MOL - 2000 Menschen gegen Fluglärm

Jürgen Henze (grüne Krawatte), parteiloser Bürgermeister von Neuenhagen mit Personenschutz

Gestern, am 26. August 2011, demonstrierten in Neuenhagen (bei Berlin) etwa 2000 Menschen gegen geplante Flugrouten vom und zum Grossflughafen Berlin-Schönefeld. Nach einem Beschluss der Berliner Fluglärmkommission im Juli 2011 sollen bis zu 120 Flugzeuge in einer Höhe von etwa 1500 Meter über die Kleinstadt im "Speckgürtel Berlins" fliegen. Viele Bewohner und Bewohnerinnen von Neuenhagen und weiteren betroffenen Brandenburger Gemeinden und Berliner Stadtbezirken befürchten eine krankmachende Lärmbelästigung und fallende Grundstückspreise.

 

 

"Gentryfiction" mal anders herum: Noch vor wenigen Jahren flogen in kurzen Abständen und im Tiefflug riesige Flugzeuge über die Dächer des Berliner Bezirks Nord-Neukölln. Auch das war ein Grund, warum die Mieten dort billig waren. Im Oktober 2008 wurde der Flugbetrieb des Berliner Stadtflughafen Tempelhof eingestellt, der Flugbetrieb über den inzwischen ausgebauten Flughafen Schönefeld, am Rande Berlins, abgewickelt und erweitert. Nun stiegen die Grundstücks- und Mietpreise in Berlin-Neukölln wegen verschiedenen Faktoren. Ein Faktor, die ruhiger gewordene Gegend mit dem netten Park in der Nähe und die damit einhergehende grössere Nachfrage an Wohn- und Geschäftsraum in der Gegend um den geschlossenen Flughafen. Der Flugbetrieb und die damit einhergehende Lärmbelästigung war plötzlich nicht mehr in der Nähe von Gegenden wo viele geldarme Menschen lebten, sondern bald in Gegenden in denen sich bürgerliche Menschen ihr Eigenheim schafften.

 

Die Stadtabwertung im Speckgürtel Berlins

 

Wird von Stadtabwertung und den damit einhergehenden "Werteverlust" gesprochen, dann sollte in Berlin nicht nur von den stumpfen und gewalttätigen Attitüden von "Klasse gegen Klasse" (KgK) und der "Wagensportliga" gefaselt werden. Das beste Beispiel von Stadtabwertung zeigt sich an den Veränderungen des Berliner Stadtteils Marzahns in den letzten eineinhalb Jahrzehnten und nun vielleict im Geschehen im Spekgürtel Berlins.

 

Bis Mitte der 1970er Jahre war der Berliner Stadtteil Marzahn ein paar Dörfer, wie z.B. das Dorf Mahrzahn, Biesdorf, Mahlsdorf und Hellersdorf. In Ost-Berlin gab es zu dieser Zeit grossen Wohnraummangel, die vielen Altbauten in Berlin oft schlecht beheizbar und hellhörig. So liess die Regierung der DDR, beginnend mit einem Wohnungsbauprogramm aus dem Jahre 1972, im Gebiet des Stadtteils Marzahn (damals Bezirk Lichtenberg) viele Grossraumsiedlungen bauen. Die dortigen neuen und modernen Wohnungen waren sehr begehrt, denn oft gab es sonst für junge Leute keine Wohnungen in Ost-Berlin. Die Wohnungen, die es in Berlin gab, waren sehr klein, dunkel, und hatten oft nur Ofenheizung und Aussentoilette. In Marzahn war das anders. Dort gab es moderne Heizungen, dür jede Wohnungen eine Toilette (in Fünfraumwohnungen sogar zwei) grossen hellen Wohnraum und für alle nutzbare Party-, Diskussions und Mehrzweckräume. Im Gegensatz zu den recht isolierten Leben im Altbau gab es im neuen Marzahn auch eine Hausgemeinschaft, die über Basis-Versammlungen organisiert wurde.

 

Die grosse Nachfrage an den neuen Wohnraum in Marzahn sorgte dafür, dass für den Staatsbetrieb wertvolle Menschen, zuerst dort Wohnraum zugewiesen bekamen. Der Unterschied zum heutigen System war, dass nicht nur durch Geld, die Höhe der Miete, die Wohnraumvergabe geregelt wurde, sondern auch durch gesellschaftspolitische Überlegungen. In der DDR konnte sich jeder und jede die Miete für ausreichend Wohnraum leisten! Die Mieten waren staatlich reguliert, aber auch die Wohnraumvergabe - d.h. die Frage wer welche Wohnung bekam. So wurde beispielsweise aus dem ursprünglichen sozialistischen "Jedem eine Wohnung" im Wohungsbauprogramm von 1972 der DDR-Slogan "Jedem seine Wohnung".

 

Marzahn wurde schliesslich, nach Fertigstellung der meisten dortigen Grossraumsiedlungen, in den 1980er Jahren "der grüne Bezirk" genannt. Im Gegensatz zu den anderen Berliner Stadtbezirken hatte Marzahn zwar mehr Grünanlagen, doch den Namen gab es nicht darum. Überdurchschnittlich viele Polizisten liessen sich hier auf Grund der günstigen Wohnraumvergabe und der begehrten Wohnungen nieder. Und auch andere bürgerliche Eliten, wie Lehrer und Lehrerinnen, aber auch wohlhabende Pflegebedrftige und/oder sehr alte Menschen liessen sich dort im Bezug auf andere Berliner Stadtbezirke überdurchschnittlich häufig nieder.

 

Das Gras ist grüner dort

 

Mit dem Fall der Mauer kam jedoch die Modeerscheinung des "grünen Wohnens" und das damit einhergehende Vorurteil des schlechten Wohnen im "Marzahner Plattenbau", bzw. dass es in Marzahn wenig Natur gäbe, auf. Zudem gab es keine gewohnten sozialen Organisierenden, keine Kollektive, mehr in den Marzahner Neubauwohnungen. Wohnen in dem Einfamilienhaus wurde bei den Berliner Bürger und Bürgerinnen populär. So zogen viele Bürger und Bürgerinnen aus Marzahn, dorthin wo was los ist oder in den grünen Gegenden, die an der Grenze Berlin lagen.

 

In Marzahn gab es schliesslich immer mehr Rückbauten, d.h. beispielsweise aus 10-stöckigen "Plattenbauten" wurden die oberen Stockwerke abgerissen und die Raumaufteilung in den unteren Stockwerken (teilweise individuell) verändert. Schulen, Polykliniken und ganze Hochhäuser wurden abgerissen. Oder stellenweise Zweckentfremdet. Teilweise standen noch vor 5 Jahren ganze "Plattenbauten" leer oder wurden von den Wohnungsbaugesellschaften nur für die Zahlung der Nebenkosten vermietet.

 

Viele priviligierte Menschen zogen nun also nicht mehr nach Marzahn, sondern von dort und anderswo in den Speckgürtel Berlins, um dort "im Grünen" zu wohnen und den Traum des Individuellen zu leben. Darunter auch viele Polizisten und Polizistinnen, sowie andere Beamte und Beamtinnen.

 

In Neuenhagen hingegen gab es wie in anderen ländlchen Gebieten oder Kleinstädten ziemlich viele verfallende Häuser. Dies änderte sich in den letzten Jahren schlagartig. Gerüchte um einen Ausbau der nahegelegenen Rennbahn Hoppegarten machte die Runde und der Bau von Casinos und Hotels. Der Bahnhof Neuenhagens und Hoppegartens wurde in den letzten Jarhren komplett saniert, verfallende Häuser rund um dieses Areal fanden neue Besitzer und Besitzerinnen.

 

Die Demonstration am 26. August 2011

 

Gestern fand dann schliesslich am Neuenhagener S-Bahnhof ab 18 Uhr die Demonstration gegen den Fluglärm durch Flugrouten von und zum Flughafen Berlin-Schönefeld statt. Knüppelten die Polizisten und Polizistinnen noch auf Demonstrierende, die in Kreuzberg gegen die "Gentryfizierung" mobil machten, so waren sie hier demonstrierend mit Kind und Kegel zu sehen. Ist schon hart, wenn man Jahre lang "arbeitet", sich Haus und Hof kauft, und dann plötzlich hatte die eigene "Arbeit" keinen Wert mehr.

 

Etwa 2000 Menschen waren gekommen, was beeindruckend ist, da das etwa 10 bis 15 Prozent der lokalen Bevölkerung sind. Ein wenig Polizei war auch dabei, um die relativ brave Herde zu hüten. Der Staatsschutz schien auch einigen Notwendig zu sein, da die NPD versuchte die Demonstrationen gegen den Flughafen zu vereinnahmen. Einige Menschen äusserten übertriebene Angst vor Fuel Dumping (Treibstoffablassen im Flug), was aber nur in Notfällen und in Deutschland ca. 30 mal im Jahr bei Zivilflugzeugen vorkommt. Ebenso wurden Unfälle angesprochen. Die meisten schienen aber Angst davor zu haben, dass die Grundstücke ihrer Häuser an Wert verlieren.

 

Eine Bürgerinitiative warb mit den Slogan "Wir Bürger müsseen uns gegen die Bevormundung und hinterlistige Täuschung durch Politik und Wirtschaft wehren (...)" für die gestrige Demonstration. Auf der Bühne dann Politik und Wirtschaft. Als erstes sprach der Bürgermeister von Neuenagen Jürgen Henze (parteilos), der den Leuten erzählte was er nach seinem Urlaub gemacht hatte. Ob damit sein eigener Urlaub oder der eines anderen Politikers gemeint war, konnte der Rede nicht entnommen werden. Henze erzählte wie sehr die Betroffenen und betroffenen Regionen (u.a. Berlin-Treptow, Köpenick, Neuenhagen) vernetzt seien. Hiernach redete der Vertreter der Wirtschaft, nämlich ein Repräsentant der Pferderennbahn Hoppegarten.

 

Völlig stumpf und dressiert sagten dann noch ein paar Kinder im Chor fein auf, dass sie den Flughafen "beschissen" finden würden. Die demonstriereden brachten übrigens auch ihre Kinder mit. O-Ton einer demonstrierenden Person: "Sind die vielen Kinder aber laut." Nebenbei wurde aus Lautsprechern immer wieder Flugzeuglärm abgespielt. Schliesslich redete noch ein Vertreter einer Bürgerinitiative. Sein Fazit: Mit einem Schlenker über "unbesiedeltes Gebiet" würde Neuenhagen nicht überflogen werden. Am liebsten wäre es ihm aber, wenn der Grossflughafen nicht in Schönefeld wäre, sondern, wie in anderen grossen Metropolen auch, weit entfernt von eben diesen. Auch einen Alternativort nannte er, wobei sich die Bewohner und Bewohnerinnen dort sicher über den Vorschlag freuen... Auch wurde sich für ein Nachtflugverbot stark gemacht. In zwei Tagen soll dann eine Menschenkette um den Mügelsee stattfinden...

 

Fazit

 

Schön zu sehen, dass auch mehr privilegierte Arbeiter und Arbeiterinnen auf die Strasse gehen. Schlecht jedoch, dass sie ähnlich selbstbezogen und selbstbeweihräuchernd demonstrieren wie ihre weniger privilegierten Arbeiter und Arbeiterinnen in Deutschland. Ob aber eine Syntese der Nenner von betroffenen Polizisten und betroffener Hausbesetzerin möglich ist, ist fraglich.

 

Anregung

 

Von Frankfurt/Oder bis Neubrandenburg stehen noch genügend Häuser brach. Diese lassen sich für wenig Geld kaufen und Instand setzen. Meist für nicht einmal 50.000 Euro. Warum sich also um einen brennenden Zankapfel streiten, wenn daneben ein riesiger Apfelbaum Dir gehören kann? Für mehr autonome Kommunen auf dem Dorf !!

 

Interessante Links

 

http://www.neuenhagen-fluglaerm.de

http://www.fbi-berlin.org