme Kräfte die Probleme vor Ort für ihre politischen Ziele instrumentalisieren“. Denn die „Vertreibung von Menschen zu fordern“, könne kein Ziel einer verantwortlichen Politik sein.

 

Aktuelle Situation

 

Im November 2011 fand im Landtag eine weitere Debatte zu der Situation der beiden Ex-Verwahrten statt. Die BürgerInnen in Insel drohten zudem ganz offen damit, die zur Zeit nicht stattfindenden Demonstrationen wieder aufzunehmen, sollten die Beiden nicht endlich „verschwinden“. Nach Auskunft der Landesregierung ist es jedoch schwierig eine Örtlichkeit zu finden, die die Betroffenen aufnimmt. Offene Kritik musste sich Insels Ortsbürgermeister von Bismarck (CDU) von seinen eigenen Parteikollegen anhören, da er Neonazis erlaubte sich in Demonstrationen vor dem Wohnhaus der beiden Betroffenen, einzureihen.

 

Kritischer Ausblick

 

Nicht nur ehemalige Sicherungsverwahrte sind mitunter dem Mob der Straße ausgeliefert; in der Debatte im Landtag wurde auch auf den Fall Karl D. (vgl. auch DER SPIEGEL, 40/2011, S.56 ff, „Kein Helmut, kein Karl“) verwiesen, der aus der Strafhaft entlassen, bei seinem Bruder Helmut in Randerath (bei Aachen) leben wollte und von dort vertrieben wurde, so dass er heute, da er anderweitig keine Unterkunft findet, in einer Abteilung einer Haftanstalt lebt.

Appelle, wie die des Landtages vom 06. Oktober 2011 hört man als Gefangener gerne, nur glauben nicht viele an deren Wirkmacht. Täglich werden in Deutschland Inhaftierte entlassen und deren Rückkehr gestaltet sich wesentlich einfacher als in Fällen, in welchen Hysterie geschürt und Ängste der Bevölkerung ausgebeutet werden, zum eigenen politischen Nutzen, oder zur Steigerung von Auflage (BILD), bzw. der Einschaltquote (RTL und Co). Gerade im Fall von Sexualdelikten geht eine reale Gefahr viel weniger von entlassenen Sicherungsverwahrten, als vom Vater, dem Onkel, oder dem „guten Bekannten“ von Nebenan aus.

 

Thomas Meyer-Falk

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