[S21] Staatsanwalt sieht kein Fehlverhalten der Polizei

Erstveröffentlicht: 
16.04.2011

Schlossgarten. Die Anzeige eines Juristen wird nicht verfolgt - trotz protokollierter Versäumnisse. Von Thomas Braun und Markus Heffner

 

Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Verantwortliche des Polizeipräsidiums Stuttgart und des Rettungsdienstes wegen unterlassener Hilfeleistung im Zusammenhang mit dem Polizeieinsatz vom 30. September 2010 im Schlossgarten abgelehnt. Wie berichtet, hatte der frühere Strafrichter Dieter Reicherter Anzeige erstattet, weil ein Mensch mit Verdacht auf Herzinfarkt 35 Minuten lang nicht ärztlich versorgt worden sei. Reicherter bezog sich dabei auf Polizei-Funksprüche, die in der Abschlussbewertung der seinerzeit rot-grünen Oppositionsfraktionen zum Parlamentarischen Untersuchungsausschuss dokumentiert sind. Darin hatten hessische Polizisten der Einsatzleitung gegen 16 Uhr mitgeteilt, vor ihrer Absperrkette sei eine Person zusammengebrochen, die möglicherweise eine Herzattacke erlitten habe.

In der von Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler unterzeichneten Einstellungsverfügung heißt es, es gebe „keine tatsächlichen Anhaltspunkte für unterlassene Hilfeleistung”. Der in der Anzeige geschilderte Vorgang sei ausweislich polizeilicher Unterlagen nicht bekannt, es habe sich auch „kein Geschädigter” finden lassen. Recherchen der Staatsanwaltschaft in den Krankenhäusern und beim Rettungsdienst hätten ergeben, dass wegen der ärztlichen Schweigepflicht nicht festgestellt werden konnte, ob bei einer der während des Einsatzes verletzten Personen Symptome eines Herzinfarkts diagnostiziert worden seien. Zudem, so Häußler, gehe aus dem Funkverkehr der hessischen Polizeieinheit hervor, dass bereits elf Minuten nach dem Hilferuf Sanitäter der Feuerwehr vor Ort gewesen seien, um die Person auf einer Trage zu bringen. Allerdings seien sie unverrichteter Dinge wieder abgerückt, weil von Stuttgart-21-Gegnern Brandsätze geworfen worden seien und die Polizei Wasserwerfer eingesetzt habe, so dass die Sicherheit der Retter nicht mehr gewährleistet gewesen sei. Der Notarzt sei daher erst eine knappe halbe Stunde später zum Ort des Geschehens vorgedrungen, habe aber die Person mit Verdacht auf Herzinfarkt nicht mehr angetroffen.

Abseits des Sachverhalts zeigt die Einstellungsverfügung vor allem, wie unterschiedlich die Einschätzungen der Staatsanwaltschaft und des ehemaligen Richters, der Augenzeuge der Geschehnisse vom 30. September war, ausfallen - obwohl sie sich auf dieselben Dokumente stützen. So wird etwa im Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses eine Notiz des Staatsministeriums vom 28. September 2010 zitiert, die für den Ministerpräsidenten Stefan Mappus bestimmt war. Darin heißt es: „Die Polizei rechnet mit erheblichem, unter Umständen gewalttätigem Widerstand; insgesamt stehen mindestens acht Hundertschaften Polizei bereit; Polizeipräsident Siegfried Stumpf hält es zum Selbstschutz der Polizei - auch vor dem Hintergrund wachsender Gewaltbereitschaft - außerdem für unabdingbar notwendig, zwei Wasserwerfer bereitzuhalten. Nach Beginn der Aktionen kommt ein Abbruch nur im Notfall in Betracht.”

Trotz dieser Einschätzung gegenüber dem Staatsministerium und der späteren Anordnung, Wasserwerfer, Pfefferspray und Schlagstöcke einzusetzen, hatte es die Polizeiführung aber nicht für nötig erachtet, die Rettungskräfte zu informieren - weder im Vorfeld, wie das bei Großeinsätzen seit jeher üblich ist, noch während der Eskalation. In ihrem eigenen Untersuchungsbericht, der dem Abschlussdokument als Anlage beigefügt ist, räumte die Polizeiführung dann auch ein, dass normalerweise „im Vorfeld kritischer Einsatzlagen, bei denen eine größere Anzahl von Verletzten nicht auszuschließen ist, immer die Rettungsdienste informiert und in Einzelfällen Vertreter zu den Einsatzbesprechungen eingeladen werden”. Dass all dies rund um den Einsatz im Schlossgarten nicht passiert ist, wird damit erklärt, dass „das Polizeipräsidium Stuttgart aufgrund der bisherigen Einsatzerfahrung nicht mit massivem und aggressivem Widerstand gerechnet habe”. Eine Aussage, die im krassen Widerspruch zum bereits zitierten, für Mappus bestimmten Vermerk steht.

Vom Protokoll abweichend ist zudem die Darstellung der Polizei, wonach „der Führungsstab des Polizeipräsidiums Stuttgart um 12.54 Uhr eine Verbindungsperson des Rettungsdienstes” angefordert haben soll. Unter anderem wird der Polizeipräsident Stumpf mit dem Satz zitiert: „Wir haben dann auch, was ganz üblich ist, eine Verbindungsperson vom DRK zu uns geholt.” Dann seien die Rettungsmaßnahmen gemeinsam besprochen und koordiniert worden. Dieser Darstellung widerspricht der Bericht des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), das sich damals laut Sprecher Udo Bangerter „selbst zum Einsatz gebracht hat”. Im Untersuchungsausschuss zum Ablauf des Rettungseinsatzes befragt, hatte ein damals diensthabender DRK-Mitarbeiter zu Protokoll gegeben, dass aufgrund der Alarmierung durch die Besatzung eines Rettungswagens, die zufällig am Schlossgarten vorbeikam, durch ihn selbst „die Kontaktaufnahme zum Führungs- und Lagezentrum der Polizei erfolgte”. Er habe um Informationen zur Lage gebeten und kurz vor 13 Uhr eine Verbindungsperson zum Lagezentrum entsandt. Eine Erklärung, warum er bei diesem Polizeieinsatz nicht von vornherein dabei gewesen sei, habe er nicht. „Je früher wir vor Ort sind”, sagt DRK-Sprecher Bangerter, „desto schneller und strukturierter können wir helfen.”

Oberstaatsanwalt Häußler sieht trotz dieser protokollierten Versäumnisse der Polizeiführung keine Ansatzpunkte für ein Verfahren wegen unterlassener Hilfeleistung. Es lasse sich „weder ein Fehlverhalten der Verantwortlichen der Polizei noch von Verantwortlichen des Rettungsdienstes feststellen”, schreibt er und beruft sich dabei ausdrücklich auf die „polizeiliche Aufarbeitung” des Einsatzes: Daraus ergebe sich nicht, „dass durch Organisationsverschulden oder unterbliebene oder sachwidrige Bearbeitung eines Notrufs die Versorgung eines Herzinfarktpatienten unterblieben ist oder verzögert wurde”.