Im ideologische Nebel der Krise

Aufstand

Wer nach nüchternen Einschätzungen zum Stand der Krise sucht, muss im Nebel der immer ideologisch eingefärbten Horror- oder Entwarnungsmeldungen zwischen den Zeilen lesen. Dabei ist es fast unmöglich, alle Dimensionen in einem schlüssigen Bild zu erfassen, weil auch die herumjonglierten Begriffe – wie etwa Sparpakete, Spekulation, Ratingagenturen, solide Haushaltspolitik, Schuldensünder_innen, Konjunktur – nie ohne ideolgische Einfärbung benutzt, geschweige denn erklärt werden.

 

Die im vorherrschenden medialen und politischen Diskurs angebotenen Erklärungen können ein widerspruchsfreies Bild auch überhaupt nicht anbieten, weil je nach Interesse der Sprechenden die Tatsachen verdreht werden, oft sogar offen gelogen wird. Die jeweiligen Interessen werden dabei selten offen gelegt, die Medien versagen hier meist kläglich, auch nur die Frage danach zu stellen.

 

Da wäre zum Beispiel die deutsche Regierung. Monatelang war zu lesen, zu so etwas wie Eurobonds wäre eine Unterstützung aus Berlin undenkbar. Nun heißt es auf einmal, unter bestimmten Bedingungen könnte darüber geredet werden. Mit Eurobonds sind gemeinsame Staatsanleihen aller Euro-Staaten gemeint.

Warum Merkel & Co. bisher wenig Interesse an so einem Instrument gezeigt haben, ist relativ klar. Mit Eurobonds könnten quasi alle Euro-Staaten zu einem gleichen Zinsatz neue Schulden aufnehmen. Der wäre zum derzeitigen Zeitpunkt wohl noch relativ niedrig, zwar höher als der aktuelle deutsche, aber weit niedriger als der von krisengebeutelten Einzelstaaten an der europäischen Peripherie. Das wäre jedenfalls zu erwarten, weil große und wettbewerbsfähige Staaten wie Deutschland, und, wenn auch etwas angeschlagener, Frankreich, noch immer zahlungskräftig genug erscheinen, dass insgesamt die Bediehnung der Zinsen und mittelfristig auch Rückzahlung von Eurobonds noch als relativ gesichert eingeschätzt würde.

 

Institutionen wie dem IWF, die eine lange Geschichte in der Erzwingung neoliberaler “Reformen” haben, wäre damit aber ein wichtiges Disziplinierungsinstrument aus den Händen genommen. Denn momentan können sie, gemeinsam mit der EZB, den geretteten Regierungen noch relativ einfach diktieren, wie und wo sie Ausgaben zu kürzen haben, und damit garantieren, dass die Löcher im Staatshaushalt nicht etwa durch Vermögenssteuern oder Aktien-Transaktionssteuern gestopft werden, sondern durch Kürzungen im Sozial- und Bildungsbereich, durch Privatisierung und “Flexibilisierung” des Arbeitsmarktes, d.h. durch Entlassungen und Einführung neuer Zwangsmaßnahmen für Erwerbsarbeitslosen in Kombination mit der Kürzung von Leistungen.

 

Das bisherige Arrangement passte den Kämpfer_innen der neoliberalen Front, von der deutschen Regierung bis zum Währungsfond eigentlich ganz gut: In Ländern wie Griechenland kann eine dramatische Senkung der Löhne und die Streichung von Arbeiter_innenrechten erzwungen werden, indem der Regierung Geld nur unter der Bedingung der Umsetzung dieses Programms geliehen wird.

 

Die Drecksarbeit, vorher diese Staaten an den Rand des Bankrotts zu treiben, übernahmen die nebulösen “Märkte”, “die Spekulanten*” und die viel gescholtenen Ratingagenturen. Die “reichen Länder”, die im herrschenden Diskurs eben scheinbar die fleißigeren und sparsameren sein müssen, sowie die EU und der IWF stehen als Retter* in der Not da.

 

“Daheim” in den Ländern des ach so wettbewerbsfähigen Zentrums der EU gibt es auch genug Grund zum “Sparen”: Wollt ihr etwa, dass wir bald so dastehen wie Griechenland? Außerdem, nun, nachdem wir “all unser Geld” zur selbstlosen Rettung gen Süden geschickt haben, müssen wir uns eben auch ranhalten. Dass vorher viel mehr Geld in Banken gepumt wurde, die Schuldensituation an der Peripherie erst durch die Rettung von Banken derart verschärft wurde, wird nur noch eher selten erwähnt.

 

Es wäre ja auch eine leidige Feststellung. Sie würde uns nur daran erinnern, dass irgend etwas grundlegend faul ist an der ganzen Sache. Aber Medien und Politik spinnen ja trotz Krisengeheul an der großen Erzählung, dass am Ende alles gut wird, wenn wir uns nur richtig anstrengen. Diese Anstrengung sieht dann eben für einen Großteil der Menschen so aus, dass sie bitte fleißig weiterarbeiten, auch wenn die realen Löhne sinken und die Jobs immer unsicherer werden, und für die erwählte Kaste der Politiker_innen heißt es: hart bleiben, Führungsstärke beweisen, sich die eigene Panik nicht anmerken lassen, und natürlich Sparen, Sparen, Sparen. Nur nicht an sich selbst.

 

Was wirklich fast nie im Mediengezwitscher über die Schuldenkrise durchkommt, ist, dass die “Retter*” durchaus von der Rettung profitieren, so sehr sogar, dass böswillige Gemüter behaupten könnten, die Rettung erfolge eigentlich vor allem aus Eigennutz.

 

Zum einen nämlich sind die Rettungsmilliarden natürlich nur geliehen. Staaten, denen von den Ratingagenturen noch eine ausgezeichnete Zahlungsfähigkeit bescheinigt wird und die damit zu relativ niedrigen Zinsen Geld auf dem freien Markt bekommen, nehmen für die Rettungspakete einfach neue Schulden auf und reichen diese weiter, allerdings zu höheren Zinsen als sie selbst zahlen müssen. Seit dem zweiten Griechenland-Rettungsdeal sind diese zwar nochmal gesenkt worden, doch Staaten wie Deutschland schlagen immer noch einen Profit heraus.

 

Noch viel wichtiger als Motivation für die “selbstlose” Rettung war aber wahrscheinlich die Tatsache, dass bei einer möglichen Pleite eines Staates vor allem die Banken, zum Beispiel in Deutschland, Frankreich, Österreich blöd dastehen würden. Ein Staat, der beschließt, weil er eben nicht mehr kann, seine Schulden nicht mehr oder nur teilweise zurückzuzahlen, kann schwer gezwungen werden. Nicht mal pfänden kann man ihn, jedenfalls nicht ohne Krieg, und das wollen ja zumindest offiziell landein, landaus die Politiker_innen ganz sicher nicht.

 

Die Rettungspakete für angeschlagene Staaten sind also auch eine versteckte und indirekte Bankenrettung im Voraus. So gewinnen die Banken jedenfalls Zeit, ihre Schuldscheine loszuwerden, und zwar vor allem an die EZB und die “rettenden” Staaten, und zwar in einer Situation, in der sie auf dem freien Markt keine_r ohne riesige Preisabschläge kaufen würde.

 

So ist sichergestellt, dass bei diesem Akrobatik-Akt - Staaten durch Spekulation in die Enge treiben, durch Ratingagenturen herabstufen bis sie am freien Markt keine neuen Schulden mehr machen können, weil die Zinsen astronomisch wären, dann “retten” und ein neoliberales Programm aufzwingen - nicht am Ende zu große private Verluste auf Seiten der Besitzenden entstehen, während gesellschaftliche Verluste auf Seite der Arbeitenden gern in Kauf genommen bzw. sogar erwünscht sind.

 

Zurück zu den Eurobonds: Der deutsche Finanzminister Schäuble hat vor kurzem im Spiegel erklärt, er schließe sie aus, “solange die Mitgliedstaaten eine eigene Finanzpolitik betreiben und wir die unterschiedlichen Zinssätze benötigen, damit es Anreize und Sanktionsmöglichkeiten gibt, um finanzpolitische Solidität zu erzwingen."

 

Eins nach dem anderen: Wenn also die Mitgliedstaaten keine eigene Finanzpolitik mehr betreiben würden – sprich, sie sich einer zentralen Finanzregierung der EU bzw. der Euro-Zone unterordnen würden, dann könnte die deutsche Regierung so etwas wie Eurobonds zustimmen. Eine solche Zustimmung durch alle betroffenen Staaten, die damit einen riesigen Teil ihrer Souveränität abgeben würden, scheint momentan noch völlig unwahrscheinlich, denkbar nur, wenn die politische Kaste das Gefühl hat wirklich mit den Zehenspitzen am Abgrund zu stehen.

 

Die unterschiedlichen Zinssätze sind, solange es keine zetrale Finanzregierung gibt, notwendig, um das Programm “ finanzpolitische Solidität” - sprich Lohnkürzung, Massenentlassungen, Abbau des Sozialstaats etc. – zu erzwingen. Denn solang jedes Land allein dasteht, kann gezielt gegen die Staatsanleihen einzelner Staaten spekuliert werden, um sie in die Situation zu bringen, dass ihnen die “Retter*” dann eben doch die Maßnahmen aufzwingen können, die andernfalls über eine europäische Finanzregierung umsetzbar wären.

 

Auch wenn sich Politiker_innen, gleich welcher Coleur, ob mit Regierungsamt oder ohne, empört über die Rolle von Spekulant_innen und Ratingagenturen ereifern, am Ende arbeiten sie alle ganz gut zusammen. Da sie aber jede und jeder für sich auch ihre eigenen Interessen verfolgen, ist ihr Spiel als Ganzes hoch riskant. Alle Akteuer_innen versuchen, so lange wie möglich am meisten für sich selbst herauszuholen, auch wenn sie dabei das ganze Kartenhaus immer wieder ins Wanken bringen, seine Stabilität an ihre Grenzen treiben.

 

Das ist natürlich kein europäisches Phänomen, ein anderer Schauplatz war das Taktieren rund um die Erhöhung der Schuldenobergrenze der USA Ende Juli, bei dem vor allem der rechtsextreme Tea-Party-Flügel der Republikanischen Partei durch seine Kompromisslosigkeit fast die Zahlungsunfähigkeit des Staates herbeigeführt hätte.

 

In Europa nimmt die Schuldenkrise und vor allem der Diskurs darüber immer absurdere Formen an. So wäre eigentlich Italien auch längst reif für ein “Rettungspaket”, nur ist allen klar, dass für diese Dimension der “Rettungsschirm” niemals reichen würde. Also kauft jetzt die Europäische Zentralbank, quasi mit aus der Luft geschöpftem Geld, seit ein paar Wochen im großen Stil italienische Staatsanleihen, um den Markt zu verknappen und damit die Kosten für den italienischen Staat erträglich zu halten. Wie jetzt herausgekommen ist, passiert das aber nicht etwa ohne Konditionen: die EZB hat der italienischen Regierung einen Forderungskatalog geschickt, in dem ein ähnliches Programm vorgelegt wird, wie es etwa Griechenland und Portugal umsetzen mussten: Privatisierungen, Gehaltskürzungen, Lockerung des Kündigungsschutzes etc. Vermögenssteuern finden sich, oh Wunder, darin nicht.

 

Dass dieses Rezept aus der Theorieküche des Neoliberalismus letztlich ein Gift-Cocktail für die jeweiligen Volkswirtschaften ist, kann aus der Geschichte genauso abgelesen werden, wie aus der heutigen Situation der Länder, die diese vermeintliche Kur gerade durchmachen. Griechenland, dass haben auch viele Wirtschaftsexpert_innen zugegeben, hat seit Beginn der Sparpolitik und auch wegen dieser einen beispiellosen Konjunktur-Einbruch erlebt, und zwar vor allem, weil wegen der von der “Troika” aus IWF, EZB und EU auferlegten Programme die Kaufkraft und damit der Konsum der allgemeinen Bevölkerung extrem gesunken ist.

 

Portugal zeigt jetzt ähnliche Phänomene, auch wenn es erst seit gut einem viertel Jahr unter der Kontrolle der Troika steht. Diese gibt sich aber erstmal zufrieden mit der Folgsamkeit der Regierung in Lissabon. Dass letzten Endes die portugiesische Wirtschaft, und vor allem der Lebensstandard der Menschen unter der aufgezwungenen Politik zu leiden haben, ist ihnen vermutlich egal, bzw. kommt eher ganz gelegen. In dieser Phase der “Anpassungsprogramme” ist ein weiterer Einbruch der Wirtschaft sogar ganz hilfreich, senkt dies doch zum Beispiel zwangsläufig die Preise zu privatisierender, bisher staatlicher Unternehmen, die dann von Investoren* zu Spottpreisen gekauft, ähm, gerettet werden können. Und wenn sie diese dann erst mal Helden*haft übernommen haben, sind praktischerweise auch gleich schon die Löhne im Keller und die Arbeitslosigkeit hoch: Paradiesische Bedingungen für “Investitionen”.

 

Das ganze bleibt natürlich ein Spiel auf Zeit, es ist absehbar, dass früher oder später diese Runde im Monopoly zu Ende geht. Es gibt ja überhaupt keinen Grund zu glauben, dass die angehäuften Staatsschulden jemals komplett zurückgezahlt werden, derzeit schrauben sie sich global betrachtet einfach nur immer weiter nach oben, ein Prozess, der sich im letzten Jahrzehnt massiv beschleunigt hat. Irgendwann kommt es zwangsläufig zumindest zu einem begrenzten “Crash”, das lässt sich nicht mehr leugnen. Nach den bestehenden Regeln werden die meisten Menschen diesen Crash hart zu spüren bekommen und die Big Players von heute werden auch die Big Players von morgen sein.

 

Oder es kommt ganz anders.

 

Vielleicht tritt ja in den gerade in einigen Ländern aufkeimenden sozialen Bewegungen zum Beispiel die Forderung an die Oberfläche, einfach alle Staatsschulden restlos zu streichen. Gerade die Jugend, die ja allerorts eine der Haupt-Träger_innen der Bewegungen ist, hat jedes Interesse, einen Strich zu ziehen und neu anzufangen.

 

Das mag utopisch klingen, wäre aber prinzipiell umsetzbar, natürlich nur kombiniert mit einer Währungsreform, bei der praktischerweise jegliches Geldvermögen über einer bestimmten Grenze annuliert wird. Ja, die Banken würden zusammenbrechen, aber wer schert sich schon darum? Die derzeitige Generierung von Geld über Privatbanken ist ohnehin nicht zukunftsfähig. Und Unternehmen in ihrer heutigen Form würden massenhaft pleite gehen? Ja, wahrscheinlich, aber das macht es nur einfacher, sie in einem Akt der kollektiven Aneignung zu vergemeinschaften, ihren in der bestehenden Kreditwirtschaft unausweichlichen Profitzwang loszuwerden, und zu einer solidarischen Wirtschaftsweise zum Wohle aller überzugehen. Um da hinzukommen müssten natürlich die politischen Institutionen erstmal massiv umgestaltet, dezentralisiert und demokratisiert werden.

 

Aber wartet, das geht ja gar nicht! Überlassen wir die Lösung solch komplexer Probleme doch lieber denen, die davon etwas verstehen: Merkel, Sarkozy, IWF und EZB, den Ratingagenturen und Spekulant_innen.

 

Und gehen wir endlich wieder an die Arbeit: Dein Land braucht dich!

 

… oder doch auf die Straßen und Plätze? Dorthin, wo sich heute wieder verstärkt die Keime der Kraft entwickeln, die vielleicht einmal die herrschenden Mächte zu Fall bringen könnte, die vielleicht den Prinzipien Macht und Herrschaft als solche einen herben Rückschlag erteilen könnte, in dem sie ihre Stärke in der Solidarität entdeckt?

 

Wir werden sehen. Hoffentlich nicht nur vom Bildschirm aus, sondern aus der Mitte einer gesamtgesellschaftlichen Bewegung. Die Chancen für gesellschaftliche Umwälzung von unten stehen seit Jahrzenten nicht so gut wie heute, aber auch die Aussichten für den Fall das wir untätig bleiben waren lange nicht so bitter.

 

 

 

* An einigen Stellen wurde die bewusst männliche Form verwendet, um darauf hinzuweisen, dass im herrschenden Diskurs diese Form vorherrschend ist, und auch die Sphären dieser Akteur_innengruppen noch immer sehr männlich dominiert sind – in den Köpfen wie in der Realität. Diese Schreibweise ist ein Experiment, bei dem Methode und Effekt durchaus streitbar sind.